Gaël Faye – Kleines Land/Petit pays

  • Original : Französisch, 2016


    INHALT :
    »Bevor all das geschah, von dem ich hier erzählen werde, gab es nur das Glück, das nicht erklärt werden musste. Wenn man mich fragte, wie geht es dir, habe ich geantwortet: gut.« Damals traf sich Gabriel mit seinen Freunden auf der Straße, erlebte seine Kindheit wie in einem paradiesischen Kokon. Bis seine Familie zerbrach und fast zur selben Zeit sein kleines Land, Burundi, bei einem Militärputsch unvorstellbare Grausamkeiten erdulden musste. Und seine Mutter den Verstand verlor. Zwanzig Jahre später erst, nach der Flucht mit seiner Schwester in ein fernes, fremdes Frankreich, kehrt Gabriel in eine Welt zurück, die er längst verschwunden glaubte. Doch er findet dort etwas wieder, das er für unwiederbringlich verloren hielt.


    »Kleines Land« ist ein überwältigendes Buch, voller Schrecken und Glückseligkeit, Güte und ewiger Verlorenheit - ein Stück französischer Weltliteratur im allerbesten Sinne. Es war das literarische Ereignis des französischen Bücherjahres. Es führte monatelang die Bestsellerliste an, war für alle wichtigen Literaturpreise nominiert und gewann unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens.
    (Verlagstext der deutschen Ausgabe)


    BEMERKUNGEN :
    Dieser erster Roman hat sofort ein sehr breites positives Echo gefunden. Dem Autor gelingt eine lebendige Erinnerung an einen Kindheitsrahmen : uns so sehr wir in diesem Burundi der 90iger Jahre etwas Abgründiges sehen, so ist und war dieser Rahmen Heimat, mit seinen Menschen, seinen Streifzügen durch das Stadtviertel usw. Und andererseits das Heraufziehen der dunklen Wolken : nicht respektierte Wahlen, Putsch, Bürgerkrieg, Genozid in schrecklichen Ausmaßen. Eindrücklich geschildert, teils unerträglich, aber nicht einfach blutrünstig.


    Diese beiden Aspekte vom « verlorenen Paradies » einerseits, und den Schrecken des Bürgerkriegs andererseits, sind doch auch seltsamerweise nicht nur chroologisch aufeinander folgend, sondern verweben sich miteinander.


    - in der Mitte der « rührigen » Kindheit gibt es Zeichen der Bedrohung, der stillen, noch verborgenen Gewalt, zB durch rassistische Urteile : Europäer (in deren Kreis sich der Ich-Erzähler Gaby/Gabriel auch bewegt, da sein Vater Franzose ist) äußern sich manchmal herablassend über ihre « boys » und den « verlorenen Kontinent », ja, soagr über ihre afrikanischen Frauen, die « froh sein sollten, es mit ihnen so gut getroffen zu haben ». Aber auch : die existierenden Vergleiche und rassistischen Bemerkungen zwischen Angehörigen verschiedener Stämme, hier Hutus und Tutsies. Um was geht es denn da ? Letztlich um eine « grössere oder kleinere Nase » ???


    - und dann in der Spirale der anwachsenden Gewalt doch noch Elemente verrückter Schönheit und Gnade, eventuell auch Blindheit (?) des kleinen Gaby : lernt er doch bei einer Griechin die Lektüre kennen und vertieft sich in die Lesewelt ! Oder hat mit seinen Kumpeln die Entdeckungstouren Jugendlicher.


    So verwischen etwas die so ganz eindeutig gezogenen Grenzen. Ja, sicher, es gibt dann die Wucht der Gewalt. Da steht man da, und liest schwer weiter. Ja, der junge Gaby ist in einer gewissen Naivität, Kindlichkeit eher jemand der die Harmonie sucht und feinfühlig ist. Aber auch ein Stück weit gleichzeitig blind ? Kann er aussen vor bleiben ? Oder wird er in diese Identitätsschlachten verwickelt, selbst gegen seinen Willen ?


    Mich sprachen vor allem die Feinheit der Beobachtungen an, die von kaum bemerkbaren Übergängen erzählen, dem wahrnehmungsschweren Pendeln hin zum Unwiderruflichen. Dann kann von « Fassaden und untergründigen, dunklen Kräften unter scheinbarem Frieden die Rede sein, die stets weiterbohren und Projekte der Gewalt und der Zerstörung gründen ».


    Der Ich-Erzähler ist sicherlich nah dran am Erleben des Autors Gaël Faye. Man merkt den authentischen Ton, dem es gut gelingt die Sicht eines Elfjährigen beizubehalten, wenn auch die Sprache so ausgezeichnet ist, dass man da wiederum sich sagen muss : nee, so schreibt man nicht mit 11 ?


    Ein gutes, ein wichtiges Buch !


    AUTOR :
    Gaël Faye, 1982 in Bujumbura/Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Er verbringt sein Jugend in den Yvelines und entdeckt im Rap und im Hip-Hop einen Zufluchtsort.
    Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Er gründet die Gruppe Milk Coffee and Sugar mit Adgar Sekloka. Das Duo bringt 2009 ein Album heraus. 2013 dann ein Soloalbum von Faye.


    Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
    Verlag: Piper (2. Oktober 2017)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3492058388
    ISBN-13: 978-3492058384

  • Ich habe das Buch natürlich (?) auf Französisch gelesen; auf Deutsch kommt es ja erst im Herbst raus. Insofern kann ich nichts zur deutschen Übersetzung oder Fassung sagen.
    Hier eine Verlinkung zur franz. Ausgabe:


    Taschenbuch: 215 Seiten
    Verlag: Grasset (September 2016)
    Sprache: Französisch
    ISBN-10: 2246857333
    ISBN-13: 978-2246857334

  • Vielen Dank, @tom leo , dass du mich (und andere) auf dieses lesenswerte Buch aufmerksam gemacht hast. Mich hat die Geschichte sehr berührt; viel kann ich nicht mehr zu deiner Rezi hinzufügen, ich stimme vollkommen mit ihr überein.
    Vor allem die genaue Beobachtung der langsam entstehenden Risse in der Gesellschaft gefiel mir ebenfalls.
    Ich wünsche dem Buch noch viele Leser/innen.

  • Inhalt

    Eine Kinderfrage entlarvt die Absurdität von Bürgerkrieg und Genozid. Was der Unterschied zwischen Hutu und Tutsi wäre, wollen Gabriel und seine Schwester Ana in Burundis Hauptstadt Bujumbura von ihrem (französischen) Vater wissen. Eure Mama ist Tutsi, antwortet er, und du Gabriel bist auch Tutsi, weil du dich wie einer verhältst. Der Versuch einer Erklärung lässt Gabriel vermuten, der Vater würde den Unterschied selbst nicht verstehen. Vater Michel ist Bauunternehmer und beschäftigt einheimische Tagelöhner auf seinen Baustellen. Die Kinder sind 8 und 11 Jahre, als 1994 ein Völkermord in Ruanda den Konflikt zwischen Hutu und Tutsi beendet. Dass seine Mutter Yvonne Flüchtling aus Ruanda und einer ihrer Brüder bereits im Krieg gefallen ist, hatte Gabriel bis dahin nicht realisiert.


    Erste Schatten waren auf eine sorgenfreie Kindheit gefallen, als die Jungen aus dem Nachbarhaus aus den Ferien bei der Großmutter frisch beschnitten zurückkehrten und andere Eltern darauf beharrten, sie wären Franzosen, für sie käme das nicht infrage. Auch wenn in Gabriels kleiner Straße mehrere Jungen französische Väter haben, genügt hellere Haut, um von anderen Kindern verspottet zu werden. Schritt für Schritt nimmt Gabriel wahr, was um ihn herum geschieht und wovor sein Vater die Kinder bewahren wollte, indem er Gespräche mit ihnen über Politik verweigerte. Als sein Fahrrad gestohlen wird, realisiert der Junge, dass nur wenige Kinder in ihrem Leben so viel besitzen werden wie er. Eine Mauer um das eigene Haus schützt nicht vor Aufständen und auch nicht vor rassistischen Übergriffen, erkennt Gabriel - der Krieg ist in ihrer kleinen Gasse angekommen. Im Rückblick erzählt der erwachsene Gabriel Jahre später seine Geschichte, die von Briefen an seine französische Brieffreundin der Kindheit unterbrochen wird.


    Fazit

    Der Unterschied zwischen Hutu und Tutsi lässt sich noch immer schwer erklären. Warum Menschen nicht in ihren Heimatländern leben können, ist dagegen etwas klarer geworden in einer bei aller Brutalität höchst poetischen Geschichte über das Ende einer Kindheit.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Gaël Faye - Kleines Land



    Völkermord ist ein schwarzer Sumpf, wer nicht darin untergeht, ist für sein Leben verseucht.



    Gael Faye kann schreiben, trotz der Übersetzung ist dieses Spiel mit den Wörtern noch merkbar, zieht den Leser in seinen Bann. Dieser Tanz mit den Wörtern ist eine Wohltat, besonders nach dem vorigen Buch. Dieses Spiel mit der Sprache gefällt, füllt aus, trotz diesem furchtbaren Thema.



    Gael Faye erzählt hier auch von seiner eigenen Kindheit in Burundi, er ist Sohn eines französischen Vaters und einer ruandischen Mutter. Er wurde 1982 in Bujumbura geboren, also nach den meisten Unruhen in seinem Land. Hier in diesem Buch erzählt er von Gabriel, Gaby, dessen Alter mit dem des Autors übereinstimmt, der mit seiner Schwester Ana und seinem französischen Vater Michel und seiner ruandischen Tutsi Mutter Yvonne in Bujumbura in Burundi lebt. Der Vater ist Bauunternehmer und die Mutter ist Tutsi-Flüchtling aus Ruanda, wird in Burundi geduldet, ist nach einem Pogrom Anfang der 60er Jahre nach Burundi geflohen. Der französische Vater wird hier als ignorant beschrieben, der sich mit den geschichtlichen Zusammenhängen im Zwischenseengebiet(Gebiet zwischen Victoriasee, Edwardsee, Kivusee und Tanganjikasee) nicht auskennt und auch keinen Willen dazu erkennen lässt. Auch die Kinder werden weder geschichtlich noch politisch aufgeklärt, weshalb sie den herrschenden Konflikt zwischen Tutsi und Hutu nicht verstehen, es etwas spielerisch/kindlich/naiv an der Größe der Nase festmachen. Die Eltern haben sich außerdem auseinandergelebt, dass voneinander Angezogensein/Verliebtsein ist verschwunden, die Konflikte fressen sie auf und die Kinder beobachten das angstvoll und hoffen auch auf einen wieder einkehrenden Frieden zwischen den Eltern. Dann bricht 1994/1995 von Ruanda ausgehend das Grauen auch über Burundi herein.



    Geschichtlich sollte man dazu wissen, im Zwischenseengebiet kam es in historischer Zeit zu größeren Einwanderungswellen von Menschen des äthiopiden Typus (schlanker Wuchs,extreme Körpergröße), die dann im 13. und 14. Jahrhundert die Herrscherschicht in den verschiedenen Staaten (Ankole,Bunyoro,Ruanda,Burundi) der bisher hier lebenden Stämme des negriden Typus bildeten und auch deren Sprachen übernahmen. Die europäischen Eroberer haben sich teils mit der bestehenden Herrscherschicht gutgestellt und oftmals behielt diese Herrscherschicht später auch einen Teil der Macht. Wobei es in der langen Zeit des nebeneinander Wohnens der Bevölkerung mit negriden und äthiopiden Typen auch zur Vermischung untereinander kam, was es auch den Europäern schwer machte zu verstehen. Der Konflikt zwischen beiden Bevölkerungsgruppen war daher schon lange da und brach immer wieder in heftigen Massakern aus, wobei beide Bevölkerungsgruppen zu den Opfern zählten. Die Europäer zeichneten sich leider im Konflikt 1994/1995 meistens durch extremes Wegsehen aus, was Ihnen übelgenommen wurde.



    Was dieses Buch hier anschaulich darstellt, ist wie schnell jeder Beteiligte in dieser Gewaltspirale und diesem Hass enden kann, erschreckend schnell. Und ebenso erschreckend ist, was dieses Grauen mit den Menschen macht, dazu muss man sich vor Augen führen, dass diese Hutu-Milizen mit Macheten bewaffnet durch die Tutsi-Gebiete zogen und die Menschen mit diesen zerstückelten. Grauenhaft!