Feridun Zaimoglu - Evangelio

  • Kurzmeinung

    Marie
    Experiment Fäkalsprache statt dem Geist Luthers und seinem Meisterstück, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen
  • Ich wag mich mal an Evangelio von Feridun Zaimoglu.


    Wer sich Luther von einer anderen Seite nähern will, als von einem dicken Wälzer; als einer aneinnandereihung historischer Begebenheiten, verbürgtem Lutherwissen und der geordneten Gedankenwelt eines Professors oder Historikers, sollte seine Aufmerksamkeit Feridun Zaimoglus Roman Evangelio zuwenden.


    Vom 4. Mai 1521 bis 1. März 1522 hält sich Luther unerkannt auf der Wartburg auf; er nennt sich während dieser Zeit 'Junker Jörg'. Auf Geheiß des Kurfürsten von Sachsen wurde Luther auf die Feste Warte verbracht, um ihn aus der 'Schußlinie' zu nehmen; die Angriffe auf die reformatorische Bewegung nahmen ständig zu; Luther geriet immer mehr ins Visier der Kirchengerichtsbarkeit. Ab dem 8. Mai galt Luther durch das 'Wormser Edikt' als Vogelfrei; jeder hätte ihn töten können. Währen dieser Zeit übersetzt er in nur zehn Wochen das in griechischer Sprache abgefasste Neue Testament ins Deutsche. Dabei hat er mit sich und Satan üble Kämpfe auszufechten.


    In Evangelio erzählt Zaimoglu nur ein kurze Zeitspanne in Luthers Leben, diese aber dafür bildgewaltig und kraftvoll aus der Sicht des Landsknechts Burkhard, der vom Landesherrn an die Seite Luthers gestellt wurde um auf ihn zu achten und ihn zu schützen. Der Konflikt zwischen beiden wird dadurch zugespitzt, das Burkhard selbst katholisch ist, den Ketzer Luther hasst; aber Ergeben und Treu bis in den Tod bereit ist Luthers Leben zu schützen; so wie es ihm sein Herr geheissen. Ein genialer Einfall Zaimoglus sich über die fiktiven Gestalt des Landsknecht Burkhard in die lutherische Gedankenwelt zu versetzen; die dieser sogar im Laufe des Romans zu verstehen sucht.


    Über Luther wissen wir heutzutage einiges. Über die Gedankenwelt eines Kriegsmanns, der schnell mit dem Katzbalger zu Hand ist, damit Ohren und Nase schneidet, und mit dem Eisen das Haupt von den Achseln schlägt, wissen wir nicht so viel. Das Leben zu Luthers Zeiten ist zuweilen grausam, und kann ganz plötzlich sehr jämmerlich enden. Der Umgang miteinander ist nicht gerade zimperlich. Jeder ist sich selbst der nächste, heidnische Bräuche, mehr Aberglaube als Medizin, Hass auf die andere Religion; Gründe um sich gegenseitig brutal an die Gurgel zu gehen gibt es zu Hauf.


    Es schadet nichts ein paar Begrifflichkeiten aus der Mittelalterlichen Zeit zu kennen. Das mittelalterliche Deutsch ist gewöhnungsbedürftig. Man möchte fragen, ob das Schriftsprache ist oder ob wirklich so geredet wurde. In den Briefen Luthers an seine Unterstützer Melanchthon oder Georg Spalatin, dem Geheimschreiber Friedrichs des Weisen, um nur einige zu nennen, die Zaimoglu in seinen Roman einflicht, muß man sich beim Lesen sehr konzentrieren. Nach ein paar Seiten hat man sich aber daran gewöhnt und liest die Zeilen in einem Tempo herunter, dass dem Mephistopheles Hören und Sehen vergeht. Den Katzbalger habe ich auch nachschlagen müssen; aber so macht Literatur auch Spass. Am Ende des Buches war mir Burkhard sympathisch geworden.


    Quellen:
    Evangelio
    Wikipedia

  • Ich habe schon "Gefällt mir" gedrückt, bevor ich Deine Rezi gelesen habe, weil ich mich freue, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, eine über "Evangelio" zu schreiben.


    Vor ein paar Wochen durfte der Autor das Werk bei Deutschlandradio vorstellen und er las auch eine Textstelle. Ein kluger, sympathischer Mensch und ein interessantes, nicht ganz so leichtes Buch. Zaimoglu meinte übrigens, er habe schon seit einigen Jahren an dem Roman gearbeitet und es wäre Zufall, dass er im Lutherjahr damit fertig geworden sei.


    Vor einer Stunde dann fällt mir das Büchermagazin April/Mai in die Hand, in dem das Buch kurz vorgestellt wird, und ich erinnerte mich wieder an die Sendung.
    Und jetzt folgt Dein Beitrag, das passt.
    :)

  • Danke für den Link
    Freut mich sehr wenns passt :)


    Ich hatte ein anderes Interview als Podcast gehört. Entweder wars von Bayern 2 oder mdr Kultur. Das hat mich dann veranlasst, die Friedenthal Biografie wegzulegen und den Evangelio-Roman in wenigen Tagen durchzulesen.

  • Danke für die Rezi :)

    Es schadet nichts ein paar Begrifflichkeiten aus der Mittelalterlichen Zeit zu kennen. Das mittelalterliche Deutsch ist gewöhnungsbedürftig. Man möchte fragen, ob das Schriftsprache ist oder ob wirklich so geredet wurde.

    Eine kleine Korrektur meinerseits: es handelt sich hier nicht mehr um ein mittelalterliches Deutsch, es ist an der Schwelle zur Neuzeit angesiedelt, und auch die Begrifflichkeiten sind mehr der Neuzeit zuzurechnen als dem Mittelalter (auch wenn der Übergang ein fließender ist). Ich habe in das Buch reingelesen bei Freunden und die Sprache entspricht in etwa dem, was ich aus Gerichtsprotokollen u.ä. aus der Zeit Anfang des 17.Jahrhunderts kenne. Insofern hat sich Zaimoglu sehr an der Echtzeit Luthers orientiert, was er im übrigen auch in einem Gespräch auf der Leipziger Buchmesse, dem ich zugehört habe, bestätigte. :wink:

    Vor ein paar Wochen durfte der Autor das Werk bei Deutschlandradio vorstellen und er las auch eine Textstelle. Ein kluger, sympathischer Mensch und ein interessantes, nicht ganz so leichtes Buch. Zaimoglu meinte übrigens, er habe schon seit einigen Jahren an dem Roman gearbeitet und es wäre Zufall, dass er im Lutherjahr damit fertig geworden sei.

    Mir hat Zaimoglu im Gespräch auf der Buchmesse auch sehr gut gefallen, sehr offen und sympathisch und ich fand es interessant, wie ausgerechnet er auf die Idee kam, sich mit Luther von dieser ganz anderen Sichtweise her zu befassen. Auch dort erzählte er, dass das Erscheinungsdatum nicht so von vornherein geplant war. Das Buch steht bei mir auch auf der Wunschliste. :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Danke für die Aufklärung :)

    gerne. Luther hat sich in seinen geschriebenen Texten übrigens an der Kanzleisprache orientiert, damit möglichst viele Menschen ihn verstehen konnten. Die Menschen damals, die er ja v.a. mit seiner Bibelübersetzung erreichen wollten, haben damals stark Dialekt gesprochen.

    viele Grüße vom Squirrel



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  • Als Lutherroman wird dieses Buch angekündigt, aber wer nun erwartungsvoll darauf hofft, mehr über das Leben und Wirken des Reformators zu erfahren, wird mit dieser Lektüre sicher nicht glücklich. Wer hingegen ein Sprachabenteuer erleben möchte, sollte zugreifen :wink:
    Erzählt wird von einer eher kleinen Zeitspanne: Nachdem Luther auf dem Wormser Reichstag für vogelfrei erklärt wurde, findet er auf der Wartburg im Mai 1521 Zuflucht. Von dieser ersten Zeit, bis er begann, das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, erzählt der Landsknecht Burkhard, Katholik, der Luther im Auftrag des Kurfürsten von Sachsen beschützen soll.
    Zaimoglu hat dafür eine eigene Sprache erfunden, wobei er offenbar versuchte, dem Idiom der damaligen Zeit möglichst nahe zu kommen. Ich habe keine Ahnung, ob bzw. wie gut ihm das gelungen ist - in jedem Fall ist es etwas Außergewöhnliches, wenn auch nicht unbedingt ein Genuss. Die Menschen äußern sich vulgär, derb, brutal und so grobschlächtig, dass mir manchmal fast die Lust am Lesen verging. Erschwerend kommt hinzu, dass es jede Menge Ausdrücke gibt, die vermutlich dem Erfindungsreichtum des Autoren zu verdanken sind. Ein Beispiel: "Junker Georgen, Mönch ohne Kutte, gebannt auf die Felsenfeste Warte, ist ein stößiger Stier, er wütet in der ersten Hitze. Meister Martinus speit aus den bösen Geist in prasselnden Stücken. Sein Maul fließt über, denn das Evangelium sticht ihn." Keine Frage, es ist beeindruckend wie dieser Stil konsequent von Anfang bis Ende fortgeführt wird, aber ein richtiges Lesevergnügen stellte sich bei mir nicht ein.
    Was vielleicht auch an dem Fehlen einer guten und spannenden Geschichte liegt. Burkhard beschreibt neben Luthers Ringen mit seinen inneren Dämonen das Umfeld der Wartburg; die Menschen, wie sie leben, leiden und lieben. So ist das Buch mehr ein mittelalterliches Gesellschaftspanorama als ein Roman über den Reformator.
    Wem Sprache wichtiger ist als eine Geschichte, wer sich für Sprachexperimente begeistern kann, wird an diesem Buch seine Freude haben. Die Anderen sollten vorher besser einen Textauszug lesen, um keine Enttäuschung zu erleben.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling