Charlotte Perkins Gilman - Die gelbe Tapete

  • Inhalt:
    Die Ich-Erzählerin, eine junge Frau, die gerade ein Kind geboren hat, verbringt mit Ehemann John, einem Arzt, und Dienstboten den Sommer in einem gemieteten Haus auf dem Lande. Weil sie krank zu sein scheint, ordnet ihr Mann an, dass sie sich zwecks Ruhe und Schonung in ihr Zimmer zurückzieht. Eigentlich ein schönes helles Zimmer, wenn nicht das beängstigende Muster in der gelben Tapete wäre.


    Zur Autorin:
    Charlotte Perkins Gilman (1860-1935) ist das zweite Kind von Mary A. Finch und Frederick B. Perkins, einem Neffen von Harriet Beecher Stowe, der Autorin von "Onkel Toms Hütte". Der Vater, Schriftsteller und Bibliothekar, verlässt die Familie bald. Die Mutter schlägt die Familie mit Gelegenheitsarbeiten durch. Gilman besucht die Kunstgewerbeschule, danach entwirft sie Grußpostkarten und arbeitet als Hauslehrerin. 1884 heiratet sie den Kunstmaler Charles Walter Stetson und bekommt von ihm 1885 eine Tochter. Nach der Geburt hat Charlotte Perkins Gilman tiefe Depressionen. Ein Spezialist in Philadelphia verordnet ihr eine Ruhekur, bei der jegliche geistige Anstrengung eingeschränkt und das Schreiben untersagt ist. Durch diese Kur fühlt sie sich so zerrüttet, dass sie ihre Familie verlässt und zu einer Freundin nach Pasadena in Kalifornien flieht. 1892 veröffentlicht sie mit "Die gelbe Tapete" ihre erste Kurzgeschichte, die auf den Erfahrungen aus der Zeit ihrer Nervenkrise basiert. Die Veröffentlichung führt zu heftigen Reaktionen. "Die gelbe Tapete" gilt bis heute als literarisches Meisterwerk. Nachdem Charlotte Perkins Gilman 1934 an Brustkrebs erkrankt war, nahm sie sich ein Jahr später mittels einer Überdosis Chloroform das Leben. – Amazon


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: The Yellow Wallpaper
    Erstmals veröffentlicht 1892 in The New England Magazine
    Ich-Erzählung
    65 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Wir, die wir aufgewachsen sind mit den korrekten Bezeichnungen und den Krankheitsbildern von Depression, Borderline oder Schizophrenie, betrachten den Zustand der jungen Frau und den Umgang ihres Mediziner-Ehemanns mit Kopfschütteln oder Grauen, je nachdem. Zumindest wissen wir, dass Bevormundung und Gängelei sie eher noch kränker machen, und dass ständige Ruhe, dauerndes Umsorgtsein und Verbannung in vier Wände sicher nicht heilen. Die junge Frau weiß es selbst auch, sieht sich aber außerstande aufzubegehren und gestattet sich nur ganz leise Zweifel an ihrem Mann, und diese nur in ihrem Kopf.


    Die Frau schaut von ihrem Bett aus auf eine gelbe Tapete, deren Muster sie beunruhigt. Sie sieht Motive und Bilder darin, die sie ängstigen. Dass sie darüber mit niemandem reden kann, ist klar, und so bleibt sie allein mit ihren Phantasien, Illusionen und Schimären. Bis sich im Tapetenmuster eines Tages Gestalten bewegen.


    Es gelingt der Autorin großartig, den Leser in die Gedankenwelt der Erzählerin mitzunehmen und auf ihre Sicht einzuschwören, und zunächst stößt man auf Bekanntes: in einem Muster, z.B. Wolkenformationen, Bilder oder Gesichter zu entdecken. Doch mit der Erzählerin rutscht man immer weiter in den Wahn und weiß sich am Ende nicht daraus zu befreien.


    Das ist die offensichtlichste Lesart der Erzählung.
    Auf einer zweiten Ebene kann sie als autobiographische Episode der Autorin gelesen werden, die die Gefühle und Gedanken ihrer psychischen Erkrankung (evtl. einer starken postnatalen Depression) hier in Bildern und Worten ausdrückt.
    Eine dritte Lesart ist die feministische. Warum das so ist, soll jede(r) auf dem Hintergrund von Charlotte Perkins Gilmans Vita und den Symbolbildern in der Erzählung selbst herausfinden.




    (mit Gruß an @Carojenny, die mich dazu brachte, die Geschichte in meinem Regal zu suchen und nochmal zu lesen. Und, ja, ich bin auch 30 Jahre nach dem ersten und 20 nach dem zweiten lesen immer noch beeindruckt)

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • @Marie, die deutsche Version hat 65 Seiten, die englischsprachige nur 28. Ist Dein Buch in Großdruck? Oder gibt es sonst einen Grund dafür, dass die deutsche Ausgabe mehr als die doppelte Seitenanzahl hat?
    Beim Preis der deutschen Ausgabe lohnt es sich, die Kurzgeschichte im Original zu lesen. Zumal es sie auch als ebook gemeinfrei für 0,00 Euro gibt

    Die Erfindung des Buchdruckes ist das größte Ereignis der Weltgeschichte (Victor Hugo).

  • @Bridgeelke, ich besitze das verlinkte Buch nicht selbst, sondern habe die Angaben zu den Seitenzahlen von Amazon übernommen.


    Ich habe die Geschichte in dieser Anthologie gelesen, und dort hat sie nur 22 Seiten.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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  • Ich habe eine gemeinfreie E-Book Ausgabe im englischen Original gelesen, die Seitenentsprechung wird mit 21 Seiten angegeben.
    Meiner Theorie nach leidet die Ich-Erzählerin an einer postnatalen Depression oder hat darunter gelitten. Man erfährt nicht wirklich, worin ihre "Nervosität" besteht und wie sich das klinisch äußert. Allerdings ist sie nicht lethargisch, sondern wünscht sich, wieder schreiben zu dürfen. Erst die "Inhaftierung" in dem Zimmer mit der gelben Tapete und die aufgezwungene Ruhe führen meiner Meinung nach dazu, dass sie aufgrund der intellektuellen Unterforderung dann wirklich in einen Geisteszustand abdriftet, der nicht mehr als normal bezeichnet werden kann. Vertreibt sie sich zunächst die Zeit damit, die Muster in der Tapete analysieren zu wollen, gewinnt sie schließlich den Eindruck, dass hinter diesem Muster, das sie als "käfigähnlich" mit "Stäben" sieht, eine Frau, bzw. Frauen eingesperrt sind, die herauskommen wollen, um umherzukriechen (to creep about). Das ist vermutlich eine Wahnvorstellung, die auf ihre eigene Situation verweist. Sie fühlt sich durch die grundfalsche Überbehütung durch ihren Mann und ihre Schwägerin eingesperrt und möchte "ausbrechen", indem sie - wenn sie schon den Raum nicht verlassen darf - zumindest "geistig" ausbricht und die Zeilen der Erzählung zu Papier bringt.
    Es ist ziemlich deprimierend, aber wohl realistisch, dass man im 19.Jahrhundert nicht richtig mit der Ich-Erzählerin umzugehen weiß und dass sie gar nicht auf die Idee kommt, sich den Anordnungen ihres Mannes zu widersetzen.
    Eine bedrückende, aber lesenswerte Geschichte! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998