Forrest Leo - Der Gentleman / The Gentleman

  • Zu Beginn ist man direkt in der Handlung drin, lernt Lionel Savage kennen, mit einem zynischen bzw. humorvollen Blick auf die damaligen finanziellen Zustände, Regeln und Vorgehensweisen in gewissen Kreisen.


    Die Kapitel werden jeweils mit einem kurzen Inhaltsüberblick eingeleitet. Seit der Eheschließung leidet der Dichter Lionel an einer Schreibblockade. Er dachte zunächst er sei verliebt, aber nun fragt er sich, ob es vielleicht nur der Spaß an der Jagd während der Werbung um Vivienne war.


    Das Buch wird aus Lionels Sicht erzählt und weist immer wieder eingestreute, in Klammern gesetzte zusätzliche Bemerkungen auf.


    Er beschließt seinem Leben ein Ende zu setzen und in die dann folgende trockene Diskussion mit seinem Butler über die möglichen Todesarten platzt seine heimkehrende Schwester Lizzie.


    Sie wird nach über einem Jahr Abwesenheit jetzt von seiner Eheschließung und seinem schlechten Aussehen überrascht. Der Butler fasst zusammen, dass er wohl für die Ehe nicht geeignet ist. Das lebendige Gespräch, dass sich dann zwischen den dreien entwickelt bringt den Leser zum Schmunzeln. Unfreiwillig gestehen sie sich ein, dass er geheiratet hat und nun unglücklich ist und an einer Schreibblockade leidet und dass sie wegen einer Liebelei mit dem Sohn des Direktors von der Schule geflogen ist.


    Dann begegnet Lionel während einer Party dem Teufel und klagt ihm sein Leid über die Ehe und seine Schreibblockade. Er beginnt mit ihm ein Streitgespräch. Der Teufel bittet ihn dann um seine Freundschaft, da er gerührt von Lionels seiner Freundlichkeit ist. Einige Zeit nach seiner Verabschiedung stellt sich dann heraus, dass auch Vivienne verschwunden ist, worüber Lionel zunächst nur froh ist. Doch dann entdeckt Lizzie überraschend Gedicht von Vievienne in ihrem Schreibtisch, die wunderbar sind. Er ist geschockt und fühlt sich nun plötzlich elend. Sie schreibt viel bessere Gedicht als er. Plötzlich taucht dann ihr seit zwei Jahren auf Abenteuern verschollener Bruder Ashley auf. Er ist auf der Suche nach seiner Schwester, die ihm anscheinend ständig liebevolle Briefe über Lionel geschrieben hat. Lionel fühlt sich von den Ereignissen überrollt. Ashley sieht das ganze nur als weiteres Abenteuer, er will dem Teufel seine Schwester wieder abjagen. Die Geschichte entwickelt sich aberwitzig, furios und abstrus weiter. Es kommen im weiteren Verlauf ein Erfinder, ein Faustkampf, Duelle, ein erstes Flugzeug und viele weitere verrückte Ideen vor.


    Der Butler Simmons ist ein herrliches Faktotum! Es wird eine muntere, lebhafte Geschwisterbeziehung zw. Lizzie und Lionel beschrieben. Das Buch „Der Gentleman“ von Forrest Leo ist einfalls- und abwechslungsreich. Man fühlt sich schon fast selbst als Abenteurer. Man darf die Geschichte aber nicht zu ernst nehmen, nicht zu viel darüber nachdenken. Das ganze kulminiert am Schluss im Zusammentreffen aller Beteiligten. Es entsteht ein witziges Rededurcheinander. Es kommt dann doch noch zu einem richtigen Duell. Schlussendlich klären sich alle Wirrungen auf und dann gibt es eine Art von Happy End, aber passenderweise auch sehr ungewöhnlich.


    Leider sind im E-Book alle Fußnoten von Viviennes Cousin am Ende zusammengefasst und nicht direkt am Seitenende, dadurch verliert man leider einiges vom Lesegenuss.


    4,5 von 5 Punkten

  • Großartig und geistreich!


    Lionel Savage, ein nicht gerade sehr arbeitsamer Aristrokrat im zarten Alter von 22 Jahren, hat soeben beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Vor einem Jahr hat er, um seiner äußerst prekären finanziellen Lage zu entfliehen, reich geheiratet, doch ist seine Gemahlin, davon musste sich der hervorragende Dichter überzeugen, absolut geistlos. Darüber hinaus hat Lionel seit der Hochzeit keinen einzigen Vers mehr zu Papier gebracht, denn offenbar hemmt der Ehestand seine künstlerischen Fähigkeiten enorm. „Dichter sind zum Träumen und Tanzen im Mondschein bestimmt und für die verzweifelte Liebe“ (S.70) Darüber hinaus ist er für ein eheablehnendes Gemüt prädestiniert – immerhin starben seine Eltern an ihrem Hochzeitstag. Kein Wunder also, dass seine unmögliche Situation einzig und allein auf Vivien Lancaster, jetzige Savage, zurückzuführen ist, die vergnügungssüchtig einen Lionel verhassten Maskenball nach dem nächsten veranstaltet.
    Doch stellt sich nun ein neues Problem ein: Wie soll er seinem Leben ein Ende setzen? Gegen seine Idee, sich zu erschießen, wendet der wohl weltbeste Butler namens Simmons ein, dass er, da er die wenig appetitlichen Körperflüssigkeiten nach einem Kopfschuss aufwischen müsste, von jenem Vorschlag nicht gerade begeistert sei. Wieder allein gelassen – während unten ein Maskenball wütet – überlegt Lionel also, welche Alternativen des Selbstmordes sich ihm wohl böten. Just in diesem Moment betritt ein sehr freundlicher, etwas schüchterner aber sich durchaus als sympathisch herausstellender Gentleman das Zimmer des Aristokraten. Er ist gekommen, um sich bei Lionel zu bedanken, der ihn zuvor beim Pfarrer kurz in Schutz genommen habe. Die Verwirrung ist groß als sich herausstellt, dass der werte Herr der Teufel persönlich ist.
    Die beiden Gentlemen – wobei der objektive Betrachter anzweifeln darf, ob diese – vom Dichter für auf sich passend befundene – Beschreibung tatsächlich zutreffend ist – unterhalten sich wunderbar bis die Sprache irgendwann unweigerlich auf Lionels Verdammnis, seine Ehefrau, fällt. Am liebsten würde er sie loswerden und stattdessen lieber wieder auf die Höhen seiner dichterischen Fähigkeiten gelangen.
    Tatsächlich ist, kurz nachdem der Teufel verschwunden ist, Vivien Savage unauffindbar. Hat Lionel seine Frau ohne es ausdrücklich gewollt oder gesagt zu haben an den Teufel verkauft? Oder sogar einfach verschenkt? Da ihn das schlechte Gewissen plagt und er feststellen muss, dass er ohne Vivien vielleicht auch nicht der erfolgreichste Dichter ist, beschließt er, sie aus der Hölle zu befreien. Auf seiner abenteuerlichen Reise wird er von seinem Schwager, dem Entdecker Ashley Lancaster, seinem Butler Simmons und seiner kessen und neugierigen kleinen Schwester Lizzie begleitet und noch von einigen weiteren Charakteren unterstützt. Doch wo soll man die Rettungsaktion starten? Wo zum Teufel ist die Hölle? Und ist es vielleicht schon zu spät für Vivien?


    Das Buch spielt im viktorianischen London um 1850. Forrest Leo ist es vorzüglich gelungen, den Snobismus und die Dekadenz der Aristokraten sowie für diese Zeit typische Geflogenheiten ironisch und perfekt auf den Punkt gebracht darzustellen. Generell überzeugt dieses Werk mit sehr viel geistreichem und pointiertem Humor, was mir ausgesprochen gut gefallen hat. Da Lionel eine äußerst skurrile Figur ist und beinahe ständig aneckt, dennoch aber blitzgescheit und wohl gebildet ist, kommt es regelmäßig zu mehr als gelungenen Schlagabtäuschen, die so köstlich sind, dass man sich ein Schmunzeln oder Lachen nur schwerlich verkneifen kann.
    In meinen Augen der größte Clou des Buches ist, dass der angeheiratete Cousin des Protagonisten dieses Werk herausgegeben haben soll. Zur Einführung merkt dieser jedoch bereits an: „Ich wurde beauftragt, diese Seiten herauszugeben und ihre Veröffentlichung zu besorgen. Ich tue es nicht gerne und möchte festgehalten wissen, dass ich es für besser hielte, wenn sie verbrannt worden wären.“ Warum dem so ist, erfährt der Leser mit jeder Seite die er verschlingt, da sich Hubert Lancaster die Freiheit genommen hat, die Geschichte über die reichliche Verwendung grandioser Fußnoten zu kommentieren. Dabei fällt auf, welch eine verquere (Selbst-)Wahrnehmung der Schreiberling Lionel Savage doch zu haben scheint. Darüber hinaus haben Huberts trockene und sarkastische Bemerkungen mich immer wieder zum Lachen gebracht, was bei Büchern zugegebenermaßen viel zu selten geschieht. Meist ist mir das Rumgeulke in Büchern, die den Anspruch erheben, unterhaltsam zu sein, zu krampfhaft gewollt, hier wirkt hingegen so ziemlich jede der vielen unterhaltsamen Aussagen sehr geistreich und lang erdacht.
    Von der ersten Seite an konnte ich in die Erzählung abtauchen, da die Geschichte an sich schon so packend und dann auch noch wunderbar fesselnd geschrieben worden ist. Mit dem stark leidenden Lionel konnte ich bestens mitfühlen und ich habe ihn – wie auch sämtliche anderen Charaktere – schon bald in mein Herz geschlossen. Sie alle sind so wunderbar liebevoll gezeichnet, haben allesamt ihre Ecken und Kanten dass sie tatsächlich echt wirken; selbst wenn man merkt, dass einige phantastische Elemente so in der Realität kaum angetroffen werden könnten. Lionel Savage ist so unfassbar von sich überzeugt, bringt Anderen oftmals wenig Respekt entgegen, wird aber dennoch immer wieder davon übermannt, wie poetisch ein Ort, ein Satz oder ein Mensch doch ist, dass man ihm gar nichts übel nehmen kann. Für mich war es ein großer Genuss den Kontrast zwischen seiner Beschreibung und den Anmerkungen des Herausgebers erfahren zu dürfen und die Entwicklung, welche er durchläuft, mitzuerleben. Er ist eine so skurrile, versnobte, kauzige, geniale und liebenswerte Persönlichkeit, wie ich es selten in Büchern erlebt habe.
    „Im Herzen bin ich Revolutionär.“ (S.57)
    „Ich bereue meine Schroffheit zwar sofort, aber Simmons hat diese sehr unangenehme Angwohnheit, meine Gedichte kleiner zu machen als sie sind. Ich mag es nicht, wenn ich dichte und mich erhaben fühle und dann jemand des Weges kommt und es liest und für dürftig befindet.“ (S.91)
    Der Schreibstil ist ganz vorzüglich: Forrest Leo bedient sich einer zauberhaften Wortwahl, die weder eingestaubt noch in die Kategorie „neumodischer Kram“ fällt, sondern sich perfekt in die Geschichte schmiegt und ausgezeichetn zu den Figuren, den Orten sowie der Handlung passt. „Lieber ein geistreicher Narr (…) als ein närrischer Geist.“ (S.130) Viel Wortwitz und zahlreiche Gedanken zur Lyrik und Kunst ebenso wie spitze Bemerkungen, Sarkasmus oder intelligente Dialoge machen jeden Satz zu einem Genuss.
    Ich könnte noch stundenlang darüber referieren, weswegen ich „Der Gentleman“ so großartig und absolut gelungen finde, mich beschleicht allerdings die Befürchtung, dass diese Ausführungen dann doch etwas zu weit gehen und sowieso nicht mehr gelesen würden, weswegen ich jetzt zu einem Ende kommen werde. Ganz kurz zusammenfassend muss ich aber noch bemerken, dass dies ein wunderbar skurriles, humorvolles, geistreiches Buch mit liebevoll gezeichneten Charakteren, die man, gerade wegen ihrer Unperfektheit zügig ins Herz schließt, ist, dass einen nicht mehr los lässt – auch wenn man die letzte Seite bereits beendet hat. Anmerken möchte ich zudem, dass ich mich bei vielen Passagen über hervorragendes Kopfkino freuen konnte und mir dachte, dass „Der Gentleman“ sicherlich auch für die Bühne geeignet wäre, um dann in der Danksagung zu erfahren, dass dieses Buch zuerst auch ein Theaterstück gewesen ist.


    Von mir gibt es für dieses vielschichtige Buch über Abenteuer, Liebe, Familie, die Ehe, „Duelle und Beinahe-Duelle“, Lyrik und Literatur, Dichter, Erfinder und Entdecker, den Teufel und die Aristokraten sowie zahlreiche weitere Themen definitiv weiterempfehlen. Es zählt sicherlich zu den besten Werken, die ich je gelesen habe und teilt sich zur Zeit mit „Willkommen in Night Vale“ meinen persönlichen Platz 1.
    Ich vergebe 5 euphorisch am Himmel funkelnde und ihre Funken versprühende Sterne für dieses meisterliche Werk!