Karine Tuil - Die Zeit der Ruhelosen / L'Insouciance

  • Kurzmeinung

    drawe
    Typisierte Figuren stehen als Stellvertreter für aktuelle Probleme wie Rassismus, Antisemitismus etc.; trotzdem spannend
  • Kurzmeinung

    Hypocritia
    superleicht lesbar, wichtige Themen, die in gewisser Weise in Ambivalenz zu extremer Klischeeisierung stehen
  • Der Großteil Europas blickt voller Furcht auf Frankreich, wo am 23. April 2017 die Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Rechtspopulistin Le Pen die Wahl gewinnen könnte und das zweite Land wäre, das den Ausstieg aus der EU beschließen würde. Frankreichs Gesellschaft steht kopf und allerorts wird diskutiert, wie es soweit kommen konnte.
    In einem ähnlichen Zustand befinden sich auch die Protagonisten dieses Buches der französischen Autorin Karine Tuil, die alle drei glaubten, sich in ihrem Leben eingerichtet zu haben, das ewig so weitergehen würde: Francois Vély, ein reicher brillianter Manager, dem nach einem scheinbar erst einmal eher nebensächlichen Skandal plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Osman Diboula, ein farbiger Sozialarbeiter, der in der Politik Karriere machte und plötzlich abserviert wird. Und Romain Roller, Soldat, der nach diversen Auslandseinsätzen nach seinem Afghanistanaufenthalt völlig gebrochen zurückkehrt und ein Verhältnis mit der Frau von Vély beginnt, ohne dies am Anfang jedoch zu wissen.
    Es sind drei völlig unterschiedliche Konflikte, in denen diese Männer stecken; doch was sie verbindet, ist ihr jeweils einsamer Kampf, sich daraus zu befreien und immer wieder einen neuen Rückschlag zu erleiden. Denn selbst als sich Alles (mehr oder weniger) in Wohlgefallen aufgelöst hat, wird es wohl nur ein vorübergehender Ruhezustand sein. Die Unsicherheiten und Ängste werden sie ein Leben lang begleiten - die Sorglosigkeit (so der Originaltitel) ihres bisherigen Lebens ist vorbei.
    Tuil stellt ein detailliertes Abbild eines Teils der Gesellschaft dar, wobei es sich bei Osman Diboula und Francois Vély um eher typisch französische 'Vertreter ihrer Art' handelt. Diboula hat sich aus den Banlieues von Paris auf die Ebene der Karrieristen der französischen Eliteuni ENA hochgearbeitet; etwas, das in dieser Form in Deutschland nicht existiert. Vermutlich ebensowenig wie dass ein Wirtschaftsboss wie Vély wegen seiner jüdischen Abstammung sozial 'hingerichtet' würde. Dennoch lässt sich dieser Roman in Vielem sicherlich auf Deutschland ebenso wie auf andere Länder übertragen: Die Fähigkeiten der modernen Medien, Menschen in kürzester Zeit zu demontieren und zu ruinieren; wie Macht Menschen korrumpiert und sie rücksichtslos alles hinter sich lassen, was ihnen einmal wichtig war; wie der Krieg Menschen zerstört - und zwar nicht nur im physischen sondern auch im psychischen Sinn. Es ist kein schönes Bild, was Karine Tuil hier entwirft - aber auf jeden Fall ein erhellendes, das vielleicht ein bisschen Licht in das Dunkel bringt: Weshalb die Welt so ist wie sie ist.
    Nur eine Frage lässt mir keine Ruhe: Weshalb sind die drei Hauptfiguren dieser Autorin Männer? Kommen Frauen mit der nicht mehr vorhandenen Sorglosigkeit besser klar? Sind sie die ständige Unsicherheit schon länger gewohnt?

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Danke für diese sehr interessante Vorstellung! Ich schleiche um diese Autorin herum, von der hier in Frankreich tatsächlich viel geredet wurde; allerdings habe ich noch nichts voni ihr selber gelesen oder mich intensiver mit ihr befaßt.

    Der Großteil Europas blickt voller Furcht auf Frankreich, wo am 23. April 2017 die Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Rechtspopulistin Le Pen die Wahl gewinnen könnte und das zweite Land wäre, das den Ausstieg aus der EU beschließen würde. Frankreichs Gesellschaft steht kopf und allerorts wird diskutiert, wie es soweit kommen konnte.



    In einem ähnlichen Zustand befinden sich auch die Protagonisten dieses Buches (...)

    Das ist/wäre eine sehr interessante Parallele zwischen dem politischen Zustand Frankreichs, bzw Europas, UND andererseits dem Tun und Treiben von Protagonisten eines Romans.


    Danke!

  • Das ist/wäre eine sehr interessante Parallele zwischen dem politischen Zustand Frankreichs, bzw Europas, UND andererseits dem Tun und Treiben von Protagonisten eines Romans.

    Die Protagonisten stehen sicherlich nicht für den Großteil der französischen Bevölkerung, dazu sind sowohl Diboula wie auch Vély viel zu weit oben in der Hierarchie angesiedelt. Und auch heimkehrende Soldaten entsprechen nicht gerade dem Durchschnitt. Doch wenn schon diejenigen aus der Oberschicht nicht mehr das Gefühl der Sorglosigkeit haben können, wie sieht es dann erst bei denen aus, die tagtäglich fürchten müssen, ihre Existenzgrundlage zu verlieren?

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Schon das Cover gefällt mir. Die verschwommenen Gestalten spiegeln gut die handelnden Personen wieder.
    Die Geschichte wird aus Sicht von Romain Roller, ein aus Afghanistan zurückgekehrten Soldaten, Francois Vely, Chef eines großen Konzerns, und Osman Diboula, ein schwarzer Politiker der den Aufstieg aus den Pariser Vororten geschafft hat. Die Personen haben scheinbar nichts mit einander zu tun.
    Im Laufe des Buches nähern sich die Schicksale der Akteure immer mehr an.
    Es wird vom rasanten Aufstieg und Fall der Protagonisten erzählt.
    Francois ist erst ein erfolgreicher Firmenchef und wird nach einen missglückten PR-Auftritt als "dreckiger Jude" verunglimpft. Genauso geht es Osman. Obwohl er ein erfolgreicher Politiker ist, wird er doch immer zuerst als Schwarzer gesehen und er gehört nicht richtig dazu.
    Romain kommt als psychisches Wrack aus Afghanistan wieder. Er stürzt sich in eine Affäre mit Marion Decker, der Ehefrau von Francois. Sie wird zwischen den Männern hin und hergetrieben.
    Die Akteure sind getrieben in der Sehnsucht nach Macht, Erfolg und Liebe.
    Das Buch spiegelt den Zustand unserer Gesellschaft gut wieder.
    Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Obwohl das Thema nicht unbedingt zu meinen Beuteschema gehört, hat mich das Buch schon nach den ersten Seiten nicht mehr losgelassen.

    Sub: 5539:twisted: (Start 2024: 5533)

    Gelesen 2024: 10

    gelesen 2023: 55/ 2 abgebrochen / 26075 Seiten

    gelesen 2022: 65 / 26292 Seiten

    gelesen 2021: 94 / 1 abgebrochen / 35469 Seiten


    :montag: Rafik Schami - Wenn du erzählst erblüht die Wüste

    :montag: Eva Almstädt - Akte Nordsee- Der Teufelshof


    Lesen... das geht 1 bis 2 Jahre gut, aber dann ist man süchtig danach.

  • Verlagstext

    Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit.

    Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit. Der Aufstieg des brillanten Managers François Vély scheint unaufhaltsam. Bis seine Exfrau sich aus dem Fenster stürzt, als sie erfährt, dass er wieder heiraten will. Der Tragödie folgt die Entdeckung, dass seine neue Lebensgefährtin in eine Affäre mit einem Offizier verstrickt ist, der völlig traumatisiert aus Afghanistan heimkehrt. Außerdem wird Vély ein Mediencoup zum Verhängnis, man bezichtigt ihn des Rassismus und Sexismus. Als er persönlich und beruflich am Ende ist, ergreift ausgerechnet der Politiker Osman Diboula Partei für ihn – dabei ist Diboula bekannt als Wortführer gegen eine weiße gesellschaftliche Elite. Wenige Wochen später kommt es im Irak zu einer Begegnung aller Beteiligten, die für Vély fatale Konsequenzen hat. - Nominiert für den Prix Goncourt, wochenlang auf der Bestsellerliste - eine der relevantesten französischen Autorinnen. - Ein kluger, hochaktueller Gesellschaftsroman über den gnadenlosen Wettbewerb um Macht und sozialen Aufstieg.


    Die Autorin

    Karine Tuil, geboren 1972, ist promovierte Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Bücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris. Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman „Die Gierigen“, welcher derzeit fürs Kino verfilmt wird.

    Interview


    Inhalt

    In einem Hotel auf Zypern kreuzen sich die Lebenswege mehrerer Franzosen. Romain Roller kehrt voller Schuldgefühle von einem kurzen Einsatz in Afghanistan zurück, der zwei seiner Männer das Leben kostete und einen zum lebenslangen Pflegefall machte. Marion Decker hat als junge Journalistin den Einsatz begleitet. Osman Diboula, ein charismatischer Politiker, Kind des sozialen Brennpunktes Clichy-sur-Bois und beflissenes Aushängeschild des französischen Präsidenten, ist in offizieller Mission auf Zypern. Osman war zuhause in Frankreich der Sozialarbeiter der Jungs und hat es seitdem zum Präsidentenberater gebracht. Der Zwischenaufenthalt auf der Insel soll wie eine Dekompressionskammer auf die Kriegsheimkehrer wirken. Hauptsächlich soll jedoch vor der Öffentlichkeit verborgen werden, wie leichtfertig vorbereitet und miserabel ausgestattet Soldaten in den Einsatz geschickt wurden. Alle beteiligten Personen erleben im Folgenden einen persönlichen oder beruflichen Absturz, der wie eine Lawine weitere Angehörige mitreißen wird.


    Romain, dessen Frau ihm seit ihrer Jugend stets den Rücken freigehalten und alle Belastungen klaglos weggesteckt hat, verliebt sich auf dramatische Weise in Marion. Marions Ehe mit einem der mächtigsten Wirtschaftsbosse Frankreichs befindet sich in der Krise. Die Autorin eines erfolgreichen Romans muss erkennen, dass es in François Vélys Kreisen nur am Rande um Liebe geht. Wichtiger sind der korrekte Code, das Gespür für soziale Nuancen – und in Marions Fall, wer ihren Lebensunterhalt sichert, ihre persönliche „Komfort-Zone“. Die sozialen Gräben zwischen altem Wohlstand und jungem Ehrgeiz sind zentrales Thema des Buches. Osman Diboula ist als Kind von Einwanderern aus der Elfenbeinküste in einem sozialen Brennpunkt geboren. Die Unruhen von 2005 waren Geburtsstunde seiner politischen Karriere. Vom Streetworker gelangte er als Quoten-Migrant mit einem einzigen Karriereschritt direkt in den Elysée-Palast. Über ihn und seine Partnerin Sonia Cissé, ebenfalls Kind eines afrikanischen Vaters, wird bereits gewitzelt, sie seien Frankreichs zukünftige Obamas. Doch die Codes der Oberschicht grenzen Osman aus, schaffen ein mentales Ghetto für ihn.


    Bisher war François stets Lieblingskind des Schicksals, obwohl sein Vater noch mit dem Familiennamen Levy als Widerstandskämpfer in Buchenwald inhaftiert war. Ein Moment der Instinktlosigkeit bringt nicht nur François‘ gesamten großbürgerlichen Kosmos zum Absturz, sondern macht ihn weltweit zum Paria. Aus der beruflichen wie privaten Katastrophe scheint François‘ Scharfsinn ihn zum ersten Mal nicht retten zu können. Auch Osman gleitet in atemberaubendem Tempo aus seiner Komfortzone, ausgelöst durch einen Moment der Unbeherrschtheit. Osman kann jedoch auf kein doppeltes soziales und finanzielles Netz zurückgreifen, wie Mitglieder der Eliten. Wenn er seinen Job als Präsidentenberater verliert, fallen mit ihm seine betagten Eltern, die von der Unterstützung durch ihren Sohn abhängig sind, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben. Es fällt auch Sonia, die bis dahin geglaubt hatte, sich aus eigener Kraft durch Leistung hochgearbeitet zu haben. Und wieder kommt es zu einem für die französische Klassengesellschaft ungewöhnlichen, schicksalhaften Zusammentreffen der Beteiligten …


    Fazit

    Tuils Figuren stehen stellvertretend für eine Gesellschaft zementierter Klassenschranken, für drängende soziale Konflikte, nicht nur in Frankreich. Auf welcher Seite des sozialen Grabens jemand geboren wird, scheint über Generationen weiter vererbt zu werden. Osmans Fall empfand ich als den tiefsten Abstieg, weil er erkennen muss, dass er im Kalkül um Macht nur Mittel zum Zweck war. Ohne fachliche Qualifikation wird er der schwarze Junge aus Clichy-sur-Bois bleiben, egal wem er gerade als Aushängeschild dient. Solange es dabei allein um den Machterhalt Einzelner geht, löst Politik keine Probleme, nicht in Clichy-sur-Bois, nicht in Afghanistan oder im Irak.


    Auslöser für Tuils großartigen Roman war ein konkretes Ereignis im Jahr 2008, die Handlung jedoch ist fiktiv. Es geht darin um Macht, Ehrgeiz, Scheitern, versehrt Werden, Identitätskonflikte, pubertäre Rebellion, um den Krieg, die Sprengkraft von religiösem Extremismus, männliche Identität und eine komplexe Gesellschaft, in der ich mich auch als deutsche Leserin wiederfinden kann. Karine Tuils Einführung ihrer miteinander verketteten Personen zieht augenblicklich in die Handlung hinein. Die Tochter von Einwanderern charakterisiert ihr Personal pointiert wie in einer umfassenden psychologischen Analyse, trennt dabei Selbsttäuschung von Realität. Stilistisch sitzen ihre Charakterisierungen auch in der Übersetzung ins Deutsche wie maßgeschneidert.


    Ein komplexer Gesellschaftsroman, nichts für zartbesaitete Leser, intensiv und spannend bis zum Schluss.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow