Swetlana Alexijewitsch - Secondhand-Zeit / Vremja second-hand. Konec krasnogo čeloveka

  • Autor: Swetlana Alexijewitsch
    Titel: Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus, übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
    Originaltitel: Vremja second-hand. Konec krasnogo čeloveka, erschien 2013
    Seiten: 569 Seiten in zwei Teilen mit jeweils zehn Geschichten (1991-2001 und 2002-2012)
    Verlag: Suhrkamp
    ISBN: 978-3518465721


    Die Autorin (nach Wikipedia):
    ( Jean van der Vlugts Rezi zu „Seht mal, wie ihr lebt“ entnommen)
    Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch (geboren 1948) entstammt einer Lehrerfamilie. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Journalistin, Lehrerin und Korrespondentin einer Literaturzeitung. Sie befasste sich mit diversen Genres und Gattungen und entwickelte eine eigene literarische Herangehensweise: Auf Grundlage intensiver Gespräche collagiert sie die Antworten ihrer Gesprächspartner zu Monologen über ihre individuellen Erlebnisse. Durch diese Dokumentarprosa versucht sie, dem „wahren Leben“ literarisch möglichst nah zu kommen. Sie schreibt "Romane der Stimmen"; "Roman-Chöre", nennt sie es selber. Wegen ihrer oppositionellen Haltung gegenüber der weißrussischen Diktatur unter Alexander Lukaschenko verbrachte sie einige Jahre im Exil in Paris, Stockholm und Berlin. 2011 kehrte sie nach Weißrussland zurück. Doch ihre Bücher sind in ihrem Heimatland weiterhin nicht erhältlich. 2013 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
    2015 erhielt sie zudem den Nobelpreis für Literatur.


    Inhalt: (Klappentext)
    Gut zwanzig Jahre sind vergangen seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Russen entdeckten die Welt, und die Welt entdeckte die Russen. Inzwischen aber gilt Stalin wieder als großer Staatsmann, die sozialistische Vergangenheit wird immer öfter, vor allem von jungen Menschen, nostalgisch verklärt.
    Russland, so Swetlana Alexijewitsch, lebt in einer Zeit des »Second-hand«, der gebrauchten Ideen und Worte. Die Reporterin befragt Menschen, die sich von der Geschichte überrollt, gedemütigt, betrogen fühlen. Sie spricht mit Frauen, die in der Roten Armee gekämpft haben, mit Soldaten, Gulag-Häftlingen, Stalinisten. »Historiker sehen nur die Fakten, die Gefühle bleiben draußen …, ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschforscherin.«


    Meinung:
    Dokumentarliteratur über den untergegangenen Sozialismus, das klingt nach trockener Lektüre für hartgesottene Russlandfans. Weit gefehlt! Der Band besteht aus Interviews, die die Autorin über 20 Jahre gesammelt hat. Dabei werden die Aussagen nicht im Frage-Antwort-Stil wiedergegeben, sondern als Leser „hört man nur zu“, lässt die Menschen ausreden, nachdenken, reflektieren, zögern, usw. Geschickt stellt Alexijewitsch die Aussagen zusammen, kommentiert und bewertet nicht, überlässt es dem Leser, sich ein Urteil zu bilden. Dabei kommt nahezu jede Personengruppe zu Wort, Soldaten ebenso wie Gulag-Häftlinge, Stalinisten und Revolutionäre, Parteikader, Gewinner und Verlierer, Alte und Junge, etc. Alexijewitschs Talent liegt darin, dass die Menschen ihr offenbar vertrauen, nach anfänglichem Zögern ihr Herz öffnen, sich einiges von der Seele reden und da kommt Erstaunliches zutage. Schonungslos wird über zerplatzte Hoffnungen und Träume erzählt, über Kriegstraumata, über das gegenseitige Unverständnis zwischen Eltern und Kinder, der plötzlich aufgetretene Hass zwischen den Völkern der ehemaligen Sowjetunion, gescheiterte Selbstmordversuche, und und und. Die aufeinanderfolgenden Protokolle bieten keine Verschnaufpause, dem entsprechend kann das Buch durchaus anstrengen. Eine Pause brauchte ich zwischendurch aber auch, um das Gelesene zu verdauen. Ich hätte nicht gedacht, dass mich eine „Interviewsammlung“ über den Sozialismus emotional so mitreissen würde. Über das Leiden anderer zu lesen und sich dabei bewusst zu sein, dass hier das „echte Leben“ geschildert wird, und nicht irgendein fiktiver Horrorroman vorliegt, das ist für mitfühlende Leser nicht ganz einfach. Ich frage mich ernsthaft, wie ich Alexijewitschs Collagen über Selbstmörder und Tschernobyl lesen soll; versuchen werde ich es dennoch.


    Empfehlen möchte ich das Buch für alle Russlandinteressierte, wobei einige Themen, Aussagen und Gefühle auch exemplarisch auf andere Länder, aktuelle Entwicklungen und Situationen übertragbar sind.
    Ach ja: man sollte bereits mit den Begriffen „Entstalinisierung“, „Perestroika“, „Augustputsch 1991“, „Gulag“ etwas anfangen können, ansonsten habe ich aber auch viel zur russischen Geschichte seit dem 2. Weltkrieg im Internet recherchiert und dazu gelernt.

  • Zitat von Nungesser

    Eine Pause brauchte ich zwischendurch aber auch, um das Gelesene zu verdauen.

    Daran knüpfe ich an.
    Ich bin auf Seite 214, also ca. am Ende des ersten Drittels und brauche eine Pause.


    Es liegt weniger an den erlittenen Gräueln und der Gewalt, die der im letzten Kapitel interviewte 87-jährige schildert, als daran, dass man sich und seine Sicht auf die Welt teils hinterfragt, teils bekräftigt sieht und das dies ,zumindest in meinem Kopf, ziemlich durcheinander geht.


    Fast völlig ohne Kommentare schreibt Alexijewitsch die Berichte der interviewten Personen nieder. Ab und zu ein kursiv und in Klammern gedruckter Satz wie "Wir lachen beide". Noch seltener etwas subjektives, z.B. "Ich verstehe sie sehr gut". Das bedeutet, man muss sich selbst eine Meinung bilden. Und das ist gar nicht so leicht. Zu den Zeiten, als es die Sowjetunion noch gab, war sie für mich eine unbestimmte, mal mehr, mal weniger bedrohliche Macht, die in den US - Blockbustern immer eins vor den Latz bekam und über deren Bodenschätze und Klimazonen unser Erdkundelehrer in der 10. Monologe vor gelangweilten Schülern hielt.
    Wir waren die "Guten", und das war die Hauptsache.


    Nur, dachte das nicht jede Seite, dass sie zu den "Guten" gehört? Dass der jeweils andere völlig konträr lebende Staat das "Böse" verkörpert? Nun war es die SU, die zerfiel und wo viele Menschen von heute auf morgen hörten, dass der Kommunismus eine große Illusion oder gar eine Lüge gewesen sei. Dass das nicht von heute auf morgen weg gewischt werden kann von Bürgern, die ihr riesiges Land als Weltmacht aufgebaut hatten, kann ich jetzt nachvollziehen. Ich muss zugeben, dass ich einiges, was der Sozialismus als Wert ansieht, schlüssig finde und verstehe, dass gerade die älteren Sowjets den Kapitalismus als Verrat empfinden.
    Zitat hierzu: "Es war ein großes Imperium. Wo ist es hin? Besiegt ohne Bombe. Gesiegt hat ihre Majestät die Wurst! Großes Fressen hat gesiegt. Mercedes Benz. (...)Mehr braucht der Mensch nicht, nur Brot und Spiele."


    Der 87-jährige, der das sagt, wurde, wie oben erwähnt, unter Stalin auf übelste gefoltert und - blieb ihm trotzdem bis zum Lebensende treu ergeben. Hier kommt es auch zu einer der seltenen Kommentare der Autorin: "Ich sage ihm, dass ich das niemals verstehen werde."


    Es gibt auch andere Sichtweisen, aber das Gros der interviewten Menschen ist in der Staats -bzw. Regierungsform, die momentan herrscht, noch orientierungslos. Oft ist von der starken Hand die Rede, die das Volk braucht. So erklärt sich Putins Bedeutung schlüssig. Aber nicht nur seine, sondern auch die Macht anderer autokratischer Regierungschefs.


    Wie Nungesser schon schreibt, wird man einiges recherchieren müssen bzw. wollen. Mir ist bisher noch nicht ganz klar, wie die Staaten außerhalb Russlands den Zerfall erlebt haben. Man weiß von den einsetzenden schlimmen Kriegen, aber die genaue Beziehung zwischen Russland und den anderen Staaten möchte ich mir noch an anderer Stelle anlesen.


    Ein letzter Gedanke noch zum Schluss gilt Nordkorea. Nach dem bisherigen Drittel frage ich mich: Wie soll man diesen Staat - umkrempeln? -reformieren? , ohne dass Millionen von Bürgern ein Trauma erleiden?

  • Da wünsche ich Dir nach einer kleinen Pause weiterhin viel Lesevergnügen mit den beiden weiteren Dritteln. Ja, die Schilderungen von Gräueln und Gewalt waren schlimm, aber ich hatte auch viel Mitgefühl mit den "Verlierern" der Sowjetunion. Plötzlich ist die komplette Lebensgrundlage weg, alles woran man im Leben geglaubt und wofür man gearbeitet hatte. Und schlimmer noch: die Menschen um einen herum verändern sich wahnsinnig schnell. Die Kinder passen sich rascher den neuen Gegebenheiten an und teilen die Werte ihrer Eltern nicht länger. Zudem gibt es "skrupellose" Gewinner, die zu Lasten der Naiven und Gutgläubigen zu schnellem Reichtum kommen. Die meisten Interviewten verstehen ja gar nicht, was da plötzlich passiert ist, wie ohne eine gefallene Bombe plötzlich der Kapitalismus im Land herrscht. Da bleiben Millionen auf der Strecke, und wie Du sagst @SiriNYC, da fragt man sich natürlich, wie das in anderen Ländern besser funktionieren soll.

    Wie Nungesser schon schreibt, wird man einiges recherchieren müssen bzw. wollen. Mir ist bisher noch nicht ganz klar, wie die Staaten außerhalb Russlands den Zerfall erlebt haben.

    Ich hatte beim Lesen mehr über den Übergang von Gorbatschow zu Jelzin, über den Augustputsch usw recherchiert, aber sicherlich wäre es auch interessant mehr über die anderen Länder zu erfahren. @findo hatte kürzlich untenstehendes Buch rezensiert, welches daraufhin auf meinem Merkzettel steht. Vielleicht ist es ja auch für Dich interessant?

  • Zitat von Nungesser

    Ich hatte beim Lesen mehr über den Übergang von Gorbatschow zu Jelzin, über den Augustputsch usw recherchiert

    Ja, ein weiterer blinder Fleck auf meiner Landkarte. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr erinnern, wie die Herrschaft von Gorbatschow weiter ging bzw. endete. Für mich war er außerdem immer eine Art "Held". Für viele andere Europäer auch, das kam anlässlich des Todes von Helmut Kohl nochmals zum Tragen.
    Dass er in Russland viel viel kritischer gesehen wurde/wird (u.a. da er zu "weich" gewesen sei, in politischen wie in privaten Dingen) war mir so nicht bewusst.

  • Vor ca. 3,5 Wochen habe ich das Buch beendet und gerade meinen Zettel mit Notizen heraus gesucht, um noch zu berichten, wie es mir mit dem Rest der Lektüre ergangen ist.


    Der zweite Teil des Buches hat mich noch mehr mitgenommen als der erste Teil. Es ist viel von Kriegserlebnissen die Rede, die sich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugetragen haben. Wie @Nungesser bereits schrieb, kann man es nur in Häppchen lesen. Dies ist auch rein formell gesehen passend, da die Berichte der einzelnen Zeitzeugen losgelöst voneinander für sich stehen können.
    Da jeder einzelne Bericht ein eigenes oft sehr schlimmes Schicksal darstellt, würde es auch dem Sinn dieser Aufzeichnungen widersprechen sie zu "konsumieren", wie man es als Katastrophentourist/voyeur vielleicht tut (ich bezeichne mich durchaus selbst als solchen, wenn ich mich dabei ertappe wie ich gleichzeitig abgeschreckt und fasziniert von dem Grauen (er)warte, ob noch eine Steigerung kommt).
    Die Autorin dokumentiert sehr feinfühlig eben diese und andere Ängste und Zweifel der Personen, die hier ihr Leben offenlegen. Viele sind letztendlich froh, dass Alexijewitsch ihnen eine Stimme gibt.
    Generell zeigt sie selbst sich im zweiten Teil häufiger durch Kommentare u.ä. als im ersten, bleibt aber nach wie vor dezent im Hintergrund.


    Vor meinen 14 Tagen Ferien fehlten noch drei Kapitel. Ich musste mich nach dem Urlaub zwingen, sie zu lesen, da die Lektüre wirklich sehr runterzieht.
    Stichwort auf meinem Zettel: Was einst zusammen war oder zusammen gehalten wurde, bekämpft sich bis aufs Blut.


    Traurig bzw. ernüchternd ist die sehr häufig vorkommende Aussage "Unsere Bücher (damit gemeint sind die Romane der großen russischen Literatur) haben uns nichts genützt." oder "Aber das Leben ist anders als in Büchern (S. 409)" ...


    Dringende Leseempfehlung.