Klappentext (dem Buch entnommen):
Seit wann gibt es den aufrechten Gang, und wie entstand das Wunder der Sprache? Wie kamen Religion, Recht, Kunst, Geld, Musik oder Städtebau in die Welt? Wann begannen die Menschen, ihre Toten zu bestatten, und warum schätzen die meisten Kulturen die Monogamie? Jürgen Kaube gibt Antworten auf diese Fragen, die uns in politischen und kulturellen Konflikten oft bis heute beschäftigen, und erzählt in aufregender Weise von den Anfängen der Menschheit.
Da ist etwa das Rätsel Sprache: Sie ist evolutionär nicht erklärbar, nicht einmal Menschenaffen haben einen zum Sprechen ausreichenden Rachenraum; ging Sprache womöglich aus dem Schmatzen hervor, als Nebeneffekt der Nahrungsaufnahme? Oder später die Schrift: Sie wurde keineswegs erfunden, um Gesprochenes festzuhalten, sondern kam um 3500 v. Chr. in Mesopotamien in die Welt - als bürokratische Merkhilfe beim Rinderzählen. Und das erste Geld um 700 v. Chr. diente nicht dem Handel, sondern als religiöse Opfergabe - rührt daher seine kultische Verehrung?
Jürgen Kaube (Informationen über den Autor dem Buch entnommen),
Jahrgang 1962, lehrte zunächst als Soziologe, unter anderem an der Universität Bielefeld, bevor er 1999 in die Redaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eintrat. Von 2008 an leitete er dort das Ressort Geisteswissenschaften, ab 2012 war er stellvertretender Feuilletonchef. Ebenfalls 2012 wurde er vom "medium magazin" als Journalist des Jahres im Bereich Wissenschaft ausgezeichnet. Seine Max-Weber-Biografie (2014) wurde viel gelobt. Seit Anfang 2015 ist Jürgen Kaube Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", im selben Jahr erhielt er den Ludwig-Börne-Preis.
Wie es mir gefallen hat
Nahezu druckfrisch ist mir vorliegendes Werk in die Hände gefallen, das sich mit den zahlreichen Anfängen all dessen befasst, was unser Menschsein letzten Endes ausmacht. Natürlich ist uns unser Aussehen, unser Verhalten, unsere Fähigkeit zu sprechen und zu abstrahieren oder die Organisation des sozialen Gefüges, in dem wir leben, selbstverständlich. Wer kein überirdisches Wesen für diese Entwicklung verantwortlich machen möchte, wird dennoch annehmen, dass sich eben das eine gesetzmäßig aus dem anderen ergab.
Jürgen Kaube versucht in seinem bemerkenswerten Buch nun etwas unvermutet Neues, indem er seinen Lesern Perspektiven auf unsere Zivilisation eröffnet, die nicht schon von unseren eigenen gewohnheitsmäßigen Sichtweisen festgelegt sind. Und dieser Versuch ist meiner Meinung nach ganz vortrefflich gelungen. Streng am derzeitigen Wissensstand orientiert, widmet sich der Autor der alten und doch ewig aktuellen Menschheitsfrage nach dem Woher, dem Warum und Wieso so (und nicht anders) unserer Existenz.
Wie und warum kam es zum aufrechten Gang, wieso konnte es überhaupt zu einer derart differenzierten Artikulation kommen? Wann begann unsere Spezies abstrakt zu denken, wodurch Kunst und Religion (in dieser Reihenfolge) erst entstehen konnten, welchen evolutionären Vorteil brachten Gesang und Tanz? Welche Kriterien waren ausschlaggebend, um dem nomadenhaften Jägerdasein eine sesshafte Lebensweise vorzuziehen? Weshalb organisierten sich Menschen in Städten und Staaten, begannen zu schreiben, Recht zu sprechen, Zahlen und Geld einzuführen, weshalb übt(e) die Kunst des Erzählens eine so große Faszination auf uns aus, und warum entschieden sich zahlreiche Gesellschaften für die Monogamie als bevorzugte Lebensform, und das nicht erst mit dem Aufkommen des Christentums?
Die Vielzahl der Themen überfordert den Leser keinesfalls, weil der Autor nicht belehrend Tatsachen auf Tatsachen häuft, sondern vielmehr äußerst interessante Denkanstösse liefert. War in grauer Vorzeit tatsächlich alles so, wie bislang vermutet, oder sind wir nicht aufgerufen, auch andere Möglichkeiten hinsichtlich unseres Werdegangs in Erwägung zu ziehen? In diesem Kontext zeigt sich, dass die Fragen nach den Anfängen immer mehr verschwinden, obwohl noch längst nicht alle Lücken geschlossen werden konnten - und vieles wohl für immer unbeantwortet bleiben muss. Statt von Anfängen will Jürgen Kaube ohnehin lieber von Übergängen sprechen, die gerade am Beginn unseres menschlichen Daseins Millionen von Jahre in Anspruch genommen haben.
"Die wichtigsten Erfindungen haben keinen Erfinder", heißt es in der Einleitung, und prinzipiell auch keinen Anfang, zumindest keinen datierbaren. Während sich manche Entwicklung als einmalig erwies, wurden manche Erfindungen ja gleich mehrmals und unabhängig voneinander in verschiedenen Weltgegenden gemacht.
Der Hauptgewinn aus der Lektüre war für mich die ungewohnte Sichtweise, die der Autor mit seinen Argumenten auf das Werden der menschlichen Zivilisation eröffnet. "Wir sind keine selbstverständlichen Wesen, unsere Gesellschaft ist das Resultat der unwahrscheinlichsten Zusammentreffen und Geschehnisse, die nichts miteinander zu tun hatten, sowie der Lösung von Problemen, die wir vergessen haben" - oder vielleicht auch anders hätten lösen können.
Jürgen Kaube hat mich nicht nur mit seinem großen Wissen und seiner interessanten Argumentationsweise, sondern auch mit dem Berg an Literatur beeindruckt, den er für dieses Buch durcharbeiten musste, aufgelistet in einem beinahe 100 Seiten umfassenden Anhang.
Das Nachdenken über das Nicht-Selbstverständliche, das uns selber und unsere Zivilisationen hervorbrachte, ist mein (hoffentlich) bleibender Gewinn aus dieser Lektüre, oder um es mit einem berühmten Wort zu sagen: "Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn alles vergessen wurde."