Rindert Kromhout - Brüder für immer/Soldaten huilen niet

  • Inhaltsangabe:
    Wenn ich vor dir sterbe“, sagte ich, „werde ich ein Buch über dich schreiben.“
    „Wenn ich vor dir sterbe“, sagte Julian, „dann habe ich keinen Bruder mehr.“
    Quentins Buch hält der Leser in den Händen. Er schreibt über die Kindheit mit seinem Bruder Julian, bis dieser in den Spanischen Bürgerkrieg zieht. Vom englischen Landleben der zwanziger und dreißiger Jahre, den Künstlern, die in ihrem Haus ein und aus gehen und von einem schrecklichen Geheimnis, das ans Licht kommt und alles verändert.
    "Brüder für Immer" beruht auf wahren Begebenheiten und realen Personen. Quentin, Julian und ihre kleine Schwester Angelica waren die Kinder der Malerin Vanessa Bell. Vanessa und ihre Schwester Virginia Woolf waren zentrale Figuren der sogenannten Bloomsbury Group, einer bunten Gemeinschaft von Künstlern, die Anfang des vorigen Jahrhunderts in England wohnten und wirkten. (Quelle: Verlagsseite)


    Der Autor:
    Rindert Kromhout, geboren 1958 in Rotterdam, veröffentlichte seine erste Geschichte im Alter von 19 Jahren in einem Kindermagazin. Bis heute sind von ihm 143 Bücher in vielen Genres erschienen. Kromhouts Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden und gewannen zahlreiche Preise. Der Autor lebt und schreibt in Amsterdam.(Quelle:Verlagsseite)


    Originaltitel: Soldaten huilen niet


    Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann


    Mein Eindruck:


    Erzählt wird die Geschichte von Quentin und Julian Bell aus der Sicht von Quentin. Ihre Mutter ist die Malerin Vanessa Bell, Schwester von Virginia Woolf. Julian und Quentin wachsen unbeschwert auf, die Familie ist aufs Land gezogen, haben sich ein Haus in Sussex gekauft, der Garten ist verwildert und das Haus heruntergekommen. Die Renovierung des Hauses wird künstlerisch gestaltet, so werden z.B. die Wände nicht tapeziert, sondern bemalt.
    Das Ehepaar Bell gehört, wie auch Virginia und Leonard Woolf, zum Kreis der Bloomsbury-Gruppe, zu der Künstler wie Duncan Grant, Lytton Strachey, Dora Carrington, David Garnett zählen. Die Familienkonstellation ist ungewöhnlich: So lebt das Ehepaar Bell getrennt. Clive Bell lebt in London und hat wechselnde Freundinnen. Vanessa lebt mit dem homosexuellen Maler Duncan Grant zusammen.
    Die Nachbarn stehen diesem freizügigen und exzentrischen Familienleben skeptisch gegenüber.
    Die Kindheit der beiden Brüder ist unbeschwert und intellektuell anregend. Sie lernen, ihren eigenen Weg zu gehen. Julian beginnt, sich für Politik zu interessieren und fühlt sich moralisch verpflichtet, sich freiwillig zu melden. Er fällt im spanischen Bürgerkrieg, eine Woche nach Ankunft in Spanien. Quentin will Schriftsteller werden, seine Tante Virginia ermutigt ihn dazu.
    Rindert Kromhout vergisst beim Erzählen der Familiengeschichte nicht, die politischen Entwicklungen, den Faschismus in Italien, Deutschland und Spanien anzusprechen.
    Dass es auch in dieser Familie etwas gibt, ein lange gehütetes Geheimnis, kann vor allem Julian lange nicht verzeihen.
    Kromhout erzählt warmherzig und behutsam, natürlich ist manches fiktiv - dennoch bekommt man einen informativen Einblick in das Leben dieser Familie, sicher manchmal etwas beschönigend und unkritisch. Aber es ist doch eine recht ungewöhnliche Idee, aus Sicht eines Teenagers über die "Bloomsbury-Group" und ihr Leben zu erzählen.
    Die Geschichte ist angesiedelt im Zeitraum 1925 bis 1937, die Brüder (geboren 1908 und 1910) machen die Entwicklung vom Teenager zum Erwachsenen durch. Nicht erwähnt wurde, dass Julian sich nicht nur für Politik interessierte und zum Kommunisten wurde, sondern auch Maler, Kunstkritiker und Dichter war. So wird von ihm ein etwas einseitiges Bild gezeichnet.
    "Brüder für immer" wird als Jugendbuch bezeichnet, bei amazon steht als Altersangabe 12 - 15 Jahre. Da stellt sich für mich aber die Frage, ob diese Altersgruppe sich überhaupt für den Bloomsbury-Kreis interessiert.
    Aber vielleicht sollte man das Buch hauptsächlich als Coming of age-Geschichte lesen? Lesenswert ist es allemal.


    Vielleicht ist ja auch das Haus interessant: Charleston, Sussex

  • Der Hintergrund

    Quentin Bell (* 1910), der Icherzähler der fiktiven Geschichte, und sein Bruder Julian (* 1908) waren die Neffen von Virginia Woolf. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Angelica wuchsen sie in einem exzentrischen Künstlerhaushalt im ländlichen Sussex auf. Ihr Vater kam regelmäßig aus London zu Besuch, Mutter Vanessa lebte und arbeitete zusammen mit ihrem Maler-Kollegen Duncan. Als Julian Bell in den Spanischen Bürgerkrieg zieht, kündigt Quentin an, er werde ein Buch über seinen Bruder schreiben, falls Julian nicht zurückkehrt. Dieses Buch halten die Leser in den Händen, können seine Entstehung mit verfolgen, doch geschrieben wurde es vom niederländischen Jugendbuchautor Rindert Kromhout. Kromhout war in Virginia und Leonard Woolf‘s Monk’s House bei Lewes zu Besuch und bekam so auch das nahegelegene Charleston Haus der Familie Bell zu Gesicht. „Brüder für immer“ ist das erste von insgesamt drei Büchern über die Familie Bell.


    Inhalt

    Jeder andere Bruder hätte einen Angsthasen wie mich in diesem Moment ausgelacht oder später zu Hause erzählt, was für ein Feigling ich doch wäre, aber nicht Julian. Er sah mich ernst an, kroch wieder unter dem Stacheldraht durch und nahm mich an die Hand. „Wir gehen um die Weide herum.“ (Seite 12)

    Die Brüder haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander, das sicherst ändert, als der ältere Julian sich für Politik zu interessieren beginnt und kein Zimmer mehr mit seinem jüngeren Bruder teilen will. In einem exzentrischen Haushalt mit ständigen Besuchen anderer Künstler haben die Kinder bis dahin eine idyllische Kindheit verbracht, geliebt und beschützt von ihrer Großfamilie. Auch wenn der seltsame Lebensstil der Familie von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugt wird und die komplizierten platonischen, hetero- und homosexuellen Verbindungen ganz ohne Diagramm nicht leicht zu durchschauen sind, herrscht innen große Warmherzigkeit. Bis eine Lüge alles zerstört.


    Selbst wenn später Quentins Begabung als Schriftsteller auf den Einfluss seiner berühmten Tante Virginia zurückgeführt werden wird, weiß er es besser. Auslöser für seine Liebe zum Schreiben war das Buch "Alice im Wunderland", das seine Mutter den Kindern vorlas. Dieser Abschnitt zeigt in berührender Weise, dass Quentin schon früh unterschiedliche Perspektiven unterscheiden konnte. Zu dem auslösenden Ereignis gibt es unterschiedliche Interpretationen, die alle einen Teil der Wahrheit enthalten. Quentin wird von Virginia Woolf gefördert und sie rät ihm, regelmäßig eine Familienzeitung zu verfassen und seine Texte von anderen Personen lesen zu lassen.

    Höre gut zu, was sie zu sagen haben. Wenn sie etwas anderes verstanden haben, als du gemeint hast, taugt die Geschichte nicht. Geh dann noch einmal drüber und noch einmal, so lange, bis du den Leser dort hast, wo du ihn haben willst. So lernst du schreiben. Und lies! Lies alles, was du in die Finger kriegst. Ein Schriftsteller muss lesen und andere Schriftsteller studieren.“ (Seite 129)


    Während sich in Deutschland und Italien der Faschismus ausbreitet, werden bei den Bells Gespräche darüber geführt, warum es Krieg gibt, was ein Feind ist, was Kommunismus, Anarchismus und was Faschismus. Diese Gespräche sind für die Zielgruppe ab 12 Jahren absolut verständlich – und eine der Stärken des Buches.


    Fazit

    Anfangs habe ich mich gefragt, ob das Leben der Bloomsbury Group überhaupt ein Thema für Kinder sein kann. Doch Quentins Heranreifen und die Entdeckung seines Talents als Schriftsteller sind ein klassischer Coming of Age-Stoff. Vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs und mit dem anrührenden Verhältnis der ungleichen Brüder ein herausragendes Buch – nicht nur für Jugendliche.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow