Hans Frick - Breinitzer / Breinitzer oder Die andere Schuld

  • Der Autor (Wikipedia): Der am 3. August 1930 in Frankfurt am Main geborene Hans Frick war ein deutscher Schriftsteller, Autor von Romanen, Hörspielen und Drehbüchern. Er wuchs als unehelicher Sohn einer Fabrikarbeiterin und eines jüdischen Kunsthändlers bei seiner Mutter auf. Als „Halbjude“ lebte er während der Zeit des Nationalsozialismus in ständiger Angst vor Verfolgungen. Von 1936 und 1944 besuchte er die Volksschule in Frankfurt und machte anschließend eine kaufmännische Lehre. Danach übte er verschiedene Tätigkeiten aus, war unter anderem Hilfsarbeiter, Büroangestellter und Handelsvertreter. Ab 1964 lebte er als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main und in Portugal. Seit 1970 war er in zweiter Ehe verheiratet. Nachdem sein zehnjähriger Sohn bei einem Verkehrsunfall um Leben gekommen war, geriet Frick in eine tiefe persönliche Krise, die zur Alkoholabhängigkeit führte. Nach Erscheinen des Romans "Die Flucht nach Casablanca" im Jahre 1978 gab Frick das Schreiben auf und zog nach an die Algarve in Portugal, Ende der 1980er-Jahre nach Spanien. Er starb nach längerem, schweren Leiden am 3. Februar 2003 in einem Krankenhaus im spanischen Huelva.


    Klappentext (Rowohlt-TB): "Sein Roman ist ein wichtiges und aufregendes Versprechen", schrieb Erich Maria Remarque im "Spiegel" über Hans Fricks "Breinitzer"-Roman. Viele Jahre später veröffentlichte der Autor die vorliegende, ergänzte Neufassung. Sein Held, der Arzt Professor Dr. Max Breinitzer, hat unzählige Morde im Dienste der Nazis auf dem Gewissen. Als er lange nach dem Krieg bereut und einen Prozess gegen sich und andere verlang, hat man sich längst im Vergessen der KZ-Greuel und der NS-Herrschaft eingerichtet. Die Behörden verweigern ihm ein Verfahren und tun sein Geständnis als Erfindung eines Geisteskranken ab. Ein an Kafka erinnernder, zu Unrecht vergessener, großer deutscher Roman.


    Die Urfassung des Romans erschien 1965 als "Breinitzer oder Die andere Schuld" im Jahr 1965 beim Verlag "Rütten & Loening" in München. Diese Ausgabe umfasst 243 Seiten. Im Jahr 1979 erschien bei "Rogner und Bernhard" in München eine Neufassung mit 285 Seiten, die 1980 auch im Ostberliner Aufbau-Verlag veröffentlicht wurde. Die Taschenbuchausgabe im Rowohlt-Verlag umfasst 266 Seiten. Welche Unterschiede zwischen den beiden Fassungen bestehen, ist mir leider nicht bekannt, allerdings scheint in der Version von 1965 einer der alten Bekannten der Hauptfigur als Zuhälter zu arbeiten, was in der von mir gelesenen Neufassung über keine Nebenfigur berichtet wird.



    Bisher mein Buch des Jahres! :applause: Der Debütroman des vergessenen, deutschen Schriftstellers, der seinerzeit bei seiner Erstveröffentlichung von Erich Marie Remarque überschwänglich gelobt wurde: Den KZ-Arzt Max Breinitzer plagt im Nachkriegsdeutschland sein Gewissen. Er will sich der Justiz stellen, stößt aber überall auf taube Ohren. Wie sich dem alten und sterbenskranken Mann Wirklichkeit, Wahn, Erinnerungen und Albträume überlappen, so dass einem auch als Leser ständig der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, ist unglaublich gut. Man weiß nicht was man fühlen soll und glaubt die eigene Position ständig bedroht. Nichts ist gewiss. Das, was sicher ist, endet maximal bei einer Armeslänge. Bis man sich wieder am Treppengeländer festhalten muss. Und im Inneren wohnt nur Schuld. Etliche grandiose Szenen, die die völlige und gewissermaßen kafkaeske Vereinzelung der Hauptfigur gegenüber einer übermächtigen, ihm unverständlichen Ordnung verdeutlichen. Eine Welt, auf dem rechten Auge blind, die sich um das eigene Aus- und Vorankommen sorgt. Schlafende Hunde bitte nicht wecken! :wink:


    Die Geister der Vergangenheit tauchen auf, eine lange Reihe hingemordeter Kinder, während Breinitzer in seinem heruntergekommenen Mansardenzimmer sein seitenlanges Geständnis schreibt und alte Beweisfotos von Erschießungen und Menschenversuchen zusammenhält. Die Krankheit lässt ihn ständig ohnmächtig werden, gleichzeitig wird er von starkem Verfolgungswahn umgetrieben, da er mit seinem Geständnis auch andere an den Pranger stellen würde, mit denen er früher gut bekannt war, und die, im Gegensatz zu ihm, den Skrupel plagen, auch im Nachkriegsdeutschland gehobene Positionen einzunehmen verstanden. Breinitzer dagegen ist verlottert, wird wiederholt für einen Penner gehalten und aus Restaurants geworfen. Wohl nicht ganz richtig im Kopf. Verhindet sein Vermieter, dass ihm Kohlen geliefert werden? Bereitet sein reicher und einflussreicher Bruder schon die Einweisung in eine geschlossene Anstalt vor? Ist die offensichtlich zufällige Begegnung mit dem Richter van Gayer in Wahrheit arrangiert, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, seine Schuld und die Schuld anderer öffentlich zu bekennen? Breinitzers Geständnis zöge weite Kreise und risse etliche gute Bekannte des Richters mit in den Strudel. Eine Krähe hackt der anderen doch keine Auge aus!


    Was davon ist Wirklichkeit und was Einbildung Breinitzers? Was verhindert sein Geständnis? Wenn man nicht mehr weiß, was man glauben kann, und nicht mehr glaubt, was man wissen kann, werden die Möglichkeiten zum Handeln schnell begrenzt! 8-[


    Wenn Breinitzer also nicht vor ein Gericht gestellt wird ( ... haben doch alle damals nur Befehlen gehorcht! War eben eine andere Zeit damals...), dann fantasiert er sich das Tribunal selbst zusammen. Und der Ankläger ist somit auch der mit der größten Schuld im Saale. Aber Strafe ist nur dann sinnvoll, wenn sie der Schuldige völlig annehmen kann und sie zur Läuterung und Umkehr verinnerlicht. Insofern ist für die Hauptfigur bei seinem innerlichen Strafprozess wohl auch nicht weniger als die Höchststrafe zu erwarten. So dass der Verurteilte im Grunde zum Henker werden muss. Doch das Ende mit Schrecken wird verpuffen wie eine Anklage ohne Überzeugungskraft. Des Kaisers neue Kleider. Noch ein Verwirrter. Und die Skrupellosen machen weiter Geschäfte … :rambo:


    Zitat

    Sie haben es getan, und sie werden es jederzeit wieder tun, wenn es ihnen gestattet wird! (S. 11)

    Bei dem „wenn es ihnen gestattet wird!“, läuft mir jedes Mal ein Schauer den Rücken herunter. :cry: Ein irritierendes, komplexes und schonungsloses Buch über die deutsche Vergangenheitsbewältigung, Schuld und Sühne und eine Gesellschaft, die wegschaut. :thumleft::pray: Wenn die Wurzeln des faschistischen Übels nicht restlos beseitigt sind, kann es jederzeit wieder losgehen. Doch neben dieser gesellschaftlichen Facette, bleiben auch die eher individuellen, psychologischen Fragen im Raum: Was will man mit einem Geständnis erreichen? Was mit den Strafen des Rechtsstaats?


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


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    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Hier noch eine Bertelsmann-Buchgemeinschaftsausgabe der Urfassung "Breinitzer oder Die andere Schuld", wohl im Jahr 1967 herausgegeben.

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  • Vielen Dank für die Rezension - ist direkt auf meinem Wunschzettel gelandet :thumleft::thumleft::thumleft:

    :study: Candice Fox - Crimson Lake

    :study: Heike B. Görtemaker - Hitlers Hofstaat

    :musik: C. J. Sansom - Feindesland



    Gelesene Bücher 2023: 15

    Gelesene Bücher 2024: 3

  • Mir ist soeben die Urfassung des Romans zugeschickt worden (eine Buchgemeinschafts-Ausgabe ohne Datum). Ein kurzer Blick hinein (Anfang und Ende) zeigt, dass Frick den Roman wohl völlig neugeschrieben und umgestellt hat. Da sollte ich wohl mal ran und die Urfassung möglichst schnell lesen, bevor meine Erinnerung an die Neufassung verblasst. :-,


    Der Hans-Joachim Kulenkampff gewidmeten Urfassung ist ein Kafka-Zitat vorangestellt:

    Zitat von Franz Kafka

    Der Prozess hört zwar nicht auf, aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei wäre.

    Der dem Andenken Fritz Bauers gewidmeten Neufassung ist ein Laotse-Zitat vorangestellt:

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