Tilman Röhrig - Die Flügel der Freiheit

  • Kurzbeschreibung (Quelle: amazon)
    Es hat geschneit. Auf den Wehrmauern liegt weißer Schimmer, als Barthel die Wartburg erreicht. Im Auftrag seines Meisters Lucas Cranach soll er Briefe an Martin Luther überbringen. Wie befürchtet erhält Luther Nachricht, dass radikale Kräfte seine Reformation gefährden. Deshalb will er so schnell es geht nach Wittenberg zurückkehren. Während es ihm dort gelingt, seine Schriften und Predigten endlich praktisch umzusetzen, erstarken seine Gegenspieler wieder. Vor allem sein einstiger Weggefährte Thomas Müntzer begibt sich auf einen riskanten Weg, er fordert den Aufstand gegen die weltliche Obrigkeit. Ein Weg, der viele Menschen in größte Gefahr bringt. Nicht zuletzt den Gesellen Barthel und seine Liebste Dorothea. Die Lage spitzt sich mehr und mehr zu. Luther beschließt, den Kampf gegen Müntzer aufzunehmen.


    Autor (Quelle: amazon)
    Tilman Röhrig, geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Die größten Erfolge brachten ihm seine historischen Romane, die allesamt Bestseller und vielfach übersetzt wurden. Für sein literarisches Werk erhielt der Autor, dessen lebendige Lesungen begeistern, zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Großen Rheinischen Kulturpreis.


    Allgemeines
    Erschienen am 4. Oktober 2016 im Pendo Verlag als HC mit 480 Seiten
    Gliederung: 49 Kapitel, Personenverzeichnis, Ortsverzeichnis, Landkarte im vorderen und hinteren Einband
    Erzählung in der dritten Person aus wechselnden Perspektiven
    Handlungsorte und -zeit: Verschiedene Orte zwischen Wittenberg und Eisenach, 1521 bis 1525


    Zum Inhalt
    Als Martin Luther erfährt, dass sein ehemaliger Anhänger und Mitstreiter für die Reformation, Thomas Müntzer, eine eigene, durch Fanatismus geprägte Bewegung zu gründen versucht, hält ihn nichts mehr auf der Wartburg, wo er Schutz gefunden und das Neue Testament ins Deutsche übersetzt hat. Er kehrt nach Wittenberg zurück und beginnt wieder zu predigen. Außerdem obliegt ihm die Obhut über einige aus dem Kloster geflohene Nonnen, für die er ein Auskommen, bzw. Ehemänner finden will.
    Thomas Müntzer, der sich gedanklich immer weiter von der Lehre Luthers entfernt hat, sieht sich als „Propheten“ und „Seelenwart“. Er begnügt sich nicht damit, neben der katholischen die protestantische Glaubensbewegung zu stärken. Vielmehr wird er zunehmend fanatischer und wiegelt seine Anhänger dazu auf, zunächst Klöster und Kapellen, in denen seiner Meinung nach der Abgötterei gefrönt wird, zu zerstören; schließlich hetzt er die unzufriedenen Bauern zum bewaffneten Widerstand gegen die weltliche Obrigkeit auf, ein aussichtsloses Unterfangen, das Tausende das Leben kosten wird…


    Beurteilung
    Pünktlich zum Beginn des Luther-Jahres widmet sich Tilman Röhrig in seinem neuen Roman den Themen „Reformation“ und „Bauernkriege“. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Martin Luther und sein Gegenspieler Thomas Müntzer, der Eine als „gemäßigter“ Vertreter der reformatorischen Bewegung, der Andere als sich selbst überschätzender, fanatischer Aufwiegler gegen geistliche und weltliche Autoritäten. Mit großer Sorgfalt entwirft der Autor die beiden gegensätzlichen Charaktere. Thomas Müntzer wird sehr negativ dargestellt, er ist arrogant und selbstgefällig gegenüber seinen Anhängern, Gegnern und auch seiner Frau Ottilie, einer ehemaligen Nonne. Demgegenüber tritt Luther als Sympathieträger mit manchmal ziemlich rustikalen Sitten auf.
    Die Romanfiguren sind fast alle historische Persönlichkeiten, es ist jedoch auch eine fiktive Liebesgeschichte geschickt in die Handlung eingewebt. Der junge Bartholomäus Reiche, genannt „Barthel“ ist als Formstecher für Druckplatten bei Lucas Cranach beschäftigt, er liebt Dorothea, die Tochter des Spenglers Konrad Gerlach, der unter den verhängnisvollen Einfluss Müntzers gerät.
    Der Erzählstil ist anschaulich, teilweise auch ziemlich derb und vermittelt ein eindrucksvolles Bild vom verheerenden Einfluss eines manipulativen Fanatikers und von den Grausamkeiten der Bauernkriege.
    Im Anhang findet sich ein Personenverzeichnis, leider fehlt ein Nachwort des Autors mit weiteren Informationen zu den geschichtlichen Hintergründen. Auch eine Bibliographie zu diesem komplexen Themenbereich wäre eine Bereicherung gewesen.


    Fazit
    Ein gut recherchierter und anschaulich geschriebener Roman über die reformatorischen Strömungen des frühen 16.Jahrhunderts, für jeden Leser, der sich für die Reformation und die Bauernkriege interessiert, sehr empfehlenswert!
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Demgegenüber tritt Luther als Sympathieträger mit manchmal ziemlich rustikalen Sitten auf

    Rustikale Sitten würden ja passen, aber Sympathieträger würde mir schon wieder nicht mehr gefallen. Ich sehe seit meiner letzten Lektüre immer den mittelalterlichen Luther, sozusagen den Rohguss, nicht geschönt und zurechtgebogen durch das 19. Jahrhundert.
    Meinst Du, dass mir das Buch auch unter diesen Gesichtspunkten gefallen würde?

  • aber Sympathieträger würde mir schon wieder nicht mehr gefallen

    Er wird nicht verherrlicht, aber neben Müntzer wirkt er deutlich sympathischer. :wink:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Das hört sich sehr interessant an und drängt sich als Lektüre für's Luther-Jahr ja förmlich auf. :wink: Auf jeden Fall ist es mal direkt auf meine Wunschliste gewandert.

    Gelesen in 2024: 7 - Gehört in 2024: 5 - SUB: 598


    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Ohhh, dieses Buch hatte ich gestern bei Thalia stundenlang in der Hand und habe es dann doch nicht gekauft. #-o
    Aber nach dieser Rezi wird es wohl nicht lange auf meiner WuLi bleiben. :-,

  • Er wird nicht verherrlicht, aber neben Müntzer wirkt er deutlich sympathischer. :wink:

    War mir aber trotzdem in diesem Buch unsympathisch. :|


    Das Buch selbst hat mir insgesamt sehr gut gefallen, auch dass alles so historisch korrekt war. Es liest sich flüssig und relativ leicht. Ich hatte da irgendwie "schwerere Kost" erwartet.
    Aber die Figur des Martin Luther hat mir bei mir jetzt vom Image her etwas gelitten. Irgendwie hatte er hier in diesem Buch etwas Verschrobenes, fast Besessenes. Typ "Seltsamer Kauz" :geek:
    Ich hatte ihn bisher einfach "moderner" und anders im Denken in meiner, ganz ureigenen Vorstellung. Gut, keiner kannte ihn persönlich, auch kein Tilman Röhrig :wink: Ob er nun wirklich so war, wer weiss das schon.

  • Meiner Ansicht nach, liefert der Autor einen guten historischen Roman und ein hervorragendes Porträt des Reformers Martin Luther ab. Der Charakter von Martin Luther, seine Gedanken und Gefühle werden gut beschrieben und machen es so dem Leser möglich sich in ihn hineinzuversetzen. Selbst die Konflikte mit seinen Gegnern, hier insbesondere Thoms Müntzer wurden sehr realistisch und lebendig dargestellt. Der Schreibstil ist zwar gut, aber an einigen Stellen etwas zu schwerfällig, so dass ein flüssiges Lesen nicht immer möglich war. Dafür kann der Autor aber sehr bildlich schreiben, was den gesamten Roman lebendig wirken lässt, so dass die einigen Längen in der Handlung nicht so schwer ins Gewicht fallen.

  • Auch ich fand den Roman unterhaltsam zu lesen und hinsichtlich der historischen Figuren gut recherchiert, aber trotzdem ist bei mir kein Funke übergesprungen.


    Zum einen war mir die vom Autor erfundene, ins Reformationsgeschehen eingebettete Liebesgeschichte zwischen Barthel und Dorlein über weite Strecken zu banal. Irgendwie nach dem Motto: Man muss da noch eine herzzerreißende Romanze mit viel Geschmuse unterbringen, um die entsprechenden Bedürfnisse der Leserschaft zu befriedigen. Ja, ich sehe schon, dass Dorothea und Bartholomäus stellvertretend für viele Menschen stehen, denen die Lehren Luthers oder Müntzers kaum verständlich waren, die aber trotzdem zwischen deren Lagern ohne eigenes Zutun schier zerrieben wurden. Aber diesen als intelligent dargestellten Protas nehme ich nicht ab, dass sie gar nicht so recht begreifen, was dieser Luther eigentlich will.


    Allerdings macht der Autor es auch den LeserInnen nicht leicht, Luthers Anliegen zu durchschauen, und hierin liegt mein größter Kritikpunkt an dem Roman: Man bekommt Müntzer als Person und in seinen Lehren als einen unsympathischen, selbstdarstellerischen Möchtegern-Propheten präsentiert, dem es nur um Aufruhr geht. Ich kann nicht beurteilen, inwiefern das dem historischen Müntzer gerecht wird. Sein durchaus berechtigtes soziales Anliegen, nämlich die wirtschaftliche Not der unteren Stände, wird hier wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Luther wiederum scheint ihm argumentativ immer nur hinterherzuhecheln, sich an ihm und seinen Mitstreitern abzuarbeiten. Was aber Luthers eigene reformatorische Anliegen eigentlich ausmacht, was sie für den Glauben und das soziale Gefüge dieser Zeit bedeuteten, kommt in diesem Roman viel zu kurz. Und das, obwohl es sich auch angesichts des Titels "Flügel der Freiheit" geradezu aufdrängen würde, die Gedanken aus Luthers 1520 erschienener Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" hier ausführlicher ins Geschehen einzuflechten. Stattdessen erscheint Luther nur als ein überfressener, ständig herumfurzender, rülpsender Choleriker, stets mit dem einen Fuß auf dem Abort und mit dem anderen in der Tür irgendeines Freundes, den er um Geld anbettelt. Seine theologischen Anliegen gehen im Vergleich zu Müntzers Thesen komplett unter. Das finde ich bei einem Roman, der ja bewusst im Umfeld der Reformation angesiedelt ist, sehr schade.


    Anders als Tilman Röhrigs hervorragender Roman "In dreihundert Jahren vielleicht" weist dieser hier auch nicht einmal in Ansätzen über sich und seine Zeit hinaus. Während "In dreihundert Jahren vielleicht" zwar während des Dreißigjährigen Krieges spielt, aber in vielen seiner Aussagen absolut zeitlos ist, für die LeserInnen erkennbare gezielte Verweise auf andere historische Epochen enthält und somit von aktueller Brisanz ist, bewegt sich Röhrigs Reformationsroman gedanklich keinen Schritt über das Jahr 1525 hinaus, obwohl Luthers und Melanchthons reformatorische Gedanken die Kirchenlandschaft der folgenden 500 Jahre entscheidend mitbestimmt haben. Ich verstehe auch nicht so recht, warum Röhrig den Roman mit Luthers Hochzeit enden lässt. Und wenn sie nicht gestorben sind...? Den Einstieg auf der Wartburg habe ich als sinnvoll und gelungen empfunden, aber dass Katharina von Bora dem manchmal doch etwas drögen Reformator mit ihrem Wirken gewaltig auf die Sprünge geholfen hat, ihm sozusagen auch noch einmal Flügel verliehen hat, wird hier leider nicht mehr entfaltet.


    Knappe :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: gibt es von mir.

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn