Bill Clegg - Fast eine Familie / Did you ever have a family

  • Klappentext: Ein gefeierter Familienroman über die Macht des Mitgefühls, in dessen Kern die Familie steht – die, in die wir hineingeboren werden, und die, die wir selbst wählen.
    Am Morgen der Hochzeit ihrer Tochter geht June Reids Haus in Flammen auf und reißt ihre ganze Familie in den Tod. Nur June überlebt. Taub vor Schmerz, setzt sie sich in ihren Subaru und fährt quer durch die USA. Eine alte Postkarte ihrer Tochter führt sie in ein kleines Motel an der Westküste, das Moonstone Motel, wo sie sich unter falschem Namen einmietet. Hier, glaubt sie, wird niemand sie finden. Das amerikanische Provinznest Wells überschlägt sich derweil vor Gerüchten. Alle sind auf die eine oder andere Art von der Tragödie betroffen, und das Kleinstadtgerede offenbart allmählich eine unheilvolle Verkettung von Familientragödien. Während June in der dumpfen Anonymität des Motels jeden zwischenmenschlichen Kontakt meidet, spannt sich unter ihr unbemerkt ein Netz wahrer Mitmenschlichkeit – es könnte sie auffangen und zurück ins Leben holen. Ein Familienroman voller Optimismus über eine unverhoffte Begegnung mit der Menschlichkeit, die uns aus den Trümmern unseres Schicksals zu reißen vermag, wenn scheinbar alle Hoffnung verloren ist. Bill Cleggs »New York Times«-Bestseller ›Fast eine Familie‹ wurde hymnisch besprochen und mit einer Man-Booker-Nominierung geehrt.


    In der Nacht vor der Hochzeit ihrer Tochter Lolly geht Junes Haus in Flammen auf. Lolly und ihr Verlobter sterben ebenso wie Junes Exmann und ihr neuer Partner. Dieses Unglück ist der Ausgangspunkt des Buches. Aus der Sicht verschiedener Personen erfahren wir mehr über die Zusammenhänge, aber auch mehr über deren Leben vor und nach dem Unglück. Das Buch ist in kurze Kapitel unterteilt, die Perspektive wechselt häufig und unregelmäßig. Manche Charaktere kommen nur einmal zu Wort, die Erzählungen erfolgen nicht in chronischer Reihenfolge. Mit dem Wechsel der Perspektive ändert sich auch der Erzählstil des Autors. Neben June, deren Perspektive vor allem von der schwierigen Beziehung zu ihrer Tochter erzählt, kommt häufig auch Lydia, die Mutter des verstobenen Luke (Junes neuer Partner), zu Wort. Ihre Geschichte handelt von Abhängigkeit, von Schwäche und Stärke zugleich und von Einsamkeit. Wir erfahren, wie sie ihren gewalttätigen Exmann mit einem beinahe Fremden betrog und in ihrer Stadt seither ohne jeglichen Respekt behandelt wird. Das Thema Tratsch in einer kleinen Stadt ist in diesem Buch allgegenwärtig. Jeder meint mehr über Dinge zu wissen die ihn eigentlich nichts angehen. So wird Luke aufgrund seiner Hautfarbe automatisch zum Buhmann der Stadt. Auch June wird aufgrund ihrer Beziehung zu einem viel jüngeren Mann verurteilt.


    Zu Beginn des Buches war ich verwirrt. Die kurzen Kapitel aus der Sicht unterschiedlicher Charaktere wollten nicht genau zusammen passen. Ich hatte Probleme damit die Charaktere in eine Beziehung zu setzen. Ich konnte nicht einschätzen wer einen geliebten Menschen durch den Brand verloren hatte. Doch diese Verwirrung legte sich schnell und die vielen Kapitel waren wie kleine Puzzleteile, welche die Geschichte zusammensetzten. Schnell packte mich die Geschichte und ich konnte es kaum erwarten mehr von den unterschiedlichen Charakteren zu erfahren. Die Charaktere und deren Schicksale, die niemals zu dramatisch beschrieben wurden, interessierten und faszinierten mich. Bill Clegg hat in diesem Werk viele authentische und detailliert beschriebene Charaktere von ihrer unvollkommenen und verletzlichen Seite gezeigt.


    Als besonders eindringlich empfand ich eine Szene, in der eine einsame Frau mehrfach von einem Telefonbetrüger kontaktiert wird. Obwohl sie weiß, dass der Anrufer ihr keinen Lottogewinn überweisen, sondern sie um 700€ betrügen wird, überweist sie ihm das Geld und geht immer wieder ans Telefon. Sie ist einsam und telefoniert lieber mit einem Betrüger, als dass sie wieder wochenlang mit niemandem spricht.


    "Sie beugt sich vor und lässt den Hörer auf den Schoß sinken. Die Stimme in ihrer Hand ist alles, was sie hat. Also: nichts. Sanft schaukelt sie vor und zurück und wünscht sich, sie könnte verschwinden. Sie fühlt sich maßlos einsam, einsamer als in den Wochen nach Lukes Tod." (S. 208)


    Neben den unterschiedlichen Charakteren wird auch der Brand genauer thematisiert. Immer wieder tauchen kleine Details auf, die auf die Ursache des Brandes hinweisen. Wie dieser tatsächlich entstand wird zum Ende hin aufgelöst. Als Leser hat man das Gefühl, dass all die kurzen Kapitel wirklich ein großes Ganzes bilden, auch wenn einige Fragen (wie die Charaktere ihr Leben im Anschluss gestalten) offen bleiben.


    Fazit: Eine ergreifende Geschichte über unterschiedliche Menschen und deren Leben. Eine Geschichte, die insbesondere durch die herausragende Charakterzeichnung und die ungewöhnliche, gekonnte Erzählform berührt.

  • Der Autor

    „Fast eine Familie“ ist Bill Cleggs erster Roman. Er stand auf der Bestsellerliste der New York Times, wurde von der amerikanischen Presse gefeiert und für die zwei wichtigsten Literaturpreise der englischsprachigen Welt nominiert: den Man Booker Prize und den National Book Award. Bill Clegg wuchs an der Ostküste der USA auf und arbeitet heute als Literaturagent in New York City.


    Inhalt

    Am Tag von Lolly Reids geplanter Hochzeit fallen im Litchfield County /Connecticut Braut, Bräutigam, Brautvater und der Liebhaber der Brautmutter einem Brand zum Opfer. Das Unglück macht selbst professionelle Helfer sprachlos. Nur mit dem, was sie auf dem Leib trägt, flüchtet die einzig Überlebende June Reid mit dem Auto aus dem kleinen Ort und findet weit entfernt vom Unglücksort Zuflucht in einem kleinen Motel. Die Zurückgebliebenen versuchen Anteil an der Katastrophe zu nehmen, doch das scheint angesichts der Tragik unmöglich zu sein. Dorfklatsch und Schuldzuweisungen vertiefen bisher verdrängte Gräben zwischen den Dorfbewohnern. Der Ort Wells ist so klein, dass man dort jeden wiedertrifft, der einen einmal gemobbt oder über den Tisch gezogen hat. Einheimische und Zugezogene leben in zwei verschiedenen Welten.


    Auch June ist früher von Wells aus zur Arbeit nach Manhattan gependelt. Nur wer in New York arbeitet, kann sich die steigenden Immobilienpreise leisten und Hauspersonal beschäftigen. Doch wer als Pendler den Spagat zwischen Stadt und Land vollzieht, ist gestresst vom Job, von den Kindern und Hypothekenzahlungen. Die Einheimischen übernehmen Dienstleistungen, putzen Hotelzimmer für die Sommergäste und kümmern sich um Häuser, deren Besitzer nur am Wochenende kommen. Die Floristin Edith und Lukes Mutter Lydia repräsentieren das „Personal“. Vorn heraus verhalten sie sich stets liebenswürdig und verbergen ihre Wut über Klassenunterschiede und Gentrifizierung ihres Heimatortes. Als June eine Liebesbeziehung zum 20 Jahre jüngeren Luke beginnt, überschreitet sie die vorgegebene Klassenschranke zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und bringt damit die Emotionen im Ort zum Brodeln. Luke hat einen (unbekannten) schwarzen Vater und war als Frauenschwarm und angeblicher Tunichtgut schon immer Stadtgespräch.


    Fazit

    In zahlreichen, zeitlich versetzten Handlungsfäden entsteht ein fein gewebtes Bild der Familie Reid mit ihren Beziehungen zu den Ursprungsfamilien von Bräutigam Will, Liebhaber Luke und den Motelbesitzern. Das Motel ist nicht nur für June ein Fluchtpunkt, hier laufen schicksalsbestimmende Fäden zusammen. Erzählt wird u.a. von einem halben Dutzend Icherzählern und mit Focus auf rund 20 Personen. Es gibt im Grunde keine Nebenfiguren, jede Perspektive ist für das Gesamtbild wichtig. Für ein Urteil über June wirken die gesammelten Erkenntnisse alles andere als schmeichelhaft. „Wie oft stellt sich heraus, dass man völlig danebenliegt“, sagt Motelbesitzerin Rebecca über ihr Gelegenheits-Hausmädchen Cissy – und so ergeht es auch den Lesern des komplex gestrickten, multiperspektivischen Romans. Die Bezeichnung Familienroman wird Bill Cleggs ambitionierter Konstruktion nicht gerecht. Erwartet hatte ich einen einfach gestrickten und schnell zu lesenden Text. Gerade als US-amerikanischer Roman über ein kompliziertes Familiengefüge hat „Fast eine Familie“ mich positiv überrascht. Das Buch erzählt von durchschnittlichen berufstätigen Menschen, ihren Verstrickungen und zerbrechenden Partnerbeziehungen. Seine Figuren werden von Schicksalsschlägen aus der Bahn geworfen, sie treffen Entscheidungen, deren Folgen sie nicht voraussehen können. Alles dreht sich um das große Wenn. Was wäre geschehen, wenn es die vielen Abzweigungen in ihrem Leben nicht gegeben hätte? Es geht um Glückserwartungen, das Finden ehemaliger und zukünftiger Familien und um Klischees von Familie, die zur Falle werden können.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow