Benedict Wells - Spinner

  • Die Buchrückseite:


    »Ich habe keine Angst vor der Zukunft, verstehen Sie? Ich hab nur ein kleines bisschen Angst vor der Gegenwart.«
    Jesper Lier, 20, weiß nur noch eines: Er muss sein Leben ändern, und zwar radikal. Er erlebt eine turbulente Woche und eine wilde Odyssee durch Berlin.
    Ein tragikomischer Roman über die Angst, wirklich die richtigen Entscheidungen zu treffen.


    Der erste Satz:


    Ich habe diese eiskalten Hände.


    Meine Meinung:


    In Selbstmitleid suhlend und notorisch lügend


    In vorliegendem Roman geht es um den 20-jährigen Jesper Lier, der seit ungefähr zwei Jahren in einer Berliner Kellerwohnung haust. Wir erleben hierin eine Woche seines Lebens mit, die allerdings ganz und gar keine gewöhnliche ist, sondern eine, die sich "gewaschen" hat. Denn es passieren Dinge, also Jesper gerät in Situationen, die entweder sehr beschämend oder unfassbar, richtig traurig, gefährlich, aber irgendwie auch lustig sind. Ja, es passiert in meinen Augen sogar so viel in diesen sieben Tagen, dass es von den aufwühlenden Gefühlen her bestimmt auch für ein ganzes Jahr gereicht hätte.


    Einer, der an seine Träume glaubt


    Den Protagonisten Jesper Lier zu beschreiben, fällt mir ziemlich leicht, da der Autor ihm recht eigene Charakterzüge zugeschrieben hat. Erstens fällt mit zunehmender Seitenzahl auf, dass Jesper gerne und viel lügt. Schnell erkennt man auch, dass er ein von Wehmut geplagter Typ mit Komplexen ist, der eine große Portion Unsicherheit (Frauen gegenüber) mit sich herumschleppt. Jesper ist Einzelgänger und beschreibt sich selbst als langweilig und traurig. Er verabscheut Menschen, die mutlos sind, ihre Träume aufgegeben haben und nur mehr dem Geld hinterherjagen; Traum- und Phantasielosigkeit kann und will er nicht akzeptieren.


    ~ Alle hatten Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schien Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten. ~
    (S. 99)


    Jespers Alltag und sein aktuelles Leben wirkten auf mich wirklich sehr deprimierend und negativ. Der Protagonist war auch recht gut darin, gewisse Dinge zu ignorieren und einfach wegzuschauen, wenn es um seine Gesundheit und seinen Körper ging, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass er sich selbst überhaupt nicht wichtig nimmt. Erhärtet wird das durch Situationen, in denen er deutlich sein Selbstmitleid und seinen Selbsthass ausspricht - nein, nicht nur ausspricht, sondern sogar ausschreit, so sehr, dass es sogar mir als Leserin weh getan hat.
    Und obwohl er den (für mich absolut nachvollziehbaren und wundervollen) Traum hegt, als Autor sein Geld zu verdienen, und mit »Der Leidensgenosse«, an dem er gut zwei Jahre gearbeitet hat und von dem er vollkommen überzeugt ist, bereits etwas vorzuweisen hat, habe ich für den jungen Mann trotzdem kaum Sympathie aufbringen können. Denn ich empfand Jesper einfach nur als bemitleidenswertes armes Würstchen. Nein, nicht mal liebenswert fand ich ihn, auch nicht zum Ende hin ...


    ~ Wie so viele vor mir hatte ich versucht, in meinem Leben das zu tun, was ich mir am meisten wünschte, und wie so viele vor mir war ich damit gescheitert. ~
    (S. 268)


    Ich habe mich, besonders das erste Drittel, gefragt, was mir der Autor mit Jespers kläglichem Dasein eigentlich vermitteln will. Worum genau soll es in dieser Geschichte denn gehen? Worauf soll das Ganze hinauslaufen? Nun, Jespers Leben wird von Ängsten und Niederschlägen eingenommen und es kristallisiert sich nach und nach heraus, dass es um nachhaltige Lebensveränderungen gehen soll, die getroffen und angegangen werden müssen, denn ansonsten droht ihm der vollständige Bachhinuntergang seines Lebens ...
    Ob und wie Jesper sein Leben endlich in die Hand nimmt, will ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen, aber so viel sei gesagt: das, was in weiterer Folge passiert, hat mich auf alle Fälle wieder etwas versöhnlicher gestimmt, was die Hauptfigur betrifft.


    ~ Doch es gibt Fehler, die notwendig sind. Manchmal muss man ein kleines bisschen sterben, um wieder ein wenig mehr zu leben. ~
    (S. 314)


    Jespers Person umgibt soviel Negativität und immer wieder, in den unterschiedlichsten Situationen, hatte ich ein ganz unheilvolles Gefühl, dass ganz bald etwas Schlimmes passieren wird ... Es hängt fast über der gesamten Geschichte dieses Nachdenkliche, ein wenig Depressive und das hat das Buch für mich nicht gerade zum Highlight gemacht. Nichtsdestotrotz kommt der eine oder andere komische Auflockerungs-Satz ebenfalls vor, sodass das Lesen zu einer ziemlich erträglichen Angelegenheit geworden ist.


    (Weitere Buchzitate findet ihr HIER!)


    4 :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: !

  • „Spinner“ war mein erster Roman des Autors Benedict Wells und dessen Debüt, das er im Alter von neunzehn Jahren schrieb. Protagonist ist der 20-jährige Jesper Lier, der nach dem Abitur von München nach Berlin zieht um seinen Roman, ein Meisterwerk wie er selbst immer wieder behauptet, zu beenden. Während des Schreibens verliert er sich selbst. Hatte er sich überhaupt je gefunden? Jespers Roman umfasst weit mehr als tausend Seiten. Verteilt ist dieser in der ganzen Wohnung, denn Jesper genießt den Eindruck, den sein Werk in seiner kleinen Wohnung vermittelt. Den Eindruck, dass hier ein Genie, ein kleiner Dostojewski, lebt. Umso weiter der Leser in den Roman abtaucht, umso mehr wird ihm bewusst wie verloren Jesper ist. Wir begleiten Jesper durch verschiedene Momente, in welchen er über sich und sein Leben nachdenkt, sich selbst beschimpft oder auch gegenüber seinen Freunden völlig ausrastet. Jesper hat jegliche Orientierung verloren. Durch Alkohol und Lügen hält er sich immerhin gerade so auf den Beinen. Er hat Träume. Vor nichts hat er mehr Angst, als davor zu scheitern und zu enden, wie alle anderen.


    „Ich wachte mit einem Gefühl von kalter Angst auf. Sah mich in einem Studienfach, das ich hasste, in einem Büro, das mich einengte, in einem Beruf, der mich auffraß und mir egal war. Sah, wie ich mir abends ein Fertiggericht zubereitete und mich und meine gescheiterte Existenz verurteilte.“ (S. 223)



    Der Schreibstil des Autors ist einfach zu lesen und sehr authentisch, wohl auch, weil Benedict Wells in Jespers Alter war, als er den Roman schreib. Das Buch ist sehr melancholisch und vermittelt die Gefühle, wie sie wohl viele junge Erwachsene in Jespers Alter kennen dürften: Orientierungslosigkeit, Druck der Gesellschaft (und der eigene Druck), das „mehr wollen“, Angst. Dadurch wirkt der Roman sehr authentisch und glaubwürdig und geht umso tiefer. Doch auch witzige Stellen gibt es in diesem Roman zu Genüge. Hierfür fällt es mir immer schwer Beispiele zu nennen, da Zitate, aus dem Zusammenhang gerissen, deutlich weniger komisch wirken. Dennoch eine kleine Kostprobe. Auf der langweiligen Geburtstagsparty seiner Tante, beobachtet Jesper, wie sein Freund Gustav es wieder einmal schafft alle Leute um sich herum zu unterhalten und für sich zu gewinnen.


    „Normalerweise hätte ich mich abgewendet und wäre gegangen, aber der Alkohol im Blut flüsterte mir zu, dass auch ich etwas Wichtiges sagen sollte. Die anderen unterhielten sich gerade über ein Kaninchen, das eine Tochter als Haustier bekommen hatte, als ich laut dazwischenredete: „Wir hatten auch mal ein Haustier, eine Katze namens Whiskey, aber die hat sich umgebracht!“, sagte ich.“ (S. 44)



    Doch hinter Jesper steckt viel mehr, als ein Lügner und selbst überschätzter Schriftsteller. Er leidet unter dem Tod seines Vaters und darunter, sich selbst viel zu schlecht einzuschätzen. Auch wenn er sich gerne als den großen Künstler darstellt, merkt man beim Lesen schnell, dass er von sich selbst viel weniger überzeugt ist, als er immer behauptet.


    Das Thema des Buches ist das jung sein. Wie geht es nach der Schule weiter? Wie fühlt man sich, wenn man das erste Mal selbst entscheiden muss und einem so unglaublich viele Wege offen stehen? Wie soll man sich bei solch wichtigen Entscheidungen überhaupt entscheiden? Und wie schafft man es, dennoch seine Träume zu verwirklichen? Zugleich wird der Druck, der auf jungen Menschen dieses Alters lastet thematisiert. Nicht alle schaffen es, sich im Alter von 18 Jahren (oder auch 20, 25, …) richtig zu entscheiden und einen geraden, perfekten Weg einzuschlagen.


    Lang ist es noch nicht her, dass ich selbst 20 Jahre alt war. Und in diesem Alter war ich Jesper gar nicht so unähnlich. Selbst heute, kann ich noch einige Parallelen erkennen und mich gut in den Protagonisten hineinversetzen. Dementsprechend berührt war ich von diesem Buch. Durch den lockeren Schreibstil und die spannende Handlung (die übrigens deutlich überraschender und abwechslungsreicher, als man zunächst vermuten mag) las ich „Spinner“ innerhalb eines Tages. Beim Zuschlagen eines Buches, kann man meist einschätzen, ob es sich dabei um ein Buch handelte, das im Gedächtnis bleibt oder das man recht schnell wieder vergisst. An „Spinner“ werde ich mich sicher noch lange zurück erinnern, insbesondere an die unten zitierten Textstellen (und noch ein paar mehr).


    Fazit: „Spinner“ ist ein Buch, das vor allem für junge Leute in Jespers Situation geschrieben ist, weshalb ich mir gut vorstellen kann, dass Leser außerhalb dieser Zielgruppe mit dem Buch nicht viel anfangen können. Mir jedoch hat es enorm gut gefallen, weshalb ich es sicherlich das ein oder andere Mal verschenken werde.


    „Gustav hatte natürlich Recht. Und mir war auch klar, dass die Leute jemanden wie mich für einen Spinner hielten, weil ich noch immer an meine Träume glaube.“ (S. 18)



    „Alle hatten Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schien Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten.“ (S. 99)


    „Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass es mir scheißegal wäre, aber insgeheim interessierte es mich sogar wahnsinnig, was andere von mir hielten.“ (S. 100)


    „Ich hatte den Tod ohnehin nicht verdient, ich konnte ihn doch gar nicht bezahlen, denn er kostete das Leben, und davon hatte ich noch viel zu wenig.“ (S. 128)


    „Es ist der Fluch der Jugend, dass man glaubt, ständig zu leiden. Doch wenn diese Zeit vorbei ist, stellt man verwundert fest, dass man sie geliebt hat. Und dass sie nie mehr zurückkommt.“ (S. 315)

  • Jesper Lier ist 20 und schon völlig frustriert vom Leben. Zwar hat er ein umfangreiches Manuskript für einen Roman verfasst, aber niemand will es haben. Er haust in einer hässlichen Kellerwohnung in Berlin und würde dort wohl komplett vereinsamen, wenn es nicht seinen Kumpel Gustav gäbe. Der Kontakt zu seiner Familie in München besteht in sehr sporadischen Telefonaten, bei denen er seiner Mutter ein normales Studentenleben inklusive Freundin vorgaukelt, doch in Wahrheit hat er keinen Erfolg bei Frauen und weiß auch gar nicht, wie er das anfangen sollte.


    Das Gefühl, dass alle anderen genau wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, nur er nicht, wird zum beherrschenden Thema für Jesper. Er weiß nur, was er nicht will und was ihn nervt: so ziemlich alles.


    Jesper klingt wie einer der Protagonisten, die mir normalerweise tierisch auf die Nerven gehen, denen man nur empfehlen will, sich endlich mal zusammenzureißen und erwachsen zu werden. Aber Benedict Wells bringt einem diesen jungen Mann mit großen Träumen und wenig Kompetenz, sie auch in die Tat umzusetzen, auf eine Weise näher, dass man gewillt ist, genauer hinzuschauen, woher seine Orientierungslosigkeit und sein Gefühl, ein Loser zu sein, eigentlich rührt.


    Wir begleiten Jesper nur eine Woche lang, doch es ist eine Woche, die vieles durcheinanderrüttelt und in der einschneidende Dinge passieren. Ein aufregendes Zusammentreffen mit einer Frau (auch wenn er das erst mal gnadenlo versemmelt), Verluste und Wiederbegegnungen - in gewisser Weise holt ihn die Vergangenheit ein und zwingt ihn, sich mit vielem auseinanderzusetzen, das er bislang lieber verdrängt hat. Dabei wird immer klarer, warum dieser junge Typ so ungerichtet durch sein Leben driftet.


    Dass ich das Buch so mochte, liegt hauptsächlich an Wells' Erzählton. Jespers Ich-Perspektive ist voller Selbstironie, und während er leicht verwirrt und überfordert durch Berlin stolpert, findet er sich immer wieder in reichlich schrägen Situationen wieder, die zum Lachen reizen. Aber Wells macht Jesper nicht zum albernen Clown, der unfähig zu einem normalen Leben ist und führt ihn nicht als doofe Lachnummer vor, sondern zeigt auch seine verletzlichen und nachdenklichen Seiten. Selbst einige fast surreal anmutende Szenen fügen sich perfekt in den Gesamtkontext ein. Trauer, Wut, Verliebtheit, Genervtheit von der Welt mit ihren oberflächlichen Idealen, alte und neue Konflikte und am Ende auch ein paar leise Erkenntnisse über sich selbst mischen sich in Jespers Geschichte zu einem sehr lesenswerten Ganzen. Ich staune über Wells' Einfühlungsvermögen und seine Menschenkenntnis in so jungen Jahren - er hat das Buch geschrieben, als er ungefähr so alt war wie Jesper im Roman. Ein sehr gelungener Erstling.

  • "Spinner" ist mein vierter Roman von dem Autor Benedict Wells. Nur sein erst erschienenes "Becks letzter Sommer" habe ich noch nicht gelesen. "Spinner" wurde nach Angaben des Autors mit 19 Jahren verfasst, aber nicht gleich verlegt, da er gleichzeitig an beiden Romanen arbeitete. Der Protagonist Jesper ist in gleichem Alter wie Benedickt Wells selbst zu der Zeit war und zieht nach Berlin, wie auch der Autor. Es scheinen sich einige Parallelen zu dem Leben des Autors in dem Buch zu finden. Ich hatte schon beim Lesen das Gefühl, dass die Geschichte autobiografische Züge trägt, gehabt. Sogar der junge Mann auf dem Cover ähnelt äußerlich dem Autor. Als ca. dreißigjähriger hat Benedickt Wells die Geschichte überarbeitet und ich finde, dass die ihm hervorragend gelungen ist.


    Der Hauptcharakter Jesper Lier ist nicht sonderlich sympathisch, denn der ist reichlich kompliziert, unerfahren, verträumt und nicht bodenständig. Allerdings das Gute an den erzählerischen Künsten von dem Autor ist, dass man dies als Leser sehr gut nachvollziehen kann. Man versteht, aus welchem Grund dem Protagonisten so geht, wieso er so und nicht anders handelt. Wie kein anderer kann Herr Wells mit den Ängsten, Nöten, Sehnsüchten, Hoffnungen und Problemen junger Menschen umgehen.


    Der Titel der Geschichte passt komplett, denn der Jesper spinnt tatsächlich. :D

    Auch wenn der Roman in ersten Moment vielleicht trivial erscheint, ist die Geschichte tiefgründig und lässt einen nachdenklich oder in Erinnerung schwelgend zurück.

    Ich finde, das Buch ist sehr gut gelungen. :thumleft:

    2024: Bücher: 87/Seiten: 38 703

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