Jürgen Petschull - Mit dem Wind nach Westen

  • Autor: Jürgen Petschull
    Titel: Mit dem Wind nach Westen
    Seiten: 245
    ISBN: 978-3442115013
    Verlag: Goldmann


    Autor:
    Jürgen Petschull wurde 1942 in Berlin geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er volontierte zunächst bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und arbeitete danach für die Neue Rhein/Ruhr Zeitung als Redakteur und Reporter, bevor er zum Magazin Stern wechselte. Er schrieb vielfach beachtete deutsche und internationale Reportagen, arbeitete auch als Chefreporter für Geo. Er schreibt zeitgeschichtliche Sachbücher und Romane, die zumeist auf wahren Geschehnissen beruhen.1980 schrieb er über die Ballonflucht zweier Familien aus der DDR sein erstes Sachbuch. Mit seiner Familie lebt er in Bremen.


    Inhalt:Eine kleine Stadt in Thüringen, in der Nähe der deutsch-deutschen Grenze. Zwei Männer glauben, das Herrschaftssystem der DDR nicht mehr länger ertragen zu können und verfallen auf eine phantastische Idee. In einem selbstgebauten Heißluftballon wollen sie mit ihren Familien in den Westen fliehen, doch der erste Versuch misslingt. Zweihundetr Meter vor dem Todesstreifen im Sperrgebiet bleibt der Ballon in den Bäumen hängen. Die Flüchtenden entkommen unerkannt, müssen den Ballon aber zurücklassen. Doch, bald starten sie einen neuen Fluchtversuch, denn den beiden Familien ist klar, die Staatssicherheit wird sie jagen. Mit einem zweiten Ballon starten sie schließlich einen neuen Versuch. Der Wind weht in westlicher Richtung. (eigener Text)


    Rezension:
    Für einen kurzen Moment der Geschichte rückte der kleine fränkische Ort Naila in den Blick der Weltgeschichte. Die westdeutsche, europäische, selbst die amerikanische Presse fand sich in den Ort ein, um über Unglaubliches zu berichten. Zwei Familien hatten in der Nacht des 16. September 1979 mit einem selbst konstruierten Ballon die Flucht aus der DDR gewagt und waren sicher in der Nähe des Ortes gelandet, nachdem ein paar Monate zuvor der erste Versuch, die Grenze zu überqueren, gescheitert war. Doch, was trieb zwei Familien dazu, die Flucht zu wagen, worauf mindestens langjährige Gefängnisstrafen, an der Grenze mit Selbstschussanlagen, scharfen Hunden und Minen mindestens Verstümmelungen, wenn nicht sogar der Tod bei Scheitern gedroht hätten? Weshalb wollten die Wetzels und die Strelzyks, denen es beiden im System der DDR gut ging, die es zu so etwas wie Wohlstand gebracht hatten, diesem entfliehen? Jürgen Petschull schrieb ihre Geschichte auf. Ein Jahr nach ihrer Flucht.


    Den Film kann man inzwischen auf allen möglichen Plattformen auf DVD zu Phantasie-Preisen erwerben, das Buch ist dagegen antiquarisch für ein paar Cent zu haben. Und es lohnt sich heute noch, diese Momentaufnahme der Geschichte vorzunehmen. Jürgen Petschull hat vor Ort, in Pößneck in der DDR recherchiert, sowie in Naila beide Familien nach ihrer Flucht besucht und rekonstruiert diese von der ersten Idee bishin zum Bau des ersten Ballons, erzähltt von Mut und Überlebenswillen, Überdruss über ein verkrustetes Staatssystem und den Willen zur Veränderung. In einer Zeit, in der es noch viele Berichte ideologisch gefärbt gegeben haben mag, auf beiden Seiten der Grenze, ganz unaufgeregt und neutral. Er beleuchtet die Ereignisse von allen Seiten, fühlt den beiden Familien nach, stellt die Arbeit der Staatssicherheit dar, die nach dem ersten Fluchtversuch sicher die Fährte aufnahm und den Abtrünnigen auf die Schliche kam. Doch, die waren da schon längst mit dem zweiten Ballon mit dem Wind in den westen getrieben.


    Zum Zeitpunkt des Aufschreibens war noch nicht klar, dass die Mauer ein gutes Jahrzehnt später fallen und die Grenze sich öffnen würde. Auch, dass die Familien sich im Umgang miteinander beide entfremden würden, war nicht abzusehen. Ein Jahr später stand nur eines fest, die beiden Familien hatten es einem System gezeigt, welches nur überleben konnte, da es seine Bürger einsperrte. Und das wollte man würdigen. Der bayerische Grenzort wollte profitieren, die Familien sollten es und die Welt sollte erfahren, dass man nur Mittel und Wege, Ideen, haben musste und manchmal auch eine gewaltige Portion Glück, die Grenzanlagen zu überwinden.


    Peter Strelzyk ist dieses Jahr im Alter von 74 Jahren gestorben. In sofern ist es Zeit, sich an diese Geschichte zu erinnern, die glücklich ausgang und sich an jene Fluchten zu erinnern, die mit Gefängnis oder gar den Tod endeten. Und daran, dass sich eben der Mensch als freiheitsliebendes Wesen nicht einsperren lässt. Herrlich neutral und ohne Ideologie erzählt Jürgen Petschull klar dokumentarisch ein Stück zweier unvergesslicher Familienbiografien, in deren Mittelpunkt ein selbstgebauter Ballon stand. Dieser ist heute im Heimatmuseum in Naila zu bewundern, während die Familien nach der Wende wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Als dieses Mal freie Menschen.

  • Das Buch war damals ein Bestseller.
    Man hat ja im Nachhinein das Gefühl, dass es in den 80ern nicht viel gute moderne Sachbücher oder spannende zeitgenössische Literatur gab. Aber das war eines der wenigen Bücher, das sowohl die Konsalik und Däniken schmökernden Erwachsenen als auch die dtv pocket und rororo rotfuchs - Teenager gelesen haben (neben "Deutschland umsonst" von Michael Holzach).


    Danke fürs Erinnern!

  • Das Buch habe ich für die Klassiker-Challenge 2021 gelesen und damit meine Meinung auch im zugehörigen Rezi-Thread zu finden ist, hier ein Eigenzitat :) :


    Die Reportage aus dem Jahr 1980 über die Flucht zweier Familien aus der DDR mit einem Heißluftballon kannte ich zwar durch die Erzählungen der Erwachsenen, hatte sie aber erstmals anlässlich der o.a. Challenge gelesen.


    Der Stil des Reporters Jürgen Petschull entspricht (wie die Aufmachung des Buches insgesamt) den Sachbüchern der Zeitschrift „Stern“ aus den 70er/80er Jahren - allen voran denke ich an „Christiane F.“ . Neben dem Text findet man etliche Schwarzweiß - Fotos von Personen und Orten, die damals eine wesentliche Rolle spielten.


    In dokumentarischer Sprache, ohne pathetisch oder allzu emotional zu werden, wird die spektakuläre Flucht der vier Erwachsenen und vier Kinder erzählt. Günther Wetzel und Peter Strelzyk eignen sich in Zeiten ohne Internet die Kenntnisse über die Konstruktion eines Ballons an und setzen diese um - ohne die Möglichkeit, problemlos an alle benötigten Materialien zu gelangen.


    Erstaunlich wie verhältnismäßig wenig Angst die Beteiligten angesichts der drohenden Gefahren hatten und mit welcher Ausdauer sie auch nach mehreren Fehlschlägen bei der Sache blieben.


    Mir kommt es so vor, als ob heute, wo man sich ständig absichert und versichert, Ängste und Unsicherheiten eher zugenommen haben bzw. man sich weniger zutraut. Vielleicht mag es damit zusammen hängen, dass den Menschen in der DDR gar nichts anderes übrig blieb, als selbst zu organisieren, zu reparieren, zu improvisieren. Eine Gabe, die uns immer mehr abhanden kommt.


    Nicht, dass ich die Zeiten (zumal als „Nichtbetroffene“) schönreden will, denn ein wichtiges Zitat von Peter Strelzyk nach einiger Zeit in der BRD lautete:

    „Es ist ein gutes Gefühl, wenn man frei seine Meinung sagen kann.“



    Fazit: Eine sehr spannende, flott erzählte Reportage,

    übrigens 1982 von den Disney - Studios und 2018 von Michael Bully Herbig verfilmt