Lucy Lum - Gefangene der Löwenstadt / The Thorn of Lion City

  • Worum es geht
    Lucy Lum (mit chinesischem Namen Miew-yong) wurde 1933 in Singapur als drittes von sieben Kindern geboren. Lucys Großmutter Popo regiert die Familie mit eiserner Hand, unter deren Hartherzigkeit und Grausamkeit besonders die Enkeltöchter zu leiden haben. Einziger Lichtblick in Lucys Leben ist der liebevolle und geduldige Vater, der der Tochter viel von der eigenen Mutter erzählt. Ihr größter Wunsch war es, dass der Sohn kein Bauer werde, sondern einmal eine gute Anstellung erhalte.
    Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Japaner die britische Kolonie, worunter die chinesische Bevölkerung besonders zu leiden hatte. Lucys Vater muss für die brutalen Machthaber als Übersetzer arbeiten, während er zu Hause von der Ehefrau und der Schwiegermutter drangsaliert wird.


    Meine Gedanken und Eindrücke
    „Eine Jugend in Singapur“ heißt der Untertitel des Buches, und selbst als ich den Klappentext gelesen hatte, habe ich nicht mit einem so schrecklichen Bericht gerechnet. Erst bei genauerem Betrachten des Fotos auf dem Cover kann man das Leid in den ernsten Kindergesichtern erahnen.
    Aberglauben und die Rückständigkeit der in alten chinesischen Familientraditionen verhafteten Großmutter lassen das Leben der kleinen Miew-yong und ihrer Schwestern von Anfang an zu einem Albtraum geraten. Schläge und schlimmste Misshandlungen sind an der Tagesordnung, den Kindern werden für ihr Alter viel zu schwere Arbeiten aufgebürdet. Miew-yong etwa hat die Pflicht noch vor Unterrichtsbeginn mit dem Rad auf den Markt zu fahren und den Familieneinkauf zu erledigen. Eine ihrer unglücklichen Schwestern muss täglich stundenlange Bußübungen für Verfehlungen aus einem früheren Leben verrichten, wodurch ihre sanfte Wesensart völlig zerstört wird. Die Brüder hingegen bleiben von allen Strafen verschont.
    Weder Mutter noch Großmutter gehen irgendeiner Arbeit nach, nicht einmal der Hausarbeit. Zu diesem Zwecke halten sie sich statt bezahlter Dienerinnen Sklavinnen, Mädchen, die von ihren sehr armen Familien an die bessergestellten verkauft werden. Miew-yongs Vater hat weder bei der Erziehung noch in finanziellen Belangen das geringste Mitspracherecht. Die Großmutter ist zwar sehr stolz auf den Schwiegersohn in Regierungsdiensten, dennoch sieht sie in ihm nicht mehr als eine Geldquelle. Mit seinem Gehalt werden auch noch andere Verwandte und viele Freundinnen Popos verköstigt.
    Dabei beginnt das Buch relativ harmlos mit den Erzählungen des Vaters über die eigene glückliche Kindheit. Als die Mutter stirbt, muss er auf Wunsch des Stiefvaters das Haus verlassen. Das Unglück beginnt mit seiner Heirat, als die despotische Schwiegermutter das Zepter übernimmt. Doch danach gibt es für den Leser keine Erholungspause mehr, und zeitweise fühlt man sich bei der Schilderung der „Erziehungsmethoden“, die Mutter und Großmutter anwenden, ins tiefste, dunkelste Mittelalter zurückversetzt.
    Die im Klappentext angekündigten Schrecken während der Besatzungszeit treten im Vergleich zur häuslichen Tragödie, die Miew-yong erdulden musste, nicht besonders hervor.
    Mich hat das Buch zutiefst berührt, und sehr bedrückt zurückgelassen. Als wichtiges Zeitzeugnis macht es auf den Leidensweg vieler chinesischer Mädchen aufmerksam, die in ihrem familiären Umfeld unglaublicher physischer und psychischer Gewalt ausgeliefert waren. Lucy Lum verleiht ihnen mit ihrem schonungslosen Bericht eine Stimme und ein Gesicht.