Georges Simenon - Brief an meine Mutter / Lettre à ma mère

  • Der Autor: (der Verlagsseite entnommen)
    Georges Simenon, geboren 1903 in Liège/Belgien, begann nach abgebrochener Buchhändlerlehre als Lokalreporter. Nach einer Zeit in Paris als Privatsekretär eines Marquis wohnte er auf seinem Boot, mit dem er bis nach Lappland fuhr, Reiseberichte und erste ›Maigret‹-Romane verfassend. Schaffenswut und viele Ortswechsel bestimmten 30 Jahre lang sein Leben, bis er sich am Genfersee niederließ, wo er nach 75 ›Maigret‹-und über 120 ›Non-Maigret‹-Romanen, statt Romane zu schreiben, ausgreifende autobiographische Arbeiten diktierte. Er starb am 4. September 1989 in Lausanne.


    Inhalt und Meinung:
    Drei Jahre nach dem Tod seiner Mutter, Simenon ist mittlerweile 71-jährig, verfasst er einen Brief, in dem er deren schwieriges Verhältnis zueinander thematisiert. Da er verstehen möchte, wie er selbst erzogen wurde, in welcher Situation seine Mutter damals war, weshalb und welche eherne Grundsätze sie hatte, - aus diesem Grund holt Simenon weit aus, genauer gesagt bei der Kindheit seiner Mutter. Wir lernen die Herkunft seiner Grosseltern kennen, verstehen ein wenig, weshalb die Mutter Angst vor Altersarmut hatte, erfahren Vieles über das Leben mit ihrem ersten Mann, Georges Vater, und auch etwas über ihre zweite Ehe, die wohl Vorbild für Simenons Roman „Die Katze“ war. Dabei lernen wir aber auch Georges Simenon besser kennen, nicht nur, weil man als Leser viel über seinen Ursprung / Stammbaum erfährt, sondern auch weil Simenon reflektiert, die Situationen mit zeitlicher Distanz mittlerweile mit etwas Verständnis und Versöhnung beurteilen kann. (Übrigens finde ich diesen Brief deutlich ehrlicher und authentischer als sein Roman „Pedigree / Stammbaum“, der häufig als frühe „leidlich versteckte“ Biographie gedeutet wird)
    Der Ton ist versöhnlich, auch wenn Simenon bereits zu Anfang gesteht, dass seine Mutter ihm zeit seines Lebens eine Fremde blieb. In der Familie war es offenbar nicht üblich über Vergangenes zu sprechen, ebenso wenig über Erwartungen und Gefühle. Was hat sie wohl in ihren letzten Tagen im Krankenhaus gedacht, als die Familie ständig zu Höflichkeitsbesuchen antrat? Was hielt sie wohl von der Nonne, die stets neben ihr sass? War seine Mutter stolz auf Georges Erfolg als Schriftsteller? Was bedeutet das Lächeln auf ihren Lippen – ist es spöttisch, oder versöhnlich; ist ihr überhaupt bewusst, dass er an ihrem Sterbebett sitzt?
    Mir gefiel dieser sehr persönliche Brief sehr gut und kann ihn empfehlen, wenn man sich für Simenons Leben und Werk interessiert. Zudem habe ich auch während der Lektüre selbst als Sohn und Vater über die jeweiligen Erwartungen und Beziehungen nachdenken können. Solange man noch kann, was sollte geklärt und wie möchte man in Erinnerung behalten werden? Dem entsprechend fand ich die Lektüre deutlich emotionaler als erwartet, ein Highlight in Simenons Spätwerk, das viele Briefe und autobiographische Schriften umfasst – die aber wirklich nicht immer dieses Niveau erreichen.


    Anmerkungen:
    Ich habe eine andere, neuere Diogenes-Ausgabe als die hier verlinkte gelesen. Sie hat zwar ebenfalls über 140 Seiten, das Format entspricht aber etwa dem eines Zigarettenpäckchens (sog. Kleines Diogenes-Taschenbuch). Wer also ein „richtiges Buch“ erwartet, der ist vielleicht enttäuscht; ich schätze mal, in einem üblichen Taschenbuchformat ergäbe der Brief ca 40 Seiten.

  • Ich hatte noch nie etwas von Georges Simenon gelesen, und dieses Büchlein war ein Zufallsfund. Jetzt habe ich es in wenigen Stunden gelesen und bin sehr angetan. Ein Sohn schreibt seiner verstorbenen Mutter, was er ihr zu Lebzeiten nicht sagen konnte, was er sie auch nicht fragen konnte. Und er erzählt in ruhigem Ton - eher nebenbei - von ziemlich schrecklichen Ereignissen und Eindrücken seiner Kindheit. Dabei lässt er seinen Stolz auf seinen eigenen Erfolg hin und wieder auch kurz aufblitzen, was ich richtig und schön finde, denn der Stolz ist absolut berechtigt.

    Generell gefällt mir die Art wie Simenon schreibt, so dass ich die ein, zwei Maigret-Romane, die in meinen Regalen ruhen, bald lesen möchte, sozusagen als Einstieg in sein Werk.

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous