Matthias Lohre - Das Erbe der Kriegsenkel: Was das Schweigen der Eltern mit uns macht

  • Kriegskinder sind Menschen, die zur Zeit des 2. Weltkrieges aufgewachsen sind. Kriegsenkel sind die Kinder dieser oft unbewusst vom Krieg traumatisierten Menschen.


    Eine Kindheit in Angst, auf der Flucht, ohne Väter, die im Krieg starben, oder nach dem Krieg verschlossen zurückkehrten und ein Fremdkörper in der Familie blieben. Kinder deren Eltern sich mit Emotionen und Feingefühl schwer taten, weil sie es selber nicht kennengelernt haben und so nicht an den Nachwuchs weitergeben konnten. (Schon im ersten Weltkrieg wurden Kinder auf Gehorsam und emotionale Härte getrimmt). Fehlgeleitete Erziehungsideologien in den 30er und 40er Jahren, die eine Kinderseele zu brechen vermochten. Bombenangriffe, Zerstörung, Hunger, Verluste von geliebten Menschen, emotionale Kälte. All das haben Kinder in den Jahren des zweiten Weltkrieges erlebt.


    Keine gute Zeit um unbeschwert aufzuwachsen. Dass diese Kinder traumatisiert wurden wissen sie als Erwachsener aber oft nicht. „Früher war das normal. Damals gab es ja nichts. Wir hatten es nicht so gut wie ihr. Stell dich nicht so an“.
    Trotz vieler Entbehrungen haben die Kriegskinder es geschafft eine eigene Familie zu gründen. Vielleicht auch mit dem Ziel es besser als ihre Eltern zu machen. „Ihr sollt es mal besser haben als wir“ hörten die Kinder der 60er und 70er Jahrgänge nur zu häufig. Aber wie man es besser macht war deren Eltern einfach nicht in die Wiege gelegt. Die sogenannten „Kriegsenkel“ waren die Folge.


    Warum nun hat sich für die Nachkriegs Generation ein solcher Begriff geprägt?
    Eigentlich sind diese Krigsenkel gut behütet und in Friedenszeiten aufgewachsen. Aber dennoch ist da eine unbewusste Last, die man nicht ergründen kann. Irgend etwas stimmt nicht, aber was das ist kann man nicht benennen. Ständige Unsicherheit, kein Lebensziel vor Augen, immer nur Mittelmaß, nie auffallen, oft Kinderlosigkeit, weil man den Wert der Familie nicht zu schätzen lernte. Keine Nestwärme, selten Umarmungen, kaum ein Lachen. All das und noch viel mehr zeichnet Teile dieser Generation im negativen Sinne aus. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es „den“ Kriegsenkel nicht und jeder hat ein anderes Päckchen zu tragen. Andere Kinder dieser Zeit sind völlig unangetastet von den Kriegstraumata aufgewachsen und können die Kriegsenkel-Problmatik gar nicht nachvollziehen.


    Der Journalist Matthias Lohre allerdings kann es nur zu gut. Er ist ein Kriegsenkel. Er wuchs in ständiger Angst seinen verschlossenen Vater auf die Palme zu bringen auf. Nie laut lachen, nie laut spielen, das könnte den Vater ja in seiner Ruhe stören, die er so dringend brauchte.
    Beruflich ist Lohre auf Leistung getrimmt ohne es zu merken. Immer im Hinterkopf, dass es ja doch nie reicht. Die eigenen Ansprüche rührten daher, dass er dachte, er dürfe seine oft traurige Mutter nicht noch unglücklicher machen. Wesentliche Faktoren, die ihn das Gefühl für sich selbst verlieren ließen, denn er versuchte immer Halt für die Eltern zu sein und sie nicht zu enttäuschen.
    Nicht die Eltern trösten ihre Kinder, sondern die Kinder trösten ihre Eltern. Verkehrte Welt mit ungeahnten Schäden an der Kinderseele.


    Matthias Lohre hat sich auf Spurensuche begeben. Woher rührt das Verhalten der Eltern? Was haben sie persönlich in der Kriegszeit erlebt? Wurden auch sie traumatisiert? Erklärt der Krieg die innere Heimatlosigkeit Lohres? Ständig Höchstleistung aber doch nie zufrieden? Lohres Eltern sind beide verstorben. Ein Gespräch über diese Themen war nicht mehr möglich.
    Lohre wollte sich mit seiner Unwissenheit nicht abfinden und befragt Familienmitglieder um den Nebel der Vergangenheit zu lichten. Er begab sich auf die Reise in sein Heimatdorf um sich selbst dort zu erspüren. Er sprach mit seinem Onkel über den Vater, mit seiner Schwester über seine Kindheit, mit Psychologen über die Thematik, denn jeder hat seine Perspektive. Und so breitet sich ein Teppich von vollkommen neuen Einsichten vor Lohre aus, die ihm Verständnis für die Eltern und einen Friedensschluss mit seiner Kindheit bringen, auch wenn nicht alles vergeben und vergessen sein kann.


    Meine Meinung:
    Matthias Lohre schafft es einerseits aufgrund seiner ganzen journalistischen Erfahrung seine persönliche Spurensuche wie eine Geschichte mit der nötigen Distanz zu transportieren. Auf der anderen Seite weiß ich, dass es sein ganz persönliches Schicksal ist, das er versucht aufzuarbeiten.
    Dieser Spagat zwischen Information und Emotion ist ihm sehr gut gelungen.
    Es gab keine Seite auf der ich nicht einen Kloß im Hals gehabt hätte. Zum Schluss hin schreibt er sehr bewegende Worte an seine Eltern, die alles auf den Punkt bringen und mich zu Tränen rühren.


    Fazit:
    Wie oft ähneln sich die Beschreibungen einer diffusen „Kindheit im Nebel“. Wie froh kann man andererseits über die Gewissheit sein, dass es nicht für jeden so schlimm sein muss, wie dankbar kann man sich schätzen, wenn man überhaupt nicht betroffen ist.
    Die Emotionen, die dieses Buch aufwühlen sind nicht zu unterschätzen. Aber sie sind auch extrem wichtig für Betroffene.
    Sein Buch ist ein Apell das Gespräch mit den Verwandten zu suchen solange es noch geht, denn „Erinnerung fängt mit Reden an“ und Aufarbeiten vielleicht auch.
    Mich hat das Buch extrem berührt und ich sehe viele Menschen, gerade die ältere Generation, mit ganz anderen Augen und mit höchstem Respekt vor ihrer Lebenserfahrung.

    Liebe Grüße, Tardigrada


    :study: "Moja Igra" von Luka Modrić (Autobiografija)

    :bewertung1von5: 2018 gelesen: 23 :bewertung1von5: 2017 gelesen: 120 :bewertung1von5: 2016 gelesen 140 :bewertung1von5:2018 - 2019 Leseflaute

  • Herzlichen Dank!


    Eine ganz tolle Rezi zu einem echt wichtigen Buch. Ich fühle mich als '63iger total betroffen von diesem Thema: ebenfalls Kriegsenkel, aber irgendiwe auch "mittendrin". Ich hatte selber lange damit zu tun, mich mit gewissen Gegebenheiten abzufinden, und sei es schlicht die Tatsache, dass sich meine Eltern nur durch die Kriegswirren und - vertreibungen haben kennenlernen können.


    Das Buch kommt unverzüglich auf meine Wuli!

  • Ein sehr interessantes Thema und eines, bei dem sich wirklich die Frage stellt, wer aus der 60er/70er Generation wie betroffen ist. Meine Eltern wurden in dem Jahr nach Kriegsende geboren, in einer trotz des Krieges vergleichsweise "heilen" ländlichen Umgebung. Sie hatten daher eine andere Art, mit dem Krieg umzugehen, eher dieses "Wie konnte es soweit kommen?". Dementsprechend gab es bei uns im Haus (frei zugänglich) auch sehr viel Literatur über die Judenverfolgung, was mich sehr stark prägte.
    Da war es eher der Großvater, der immer zu uns allen vorwurfsvoll sagte: "Dass ihr noch lachen könnt!"
    Beide Verhaltensweisen haben für mich als Quasi-Kriegsenkel dazu geführt, sprichwörtlich, dem Frieden nicht zu trauen. Jedes politische vermeintlich noch so geringe Beben beobachte ich mit Sorge.


    Und Deine Aussage @tardigrada, das Gespräch zu suchen, solange die Familenmitglieder noch leben, kann ich nur unterschreiben.
    Danke für die schöne Rezi!

  • Danke für die tolle Rezi, @tardigrada !
    Ich bin ja auch so ein Kriegsenkel. Meine Eltern waren bei Kriegsende knapp 13 (Vater) und 7 Jahre (Mutter) alt. Bei uns wurde aber über dieses Thema nie geschwiegen auch nicht von Seiten der Grosseltern aus. Da gab es auch nichts zu verschweigen da wir keine Nazis in der Familie hatten. Da war nicht mal jemand in der Partei. In den Familien wo das anders war wurde mit Sicherheit lieber geschwiegen als geredet.
    Mich hat das alles immer sehr interessiert was sie erzählt haben. Aiuch wenn das oftmals sehr harter Tobak war. Leider sind nun alle tot, ich kann niemanden mehr dazu befragen.


    Und Deine Aussage @tardigrada, das Gespräch zu suchen, solange die Familenmitglieder noch leben, kann ich nur unterschreiben.

    Da schliesse ich mich an !

  • Interessanter Buchtip, danke! Ich glaube auch, dass sich da ganz viel über Jahrzehnte und Generationen hinweg auswirken kann.

    Da war es eher der Großvater, der immer zu uns allen vorwurfsvoll sagte: "Dass ihr noch lachen könnt!"

    Wie schrecklich für Euch Kinder!


    Bei uns wurde wenig vom Krieg gesprochen, aber er wurde auch nicht totgeschwiegen. Er hat vor allem die Familie meines Vaters geprägt, mein Opa ist in Russland umgekommen, meine Oma hat ihre beiden noch sehr kleinen Söhne alleine großgezogen und nie wieder geheiratet. Nazis waren meine Großeltern ganz sicher nicht, ich kann mich noch an die Verachtung in Omas Stimme erinnern, wenn sie davon erzählte, wie sie das Haus an der Dorfhauptstraße manchmal mit Hakenkreuz beflaggen musste.


    Mein Opa mütterlicherseits hat den Krieg ohne Blessuren überlebt (dürfte aber auch eher in irgendeiner Stabsfunktion tätig gewesen sein, er war damals schon um die vierzig). Er hat jedoch nie über den Krieg gesprochen, nur manchmal von Norwegen als Land.


    Mein Stiefvater, bei Kriegsende 13 Jahre alt, hat ab und an mal was erzählt, ganz selten kam auch mal ein Spruch wie "im Krieg wären wir froh darüber gewesen". Ich habe mir viel angelesen und von meinem Onkel, der historisch sehr interessiert und bewandert war, viel Weiteres gelernt, und ja, auch ich sehe politische Entwicklungen viel schneller kritisch als manche Altersgenossen.

  • Mein Opa mütterlicherseits hat den Krieg ohne Blessuren überlebt (dürfte aber auch eher in irgendeiner Stabsfunktion tätig gewesen sein, er war damals schon um die vierzig). Er hat jedoch nie über den Krieg gesprochen, nur manchmal von Norwegen als Land.

    Mein Opa mütterlicherseits war auch in Norwegen und hat sehr viel darüber gersprochen. Er war allerdings nicht bis zum Schluss dort, hatte eine Verletzung durch einen Granatsplitter erlitten und war dadurch dann nicht mehr kriegstauglich. Er hat von den Schrecken und von den Ängsten gesprochen aber auch sehr viel und oft von den Fjorden Norwegens geschwärmt. Er wollte da imme nochmal hin aber das hat er leider nicht mehr geschafft.

  • Dieses Buch habe ich vor einem halben Jahr gelesen. Es beschäftigt sich mit denen, die im Krieg Kinder waren, also der Generation der Großeltern. Die Erfahrungen von deren Kindern decken sich mit denen der Enkel, allerdings sind die Kinder natürlich noch direkter und schwerer betroffen als die Enkel.
    Aber jede Nachfolgegeneration leidet vor allem an der Sprachlosigkeit. Oft die Betroffenen selbst am meisten, die sich nicht erlauben, über ihr Schicksal zu reden.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)