Wolfgang Kohlhaase - Silvester mit Balzac und andere Erzählungen

  • Der Autor (Wikipedia.de): Der am 13. März 1931 in Berlin als Sohn eines Maschinenschlossers geborene Wolfgang Kohlhaase ist ein deutscher Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller. Er gilt als „einer der wichtigsten Drehbuchautoren der deutschen Filmgeschichte“. Ab 1947 war er Journalist bei der Jugendzeitung „Start“, dann bei der „Jungen Welt“. Von 1950 bis 1952 arbeitete er als Dramaturgie-Assistent bei der DEFA in Potsdam-Babelsberg. Seit 1952 ist Kohlhaase freischaffender Drehbuchautor und Schriftsteller. Am 8. April 2011 erhielt er von der Deutschen Filmakademie die Lola für sein Lebenswerk. Er lebt in Berlin und Reichenwalde und ist mit der Tänzerin und Choreografin Emöke Pöstenyi verheiratet. Seinen „vielfältigen Sprachwitz“ und seine „genaue Beobachtungsgabe einzelner Milieus“ setzen Regisseure und Filmkenner mit dem Können von Erich Kästner und Billy Wilder gleich.


    Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher zu den Filmen
    1954 - Alarm im Zirkus (Regie: Gerhard Klein)
    1957 - Berlin – Ecke Schönhauser (Regie: Gerhard Klein)
    1959 - Der schweigende Stern (Regie: Kurt Maetzig)
    1961 - Der Fall Gleiwitz (Regie: Gerhard Klein)
    1968 - Ich war neunzehn (Regie: Konrad Wolf)
    1972 - Leichensache Zernik (Regie: Gerhard Klein, Helmut Nitzschke)
    1974 - Der nackte Mann auf dem Sportplatz (Regie: Konrad Wolf)
    1980 - Solo Sunny (Regie: Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase)
    1982 - Der Aufenthalt (Regie: Frank Beyer)
    1984 - Die Grünstein-Variante (Regie: Bernhard Wicki)
    1989 - Der Bruch (Regie: Frank Beyer)
    1997 - Der Hauptmann von Köpenick (Regie: Frank Beyer)
    2000 - Die Stille nach dem Schuss (Regie: Volker Schlöndorff)
    2005 - Sommer vorm Balkon (Regie: Andreas Dresen)
    2009 - Whisky mit Wodka (Regie: Andreas Dresen)
    2015 - Als wir träumten (Regie: Andreas Dresen)


    Klappentext (Aufbau Verlag): Wolfgang Kohlhaase war sechzehn, als er zum ersten Mal Geschichten veröffentlichte, in Zeitungen. Dreißig Jahre später kam sein Erzählungsband „Silvester mit Balzac“. Da gab es bereits jene Drehbücher und Hörspiele, die seinen Namen bekannt gemacht hatten. Die Geschichten aber erzählt Kohlhaase, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan: sicher und souverän, packend und unaufdringlich, oft komisch, immer sehr genau. Am dreißigsten März 1945 küsst ein Dreizehnjähriger das Mädchen Inge. Mit der Verwirrungen seiner Kinderliebe erlebt er zugleich das Chaos des Kriegsendes. Aufbruch und Zusammenbruch. In einem KZ-Lager erfindet ein Häftling eine Sprache, Preis für erträgliche Arbeit, also eine Chance zum Überleben. Ist eine tote Gräfin ein politischer Fakt, wenn sie plötzlich wieder dort auftaucht, wo man ihr Land verteilt hat? Ihr Begräbnis erregt jedenfalls die Gemüter. Aus Zufall wird ein Mord entdeckt, längst verjährt, aber nicht für die Täterin. Sie wartet auf die Gerechtigkeit. Weil sich an Feiertagen die ungeklärten Verhältnisse zuspitzen, flüchtet einer Silvester nach Budapest. Die Ratlosigkeit aber kann er nicht abschütteln.


    Klappentext (BVT): Paul lebt in Ostberlin - im Prenzlauer Berg - und hat sich gerade von seiner Freundin Isolde getrennt. Der Jahreswechsel steht vor der Tür und damit auch die traditionelle Silvesterfeier bei Freunden, wo Paul und Isolde immer gemeinsam hingingen. Jetzt hat Paul damit ein Problem, und er fliegt nach Budapest zu Ildi. Sie ist jung und schön und geheimnisvoll, und Paul kennt sie einen Sommertag lang. Sie gehen im Schnee durch die fremde Stadt und kommen sich nahe. Aber am Silvesterabend lässt Ildi Paul in der kleinen Wohnung sitzen - mit Balzac. Wolfgang Kohlhaases Erzählungen sind anschmiegsam wie eine Katze in einer Winternacht und seine Dialoge direkt aus dem Leben gegriffen. Sie tragen alle die unverwechselbare lakonische Handschrift des derzeit besten deutschen Drehbuchautors.




    1977 erschien dieser Erzählungsband als "Silvester mit Balzac und andere Erzählungen" im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. Er enthält die 13 Erzählungen „Inge, April und Mai“, „Mädchen aus P.“, „Erfindung einer Sprache“, „Begräbnis einer Gräfin“, „Nagel zum Sarg“, „Als der Regen kam“, „Immer icke“, „Bruder Alfred“, „Johanniter und Blei“, „Kohlen und Kavallerie“, „Worin besteht das Neue auf dem Friedhof?“, „Lasset die Kindlein...“ und „Silvester mit Balzac“. Die Taschenbuchausgabe als Nr. 442 in der bb-Reihe von 1980 umfasst 171 Seiten. Der Erzählungsband wurde 2003 in der Berliner Edition Schwarzdruck und 2006 im Berliner Taschenbuch Verlag als "Silvester mit Balzac. Erzählungen" erneut aufgelegt. Von den enthaltenen Geschichten dienten einige später als Vorlage für Verfilmungen: 1991 für Begräbnis einer Gräfin in der Regie von Heiner Carow, 1993 für Inge, April und Mai verfilmt von Wolfgang Kohlhaase und Gabriele Denecke sowie 2011 für den Kurzfilm Nagel zum Sarg in der Regie von Philipp Döring.



    Eine unbedingte Leseempfehlung. :applause: Wenn es an sich nicht schon seit Jahrzehnten bekannt wäre, müsste man sagen: Der Mann hat Talent! :lol::wink: Aber auch ihn, der in Buchform im Großen und Ganzen nur Hörspielskripte und Erzählungen veröffentlicht hat, trifft das Schicksal jener Schriftsteller, die keinen „großen Roman“ vorlegen: Er wird nicht gelesen. Es ist Zeit, das JETZT zu ändern! [-X


    Die Geschichten erzählen gerade wegen ihrer unglaublichen Beiläufigkeit, ihrem leisen Humor und ihrer Lakonie in so großer Wahrhaftigkeit, wie sie es tun, von den schwerwiegenden Themen des menschlichen Lebens: Dem Zufall, dem Vergehen der Zeit, der Liebe, der Rastlosigkeit, dem stummen Entsetzen, dem Wunsch nach Vertrautheit und dem entgegenlaufend dem Wunsch nach Ungebundenheit. Wie eine Rückschau, die spät erst zeigt, wie glücklich ein Leben im Grunde doch gewesen ist, nur bleibt jetzt zu wenig Zeit, sich angemessen darüber zu freuen. Und: Jedes Glück trägt auch die Schicksale jener, die es nicht so gut getroffen hat, in sich. Wie so oft in Kurzgeschichtenbänden nerven manche Geschichten auch ein wenig, ihr vorgeschoben naiver Tonfall, aber nerven ist besser als langweilen! :P


    „Mädchen aus P.“, ein Frauenschicksal Ende des Zweiten Weltkrieges, fährt die emotionale Erregung bis haarscharf an die melodramatische Kitschgrenze, ohne sie je zu berühren, und erreicht so mit dickem Kloß im Hals wirklich traurige Schrecklichkeit. Die Titelerzählung über einen Mann, der vor einer Silvestereinladung in Berlin wegen einer faktisch vergangenen, gefühlt noch nicht vergangenen Liebe flieht, und zu einer entfernten Liebschaft nach Budapest reist, um auch dort nicht von seiner Trübsal fortzukommen, ist unglaublich gut. Kein Nebensatz, der nicht mit einem Schulterzucken und leichter Hand schwierig greifbare Gefühle oder selten gehörte Beschreibungen von Offensichtlichem liefert - was man so und in dieser Dichte glaubt, noch nie vernommen zu haben. Weil da einer ist, der Schwieriges einfach ausdrücken kann; und der die Komik im Ernst erkennt - und andersherum! :thumleft: Auch die Geschichte „Worin besteht das Neue auf dem Friedhof?“, in der eine Trauergesellschaft beschrieben wird, gefällt mir sehr: Wie umständlich Trost ausgegeben und dankbar aufgenommen wird, trotz aller Floskeln und wegen der Floskeln. „Begräbnis einer Gräfin“ ist eine entlarvende DDR-Schildbürgergeschichte, die zeigt, wie Prinzipientreue die Herzen eng macht. In „Lasset die Kindlein ...“ geht es um einen zögerlichen jungen Mann, der eine alleinstehende junge Mutter von sechs Kindern heiraten möchte, was seinen alten Vater gegen ihn und die scheinbar unmoralische Frau aufbringt, bis sich ganz langsam eine Annäherung der zwei Sturköpfe anbahnt. Im Hintergrund hat die alte Mutter eine Suppe auf dem Herd...


    Ach, in jeder Geschichte, auch in den kurzen - manchmal wirken sie wie mit Leben gefüllte kleine Zeitungsmeldungen aus dem Polizeibericht (früher hieß sowas mal Moritat) -, in denen es zum Beispiel um einen vom Pech verfolgten Mann, dem immer nur Schlechtes widerfährt, was dem Erzähler Gelegenheit gibt, den fundamentalen Unterschied zwischen „immer ich“ (humorlos, angeberisch, anmaßend) und „immer icke“ (sanfte Resignation, Sehnsucht nach Gerechtigkeit, leichter Vorwurf an die Umwelt) zu erklären, oder jene, die von einer Frau handelt, die aus Mitleid ihren sterbenskranken Mann tötet, jene über eine tödliche Zufallsbegegnung in einer Bierschwemme, oder jene, in der es um gelebtes Leben und früh beendetes Leben geht, stecken so großartig eingefangene Beobachtungen, Beschreibungen von ambivalenten Gefühlen, Kleinigkeiten und großen Gedanken - kurz gesagt: so viele lebenskluge Wahrheiten, so viel melancholisches Durchatmen, drauf gespuckt und weitermachen -, dass ich nichts anderes empfehlen kann als: Lest dieses Buch! :huhu:
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 54 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Everett "Erschütterung" (27.03.)

  • Die Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 1980, als Nummer 442 in der bb-Reihe ("Billige Bücher") des Aufbauverlages erschienen.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 54 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Everett "Erschütterung" (27.03.)