Karen Dionne - Die Moortochter / The Marsh King's Daughter

  • Helena erfährt überraschend aus dem Autoradio, dass ihr Vater aus dem Gefängnis geflüchtete ist und dabei zwei Wächter getötet hat.
    Helenas Mutter wurde mit sechzehn von ihm ins einsame Moor entführt, zwei Jahre später kam dann Helena auf die Welt. Erst fünfzehn Jahre später wurden sie befreit und weitere zwei Jahre später ihr Vater dann endlich verhaftet und verurteilt. Wohin ist er nun unterwegs? Wird die Polizei den Survivalspezialisten im vertrauten Moor stellen können?


    Erst jetzt erfährt ihr Mann von der Polizei ihre wahre Geschichte. Er kannte Helena nur mit ihrer neuen Identität. Als er für einige Tage das Suchgebiet verlassen will um mit den beiden kleinen Töchtern zu seinen Eltern zu fahren, bleibt sie zurück. Nur sie wird ihren Vater stellen können, denn sie hat alles von ihm gelernt.


    Das Buch startet gleich sehr spannend. Dank der intensiven Beschreibungen kann man dass alles aus Helenas Augen erleben.
    Durch wiederkehrenden Rückblicke erfährt man nach und nach viel über Helenas Zeit im Moor. Wie sie zur perfekten Jägerin, Anglerin und Fährtenleserin wurde. Man erfährt über ihre zwiespältigen Gefühle. Zum einen liebt sie ihren Vater, denn als Kind wusste sie nichts über sein Verbrechen gegenüber ihrer Mutter. Ihr war nie bewusst, was an ihrer kleinen Familie nicht stimmte, obwohl auch sie zum Teil Grausamkeiten ertragen musste, aber sie kannte es ja nicht anders. Zum anderen sind da natürlich der Hass und die Rachegedanken, seit ihr seine Verbrechen bewusst wurden und sie in den letzten Tagen im Moor entsetzliche Verbrechen und Taten erleben musste. Ihr Leben im Moor hat sie nicht auf ein Leben in der Zivilisation vorbereiten können. Sie hatte nach ihrer Rettung keine Ahnung von den gängigen Regeln und Grenzen des Zusammenlebens. Sie musste sich erst mühsam und mit schmerzhaften Erfahrungen in dieses neue Leben einfinden.


    Dann beginnt die Jagd nach ihrem Vater. Sie ist fest entschlossen ihn endgültig zu stellen. Immer wieder wechselt die Rolle von Jäger und Gejagtem. Zum Schluss kommt es zu einem heftigen, fesselnden Showdown in der Wildnis.


    Es gibt ja schon sehr viele unterschiedliche Rezensionen zu dem Buch „Die Moortochter“ von Karen Dionne. Oft wird in Frage gestellt, ob es sich um einen Psychothriller handelt. Oft wurden die Erwartungen wohl enttäuscht. Das ist bei mir gar nicht der Fall. Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Man folgt ganz gespannt Helenas naturnahen Erzählungen über die Kindheit im Moor. Sehr schön ergänzend sind immer mal wieder am Kapitelanfang Teile des Märchens „Die Tochter des Moorkönigs“ von Hans Christian Andersen eingefügt.


    Es gelingt der Autorin Karen Dionne sehr gut die Lebensbedingungen der Upper Peninsula einzufangen. Mit den eindringlichen und detailreichen Beschreibungen der Menschenleere und Wildheit konnte sie mich gefangen nehmen. Nur im letzten Drittel war mir der Fokus zu stark auf den Rückblicken, das hätte etwas kürzer oder ausgewogener gefasst werden können.
    Fazit: Vielleicht kein Psychothriller, aber ein tolles sehr atmosphärisches Buch über eine schwierige Tochter-Vater-Konstellation mit einem außergewöhnlichen Setting.


    4,5 von 5 Punkten

  • :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:
    Die ersten zwei Dinge, die mir zu diesem Buch einfallen:


    Erstens, es ist ungewöhnlich, aus psychologischer Sicht interessant und in einem schnörkellosen, indes ausdrucksstarken Schreibstil geschrieben.


    Zweitens, es ist kein Thriller. Nicht mal ansatzweise.


    Letzteres kann natürlich ein großes Manko sein für den Leser, der nur zu "Moortochter" gegriffen hat, weil er dem Aufdruck 'Psychothriller' auf dem Cover geglaubt hat. (Verständlicherweise.) Wer es mit dieser Erwartung und ausschließlich dieser Erwartung liest, wird mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden – ich habe ein paar negative Rezensionen zu dem Buch gelesen, und diese enthielten fast alle eine Variation von dem, was ich eben unter 'Zweitens' gesagt habe.


    Doch auch, wenn man diese Erwartung erstmal beiseite lässt, ist es immer noch ein Buch, das die Meinungen spaltet. Es war das Buch des Monats in unserem Krimi-Lesekreis und rief bei unserem letzten Treffen die volle Bandbreite an Reaktionen hervor: von Begeisterung über verhaltene Zufriedenheit bis hin zu tödlicher Langweile oder sogar Abbruch. Ich selber gehörte zur Faktion der Begeisterten.


    Wenn es kein Psychothriller ist, was ist es dann?


    In meinen Augen vor allem das komplexe Psychogramm einer Frau, die unter höchst ungewöhnlichen Voraussetzungen aufgewachsen ist. Ihre Kindheit verbrachte Helena zusammen mit ihren Eltern in einer winzigen Hütte in der Einsamkeit des Moors – ohne zu ahnen, dass ihre Mutter nicht freiwillig dort war und ihr Vater ein Entführer, Vergewaltiger und Mörder. Ihr erschien vieles normal, weil sie nicht wissen konnte, wie Normalität aussieht. Nicht alle Väter sperren ihre Töchter tagelang im Brunnenschacht ein. Nicht alle Väter schneiden ihnen bei Ungehorsam Worte in den Arm. Und dennoch empfindet Helena ihre Kindheit im Rückblick als glücklich, das Verhalten ihres Vaters als gerechtfertigt. Vom Verstand her weiß sie, dass dem nicht so ist, aber sie ist immer noch geprägt von seiner Erziehung. Sie ist stolz darauf, dass sie als Kind schon Fallen stellen, Spuren lesen, jagen und töten konnte, und (ob sie will oder nicht) sie ist ihm dankbar dafür. Ihre glücklichsten Erinnerungen sind solche, in denen sie ihn stolz machen konnte – wie zum Beispiel die Erinnerung an ihr erstes selber getötetes und ausgeweidetes Tier.


    Ein Großteil des Buches konzentriert sich auf Helenas Erinnerung an ihre Kindheit, die Jagd auf den entflohenen Vater rückt da deutlich in den Hintergrund. Ich fand es trotzdem spannend, weil ich von Helena und ihrer Sicht auf die Welt fasziniert war.


    Sie ist verheiratet, hat Kinder, und dennoch merkt man auf jeder Seite, dass sie emotional verkümmert ist. Ja, sie liebt ihre Kinder und würde für sie töten, aber ansonsten spürt man ihre Gefühle so gut wie nie. Auch nach all den Jahren ist sie im Grunde immer noch fixiert auf ihren Vater, und deswegen bleiben alle Charaktere außer ihm und Helena selber blass, unwichtig, Nebensache. Ich sehe das nicht als Scheitern der Autorin, denn es passt zu dem, was Helena erlebt hat, und ist in meinen Augen daher sicher gewollt. Tatsächlich sehe ich es als Kunststück der Autorin an, dass man als Leser trotz Helenas distanzierter Art überhaupt so einen guten Einblick in ihr Seelenleben erhält.


    Da die Geschichte aus Helenas Sicht und in ihren eigenen Worten erzählt wird, ist der Schreibstil klar und direkt, ohne große Dramatik oder überbordende Emotion. Er fokussiert sich auf die Dinge, die in Helenas Welt entscheidend und wichtig sind, und vieles davon hat mit dem Überleben in der Wildnis zu tun, obwohl sie schon einige Jahre in der Zivilisation lebt, abgesehen von regelmäßigen Jagdausflügen.


    Bei einem typischen Thriller wäre die Jagd nach dem Vater das wichtigste Element des Buches, und das fulminante Finale würde damit stehen oder fallen, ob Helena ihn tötet, ausliefert oder laufen lässt. Tatsächlich war mir das im Grunde jedoch vollkommen egal – was mich viel mehr interessierte, war, ob sie sich am Schluss emotional von ihrem Vater lösen kann oder nicht, und in der Hinsicht fand ich die Auflösung gelungen.


    Fazit:
    Obwohl "Moortochter" in meinen Augen kein Psychothriller ist, sondern vielmehr ein Roman mit psychologischen Spannungselementen, hat mir das Buch nichtsdestotrotz sehr gut gefallen. Die Autorin erzählt dem Leser die Geschichte einer Frau, die durch ihre Kindheit als Tochter eines Entführers und Mörders emotional verkrüppelt ist, ohne dabei in Melodrama oder Effektheischerei zu verfallen. Dennoch entwickelten die Geschehnisse auf mich eine enorme Sogwirkung.


    Die im Klappentext beschriebene Jagd auf den Vater ist zweitrangig, viel interessanter sind die zahlreichen Rückblicke auf Helenas sonderbare Kindheit im Moor.

  • Ich habe soeben das Hörbuch beendet und muss sagen, dass die Geschichte, einmal begonnen, einen nicht loslässt. Dennoch ist es nicht so, dass ich darin eingetaucht bin, sondern ich stand mit eher kühlem Kopf daneben.
    Die zwei Erzählstränge, einmal Helenas Kindheit im Moor und einmal Helenas Leben als Ehefrau und Mutter, laufen abwechselnd erzählt auf die beiden Finale zu. Und in beiden Situationen kann ich die Handlungsweisen der Protagonistin nicht verstehen. Oder anders ausgedrückt: Wie kann man einen bösen, seelenlosen, unmenschlichen, grausamen Kerl so lieben und ihm immer wieder verzeihen (auch wenn es der eigene Vater ist)? Ich könnte das nicht und Helena und ich haben zwei völlig verschiedene Charaktere bzw. Lebensansichten.
    Das jahrelange Ausharren von Helenas Mutter ist zwar nicht ungewöhnlich, denn für ähnliche psychologische Verhaltensweisen gibt es sogar einen speziellen Begriff: Stockholm-Syndrom. Sie baut zwar kein positives emotionales Verhältniszu ihrem Entführer auf, aber sie resigniert so vollständig, dass ich es nicht fassen kann. Zumal sie mit ansieht, wie grausam der Vater immer wieder mal seine Tochter behandelt/bestraft. Wenn ich in dieser Situation nicht für mich kämpfen würde, dann ganz bestimmt für mein Kind.
    Ich habe :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Sterne vergeben.

    Die Erfindung des Buchdruckes ist das größte Ereignis der Weltgeschichte (Victor Hugo).

  • Verlagstext

    Helena Pelletier lebt in Michigan auf der einsamen Upper Peninsula. Sie ist eine ausgezeichnete Fährtenleserin und Jägerin – Fähigkeiten, die sie als Kind von ihrem Vater gelernt hat, als sie in einer Blockhütte mitten im Moor lebten. Für Helena war ihr Vater immer ein Held – bis sie vor fünfzehn Jahren erfahren musste, dass er in Wahrheit ein gefährlicher Psychopath ist, der ihre Mutter entführt hatte. Helena hatte daraufhin für seine Festnahme gesorgt, und seit Jahren sitzt er nun im Hochsicherheitsgefängnis. Doch als Helena eines Tages in den Nachrichten hört, dass ein Gefangener von dort entkommen ist, weiß sie sofort, dass es ihr Vater ist und dass er sich im Moor versteckt. Nur Helena hat die Fähigkeiten, ihn aufzuspüren. Es wird eine brutale Jagd, denn er hat noch eine Rechnung mit ihr offen...


    Die Autorin

    Karen Dionne hat in jungen Jahren mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ein alternatives Leben in einer Hütte auf der Upper Peninsula geführt. Ihre damaligen Erfahrungen in der Wildnis hat sie nun in ihren außergewöhnlichen Psychothriller "Die Moortochter" eingebracht. Heute lebt Karen Dionne mit ihrem Mann in einem Vorort von Detroit, wo sie an ihrem nächsten Psychothriller schreibt.


    Inhalt

    Helena Pelletier wohnt heute mit Mann und Kindern in einem unzugänglichen Moorgebiet auf Michigans Upper Peninsula am Lake Superior. Als sie im Radio von einem entflohenen Strafgefangenen hört, bricht ihre Familienidylle schlagartig zusammen. Der Geflohene ist ihr Vater, der Helenas Mutter im Teenageralter entführte und mit der gemeinsamen Tochter 12 Jahre lang gefangen hielt. Helenas Handeln in der Gegenwart wird mehrfach von einem Cliffhanger unterbrochen, dem ein Rückblick folgt, dem ein Abschnitt während der Verfolgung des Vaters folgt, … usw.


    Der Mann, der sich Jacob Holbrooke nennt, stammt von Ojibwe ab und ist ein vorzüglicher Fährtenleser und Fallensteller. In der Öffentlichkeit wird der „Moorkönig“ als Psychopath bezeichnet; weitere psychiatrische und neurologische Diagnosen liegen vor. Helena identifizierte sich als Kind ausschließlich mit dem Vater, eifert ihm nach, wetteiferte darin, ihn im Fährtenlesen zu übertrumpfen. Sie träumte sogar davon, in Arbeitsschuhen und kariertem Hemd eines Tages ein Mann zu sein.


    Helenas Mutter lebte damals in erlernter Abhängigkeit und ständiger Angst vor der Gewalt ihres Entführers. Helena erlebte ihre Mutter als scheues schattenhaftes Wrack. Sie sei an ihrer Lage mitschuldig gewesen, weil sie sich nicht gewehrt und keinen Fluchtversuch unternommen hätte, beschönigt Helena ihre dürftige Einfühlung in ihre Mutter. Auch nachdem sie selbst inzwischen zwei Kinder geboren hat, beharrt sie auf ihrem harten Urteil über die Frau, die sie als Dienerin des Vaters erlebt und nicht etwa als Teammitglied beim autarken Leben in der Natur.


    Als Helena und ihre Mutter in die Zivilisation zurückgeholt werden, kennt das Mädchen keine Elektrizität und hat erhebliche Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Für Helena war ihr Leben die Norm und sie kann daran nichts Ungewöhnliches entdecken. Wie sonst sollte ein Mann auch eine Frau finden, als sie einfach von irgendwo mitzunehmen und in seiner Hütte anzuketten. Eine Psychiaterin und einen Therapeuten in ihrem Leben benennt Helena zwar kurz, nennt auch ein paar Begriffe zur Vorgeschichte ihres Vaters, das wirkt jedoch für einen Psychothriller reichlich oberflächlich. Dass sie fiktive Passagen einschiebt, wenn sie nicht mehr weiß, was sich warum zugetragen hat, macht sie als Erzählerin nicht glaubwürdiger.


    Die erwachsene Helena hinterlässt bei mir bei allem Mitgefühl für ihr Schicksal einen zwiespältigen Eindruck. Sie betont stets ihre besonderen Fähigkeiten, obwohl sie sie bereits erschöpfend szenisch gezeigt hat. Warum ein Ausnahmetalent wie sie vom Verkauf selbstgekochter Marmelade lebt und nicht im Naturschutz oder in der Umweltbildung arbeitet, erschließt sich mir nicht.


    Fazit

    Helenas Schicksal fand ich zwar interessant, doch trotz zunehmend schnellerer Aneinanderreihung von Cliffhangern ließ die Spannung in der zweiten Hälfte des Buches nach, anstatt sich zu steigern. Geärgert habe ich mich bei einem derart gehypten Buch über stilistische und sachliche Fehler. Die Perspektive eines Kindes, das nicht vermisst, was es bisher nicht kannte, wirkt für diese spezielle Icherzählerin zu stark in der städtischen Welt verhaftet, die Helena zum Zeitpunkt der Ereignisse noch nicht kennen konnte. Helenas gegenwärtige Vorstellung von dem, was vor über 15 Jahren auf Twitter (gegründet 2006) und Facebook (gegründet 2004) stattgefunden haben soll, (zudem in einer dünn besiedelten Gegend) wirkt unglaubwürdig.


    Neben einer unreflektierten, unzuverlässigen und offenbar nicht austherapierten Icherzählerin fehlt der Handlung dringend eine weitere Erzählperspektive. Ein Roman, der vom Überleben in einer abgelegenen Gegend handelt, würde perfekt in mein Beuteschema passen, doch weder Thriller-Fans noch Naturliebhabern kann ich ihn empfehlen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow