Han Kang - Menschenwerk / Sonyeoni onda

  • In den Trümmern unserer Körper
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:
    "Ich musste eine Brücke schlagen von der Gewalt zur Würde, einen Weg, der zwischen diesen beiden Klippen, über dem Abgrund frei in der Luft hängen würde."
    (Han Kang über ihre Arbeit an "Menschenwerk"¹)


    "Menschenwerk" ist ein ungeheuer schmerzhaftes Buch.


    Han Kang bringt ihre Charaktere an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit und darüber hinaus – besser gesagt, sie begleitet sie auf diesem Weg, denn die Geschichte entspringt keineswegs nur ihrer Vorstellungskraft, auch wenn man sich als Leser unweigerlich wünscht, es wäre so.


    Dong-Ho, Jeong-Dae, Eun-Suk, Jin-Su, Seon-Ju und die anderen Protagonisten dieses Buches stehen für die Menschen, die während der Aufstände in der südkoreanischen Stadt Gwangju und der darauf folgenden Massaker verletzt oder getötet wurden, sowie für deren Angehörige und Hinterbliebene. So präsent dieses Kapitel der Geschichte in Südkorea jedoch auch heute noch ist, so wenig wissen die meisten Menschen hierzulande darüber, daher zunächst eine kleine Zusammenfassung:


    In Gwangju fanden im Mai 1980 anfangs friedliche Demonstrationen von Studenten gegen die damals herrschende Militärdiktatur statt. Das Militär reagierte mit äußerst brutaler Gewalt, worauf es zu weiteren Aufständen der Bevölkerung kam, die wiederum ohne Rücksicht auf Menschenleben niedergeschlagen wurden. Soldaten benutzten Bajonette, auch gegen Alte, Kinder und am Protest Unbeteiligte, oder feuerten wahllos in Menschenmengen, woraufhin sich die Aufständischen ebenfalls bewaffneten. Sprach das Militär damals offiziell von 170 Todesopfern und 730 Verhaftungen, geht eine 1988 herausgegebene Broschüre des Hilfswerk Terre des Hommes von über 2.000 Todesopfern aus, was auch andere Quellen unterstützen², während die The May 18 Memorial Foundation von über 3.000 Verhaftungen spricht³.


    Han Kang wurde in Gwangju geboren, ihre Eltern zogen jedoch im Jahr der Aufstände mit ihr nach Seoul. Dennoch verspürte sie stets eine innere Verbundenheit mit dem Geschehenen und besuchte im Alter von neunzehn Jahren das Grab eines Jungen, der als 15-Jähriger während der Massaker getötet wurde und vorher mit seinen Eltern in dem Haus lebte, in dem sie selber bis zu ihrem achten Lebensjahr mit ihren Eltern gewohnt hatte. Dieser Junge ist ein zentraler Charakter in "Menschenwerk".


    Die Autorin schwelgt nicht unnötig in der Darstellung der Gewalt um der Gewalt willen, beschönigt aber auch nichts und schreckt vor nichts zurück. Während manche Charaktere versuchen, ihre Erinnerungen zu verdrängen, erinnern sich andere nur zu deutlich an unmenschliche Folter und Erniedrigung, die darauf angelegt schien, sie jeglicher Menschenwürde zu berauben.


    An dieser Stelle eine eindringliche Triggerwarnung: explizit beschrieben werden Folter, sexuelle Gewalt, drastische Verwundungen und Verstümmelung, zum Teil auch Jugendliche betreffend.


    "In den Trümmern unserer Körper lebte immer noch der Verhörraum aus dem Schicksalssommer."


    Mir raste mehr als einmal das Herz, ich empfand starke Gefühle der Beklemmung, der Wut und der Trauer, gelegentlich wurde mir auch leicht übel. Tatsächlich konnte ich mich kaum davon lösen, es beschäftigte mich mehrere Tage hindurch unentwegt.


    Auch wenn es vielleicht so klingt, bereue ich keineswegs, das Buch gelesen zu haben. Es ist ein wichtiges Buch, das den Menschen, die damals gestorben sind oder schwer traumatisiert überlebt haben, eine Stimme gibt – das aus ihnen mehr macht als eine Statistik oder eine Fußnote der südkoreanischen Geschichte. Die Autorin betont in Interviews, sie wolle diese Menschen auch nicht als Opfer darstellen, denn im koreanischen Verständnis beinhalte das Wort für 'Opfer' automatisch eine Annahme von Schwäche, und diese Menschen seien nicht schwach gewesen.


    In der Tat gelingt ihr, was sie anstrebte: sie schlägt die Brücke von der Gewalt zur Würde.


    Sie zeigt, wozu der Mensch fähig ist, im Guten wie im Schlechten. "Menschenwerk" sind die Folter und die Ermordung Unschuldiger, aber "Menschenwerk" sind auch die Selbstlosigkeit, der Mut und die Entschlossenheit, für das einzustehen, was richtig ist, und im äußersten Fall auch dafür zu sterben.


    Auch der Schreibstil spiegelt diese Kluft wieder. Meist ist er ruhig, manchmal sogar nüchtern, dann wieder poetisch. Die Geschichte wird aus der Sicht verschiedener Personen erzählt, sogar in verschiedenen Erzählperspektiven – mal spricht ein personaler Erzähler in der Ich-Perspektive, mal ein auktorialer in der dritten Person, in manchen Szenen wird der Leser sogar mit "Du" angesprochen, was ihn zwingt, die Rolle eines der Charaktere einzunehmen.


    "Noch bevor der Mann seinen Satz beenden konnte, hast du gesehen, wie sich ein Arm hob. Dann sahst du mit an, wozu Hände, Füße und andere Körperteile imstande waren. Der Mann rief keuchend um Hilfe. Die Angriffe gingen weiter, bis er sich nicht mehr rührte."


    Fazit:
    "Menschenwerk" ist ein wichtiges Buch, ein bewegendes Buch, ein erschütterndes Buch – aber ganz sicher kein leichtes Buch, das man halbherzig nebenher lesen kann.


    In Romanform beschreibt es die Schicksale von Menschen, die auf verschiedenste Arten an den Aufständen in der südkoreanischen Stadt Gwangju im Jahr 1980 beteiligt waren, die in einem wahren Blutbad vom Militär niedergeschlagen worden. Nach all dieser Zeit gibt es ihnen eine Stimme: den Gefolterten, den Getöteten, den Angehörigen.


    Im Rahmen dieser Tragödie beleuchtet Han Kang alle Facetten der Menschlichkeit, von ihren grausamsten Abgründen bis hin zu ihren edelmütigsten Eigenschaften – eben Menschenwerk.

  • Klappentext von der Verlagsseite:


    „Ich kämpfe, jeden Tag. Ich kämpfe gegen die Schande, überlebt zu haben und immer noch am Leben zu sein. Ich kämpfe gegen die Tatsache, dass ich ein Mensch bin. Und Sie, ebenso ein Mensch wie ich, welche Antworten können Sie mir geben?“


    Ein Junge ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen weiterleben. Doch was ist ihnen ihr Leben noch wert? Han Kang beschreibt in ihrem neuen Roman, wie dehnbar die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit sind. Ein höchst mutiges Buch und ein brennender Aufruf gegen jede Art von Gewalt.


    »Han Kang zu lesen ist wie in einen Strudel aus Brutalität und Zärtlichkeit geworfen zu werden, aus dem man durchgeschüttelt, perplex und tief bewegt wieder auftaucht.« Doris Dörrie


    Autoreninfo von der Verlagsseite:


    Han Kang wurde in Gwangju, Südkorea, geboren. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für ihr literarisches Schreiben wurde sie mit dem Yi- Sang-Literaturpreis, den Today’s Young Artist Award und dem Manhae Literaturpreis ausgezeichnet. Derzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul. Mehr Informationen zur Autorin: http://www.writerhankang.com


    Erster Satz:


    „Sieht nach Regen aus,“ murmelst du.

    Meinung:


    „Menschenwerk“ von Han Kang ist ein erschütterndes Buch, es hat mich tief berührt und zu Tränen gerührt. Mit ihrer eindrücklichen Sprache, die einige Leser sicherlich schon durch „Die Vegetarierin“ kennengelernt haben, erzählt sie vom Massaker und Niederschlagung des Aufstandes in Gwanju in der Zeit vom 18. Mai bis 27. Mai 1980.


    Südkorea ist für mich verbunden mit Seoul, den Konflikt mit Nordkorea und vor allem mit einer starken Wirtschaftsnation in Asien. Dementsprechend neugierig war ich auf Han Kangs Werk, da es von einer ganz anderen Zeit des Landes erzählt, von einer Zeit in der das Militär mehr Macht hatte und die Menschen aus der Diktatur in eine Demokratie wechseln wollten.
    In Gwanju engagierten sich Studenten und junge Menschen für einen Neuanfang der Gesellschaft, wie in den späten 60er Jahren in Deutschland und Europa, wollten auch sie eine Aufarbeitung der Vergangenheit und vor allen Dingen Freiheit. Dafür waren sie bereit auf die Straße zu gehen und für ihre Rechte zu demonstrieren. Nicht immer geht so eine Demonstration friedlich aus, wie die von 1989 in der DDR, sie kann auch brutal niedergeschlagen werden wie 1988 in China oder wie 1980 in Südkorea.
    Han Kang erzählt im Epilog wie sie auf diese Phase der jüngeren südkoreanischen Geschichte kam und wie sehr sie auch die Recherche um den jungen Schüler Dong-Ho mitgenommen hat.


    Für ihre Beschreibung und Erzählung der 9 Tage im Mai 1980 nutzt sie verschiedene Erzählperspektiven. Der erste Teil um Dong-Ho wird von einem Geist erzählt, der als allwissender Erzähler auftritt. Jener Geist begegnete mir im zweiten Kapitel wieder, da erfuhr ich dann auch zu wem er gehörte und was mit Dong-Ho geschah. Gerade die ersten beiden Kapitel mit ihren Schilderungen haben mich sehr mitgenommen. Ich musste das Buch immer wieder zur Seite legen und tief durchatmen. Durch Nachrichtenmeldungen schon auf so manches vorbereitet, erschreckt die eindrückliche Sprache Han Kangs immer wieder über das Geschehen. Ohne voyeuristisch das Grauen zu schildern gelingt es ihr, mir es bildhaft zu zeigen.


    In den nächsten Kapiteln kommt es zu einem Zeitsprung. Das Massaker von Gwanju ist fünf Jahre her und ich begleite Eun-Suk, die mir bereits früher begegnet ist in ihrem neuen Leben. Sie arbeitet bei einem Verlag, aber das Grauen der Diktatur ist noch nicht vorbei. Der Zensor ist allgegenwärtig und jedes Manuskript muss genehmigt werden von der Behörde. Eun-Suk gerät wieder in die Fänge der Machthaber und wird brutal befragt.
    Die Brutalität zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und dies wird mir auch noch in den späteren Kapiteln immer wieder deutlich. Egal wer erzählt, ob Jin-Su, Seon-Ju oder Dong-Hos Mutter, aus verschiedenen Perspektiven erzählt Han Kang das Grauen und die Gewalt der neun Tag im Mai 1980.


    Je mehr ich in die Geschichte eindrang, je mehr ich las und erfuhr, umso stärker wurde mein Wunsch dieses Buch zu beenden, nicht weil es schlecht erzählt wäre, nein das ist es sicherlich nicht, sondern einfach nur wegen dem Geschehen von damals. Es gelingt ihr immer wieder mit ihrer melodischen Sprache, ihren Perspektivenwechsel von allwissenden Erzähler hin zum personalen Erzähler, das Grauen und das Geschehen lebendig zu halten. Sie erzählt auch von dem Leben nach den Tagen im Mai und danach war nichts mehr wie es vorher war. Die Schilderungen der Folter, der Tortur und auch die Verzweiflung sind greifbar und berührten mich bis ins Mark. Immer wieder liefen mir die Tränen übers Gesicht und ich fragte mich, wie grausam kann der Mensch nur sein. Vor allen Dingen, wenn man dann noch im Epilog erfährt, dass diese Brutalität und Tortur eindrücklich von oben angeordnet wurde. Die Demonstranten und Menschen keine Chance hatten auf ein Gelingen ihrer Idee hatten und damit in ihr Verderben rannten. Es erschüttert mich noch heute und ich kann die schlaflosen Nächte der Autorin verstehen, die sie im Epilog schildert. Der Kreis der Geschichte schließt sich mit dem Epilog und ist bis zum Ende hin stimmig.


    Ich bin schon fast versucht es nicht zu Empfehlen aufgrund der geschilderten Grausamkeiten, die nicht in Form von Splatter-Horror-Romanen auftauchen, sondern einfach durch die Erzählsprache der Autorin so eindrücklich sind. Aber ich muss es einfach empfehlen, denn es zeigt wie weit Menschen gehen um den Status Quo und ihre Macht zu erhalten, wie weit ein Volk unterdrückt wird und wie weit Zensur und Überwachung gehen kann, wenn man die Zeichen der Zeit nicht erkennt und man nicht einen anderen Weg einschlägt.


    Fazit


    „Menschenwerk“ ist ein aufrüttelndes, trauriges, beklemmendes, zu Tränen rührendes Buch von einer mit sprachlicher Direktheit schreibenden Han Kang.


    Bewertung


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    Liebe Grüße von der buechereule :winken:


    Im Lesesessel


    Kein Schiff trägt uns besser in ferne Länder als ein Buch!
    (Emily Dickinson)



    2024: 010/03.045 SuB: 4.302

    (P/E/H: 2.267/1.957/78)

  • ich habe gestern angefangen dieses Buch zu lesen. Es ist bisher echt heftig, an Grausamkeit zu überbieten. Aber doch irgendwie genial. Ich bin gespannt wie es weitergeht. :lol:

    "Aber sie hatten einander damals völlig natürlich verstanden und angenommen. So vollständig, dass es beinahe ein Wunder war"


  • Ein großartiges Buch!


    Das Buch ist ziemlich intelligent aufgebaut. So widmet die Autorin einzelnen Protagonisten ganze Kapitel bzw. Abschnitte So á la Kurzgeschichte. Dennoch sind diese Kapitel / Abschnitte aufbauen bzw . stehen in irgendeiner starken Verbindung zu einander und umfassen einen Zeitraum von ca. 20 Jahren bzw. mehrere Generationen. Das ist ziemlich gut gemacht, eigentlich schon brilliant. Der Schreibstil ist ebenfalls besonders und kreativ. Besonders im positiven Sinne ;)
    Ich kann den anderen hier nur zustimmen. Es ist unfassbar grausam. Der Leser wird mit Leid überschüttet und hat das Gefühl, dieses Leid im Inneren visuell mitzuerleben. Es ist ein sehr eindringliches Buch, welches man sicher nicht vergessen wird.


    Grausam & Intelligent & Kreativ


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    "Aber sie hatten einander damals völlig natürlich verstanden und angenommen. So vollständig, dass es beinahe ein Wunder war"


  • Eigenzitat aus amazon.de:


    Im Jahr 1979 gab es in den koreanischen Städten Busan und Masan Aufstände gegen den Präsidenten Park Chung-Hee, die vom Militär blutig niedergeschlagen wurden. In der Folge bewaffneten sich immer größere Teile der Bevölkerung und bildeten Milizen, die immer wieder dem Militär Widerstand leisteten.


    Am 18. Mai 1980 hatten sich solche Milizen - unter ihnen viele Schüler und Studenten - in der Universitätsstadt Cwangju zusammengeschlossen und warteten auf die Ankunft des Militärs, das an diesem Tag mit unvorstellbarer Härte und Grausamkeit über die vermeintlichen Kommunisten herfiel. Einige Einheiten kamen frisch aus Vietnam oder hatte such in Kambodscha die von Pol Pot angerichteten Massaker gesehen und waren sich sicher, dass ein vergleichbares Vorgehen auch in Südkorea Sinn ergeben würde. Es wurde sogenannte Dum-Dum-Munition eingesetzt, Flammenwerfer, Bajonette und anderes. In der Folge wurden die Gefangengenommenen auf fürchterlichste Art und Weise gefoltert und gedemütigt und noch ihrer Freilassung - so sie dies überlebten - noch jahrelang danach von den Sicherheitseinheiten drangsaliert.


    Das vorliegende Buch ist der Versuch dieses Massaker und seine Nachwehen - gewissermaßen den südkoreanischen Platz des Himmlischen Friedens -, das im Lande selbst nie wirklich aufgearbeitet und außerhalb kaum wahrgenommen wurde - irgendwie zu erklären. Teilweise durch Darstellung aus dem Tag selbst heraus, aber auch durch Zeugnisse von denen, die später irgendwie danach weiterleben mussten, mit dem Schuldgefühl der Überlebenden, dem durch die Folter zerschmetterten Körpern und Seelen und der ständigen Angst vor neuerlichen staatlichen Übergriffen.


    Immer wieder bin ich verwundert gewesen über die zum Teil unwahrscheinlich wirkende und beiläufige Brutalität in südkoreanischen Filmen wie 'Old Boy' oder auch dem preisgekrönten 'Parasite', der ja durchaus auch einen gesellschaftskritischen Anspruch hat, wie etwa 'Seoul Station' oder 'Train to Busan'. Das diese Filme in ihrer Brutalität südkoreanische Realität spiegeln könnten ist mir vor dem Hintergrund von Gangnam Style und schrillen K-Pop-Idolen nie wirklich in den Sinn gekommen - eine ständige Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten in einem Land, dass seit dem Koreakrieg und der daraus resultierenden Spaltung eigentlich eher den aufgeklärteren westlichen Nationen nahe gesehen wurde und für seine ausnehmend guten Schüler und seine Teilerfolge in der Corona-Bekämpfung gelobt wurde.


    Ein überaus verstörendes Buch, dem ich nur deswegen keine fünf Sterne geben möchte, weil es mich so fürchterlich depremiert hat.