Nathan Larson - 2/14 / The Dewey Decimal System

  • Der Autor (Wikipedia.de): Der am 12. September 1970 in Maryland geborene Nathan Larson ist ein US-amerikanischer Filmkomponist, Musiker und Schriftsteller. Er gilt als der kreative Kopf hinter der Musikgruppe „Mind Science of the Mind“ und ist der Gründer der Band „Hot One“. In den 1990er-Jahren war Larson Gitarrist der Band „Shudder to Think“ und Bassist der Hardcore-Punkband „Swiz“. Er ist mit Nina Persson, Sängerin der schwedischen Band „The Cardigans“, verheiratet. Zurzeit wohnt das Paar in New York City und spielt zusammen in der Band „A Camp“. Von ihm stammen u.a. die Filmmusiken zu „Boys Don't Cry“, „Lilja 4-ever“, „Lovesong for Bobby Long“„Palindrome“, „Der große Crash - Margin Call“ und „Picknick mit Bären“. 2011 erschien in den USA sein Debütroman „2/14“, der erste Band der Dewey-Decimal-Trilogie.


    Der Roman erschien im Original im April 2011 unter dem Titel „The Dewey Decimal System“ bei Akashic Books in der Reihe „Akashic Urban Surreal Series“. Die deutsche Übersetzung von Andrea Stumpf erschien im März 2014 unter dem Titel „2/14“ in der von Thomas Wörtche herausgegebenen Reihe „Penser Pulp“ im Diaphanes-Verlag Zürich-Berlin. Diese Ausgabe umfasst 255 Seiten einschließlich eines fünfseitigen Nachwortes von Thomas Wörtche.


    Klappentext (Diaphanes): 14. Februar: Am Valentinstag ist New York durch eine Serie von Anschlägen zerstört worden. Die Bevölkerung ist dezimiert, die Behörden sind korrupt, außer Kontrolle geratene bewaffnete Einheiten haben die Macht übernommen. Dewey Decimal, der letzte Verwalter der „New York Public Library“, bewahrt Stil und Haltung, auch wenn er bis an die Zähne bewaffnet ist. Er war einmal Soldat, mehr weiß er nicht, denn seine Erinnerung ist manipuliert. Seine Fähigkeiten zu kämpfen und zu töten sind optimiert. Sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Neurosen haben System. Und sein Sinn für Sprache und Witz ist ein weiterer Bestandteil seines Waffenarsenals. Als er von der Stadtverwaltung auf eine osteuropäische Gang angesetzt wird, beginnt ein Trip durch die apokalyptische Stadtlandschaft, bei dem sich mafiöse Verstrickungen bis in höchste Regierungskreise offenbaren. Mit Dewey Decimal werden die Leser in rasantem Tempo durch die Handlung gejagt, als befänden sie sich in einem Ego-Shooter-Szenario, in dem nichts ist, wie es scheint. Eine sprachmächtige, in die Zukunft geworfene Erneuerung des „Noir“.


    Erster Eindruck: Natürlich ist das nicht unbedingt die in die Zukunft verlagerte Erneuerung des Noir, wie es der Klappentext verspricht. :wink: Dazu ist der Roman zu sehr bei sich selber, erscheint fast völlig ohne Subtext, gesellschaftlichen Kommentar oder erkennbare Haltung des Autors. Doch dafür fliegt man mit mangaartiger Geschwindigkeit durch die Seiten. Die Geschichte ist reine Bewegung und Muskelanspannung. Ein insofern stimmig reaktiviertes Hardboiled-Schema ganz ohne Verzweiflung, Melancholie oder störenden Diskurs-Ballast. Aber mit großem Leserausch-Vergnügen. :drunken:


    Zweiter Eindruck: Na gut, so ganz stimmt das nun auch wieder nicht, dass dem Roman der Subtext fehlen würde: Über Dewey Decimal, der in New York die Bestände der öffentlichen Leihbibliothek neu ordnen soll, nachdem das Computersystem abgerauscht ist, weiß der Leser genauso wenig, wie die Hauptfigur selber. Deweys Vergangenheit als Ex-Soldat liegt im Dunkeln, ist vielleicht gelöscht und durch eine fahle Erinnerung ersetzt worden. Und Identitätsverlust ist natürlich eines der größten Noir-Themen, das man beackern kann. :!: Von Neurosen und Paranoia getrieben, immer mit Desinfektionslösung und seinen Tabletten in der Jackentasche, geistert er durch ein postapokalyptisches New York, immer auf den Spuren eines selbst ausgedachten Systems aus geraden und ungeraden Zahlen und Richtungen: Vormittags immer als erstes in eine U-Bahnlinie mit gerader Nummer einsteigen, nachmittags in den Straßen erst links abbiegen, dann rechts; ein im Grunde total sinnloses System, das dem (inneren) Chaos Stabilität geben soll. Der Unübersichtlichkeit in einer im Chaos versunkenen Welt. Die vermeintlich einfache Geschichte des Roman scheint doch mehr Bedeutung zu tragen, als es den ersten Anschein hat. :)


    Was ist überhaupt geschehen am 14. Februar? Es wird nur angedeutet. Und nach Antworten wird anscheinend auch gar nicht mehr gesucht. Der Komplexität der unübersichtlichen Welt will niemand mehr mit Erklärungen Herr werden. Es geht nur noch darum, sie zu bewältigen, den eigenen Alltag gebacken zu bekommen. Und genau hier lauert der noire Kern, der die Post-Doomsday-Welt des Romans dann eben doch wieder sehr interessant macht: Das System gewinnt! Der Einzelne muss sehen, wo er bleibt. :rambo: Es gibt keine Sicherheit und keine Moral in dieser postapokalyptischen Welt, die wirklich sehr stimmig erzählt wird - angenehm beiläufig, mit stark zurückgefahrenem Science-Fiction-Gedöns, so dass der Roman gar nicht wie der Genre-Hybrid daherkommt, für den man ihn anhand der Kurzbeschreibung halten könnte.


    Ich mag, wie dieses unglaubliche Stehaufmännchen von Hauptfigur bei seinem Nebenerwerb als Handlanger des skrupellosen District Attorneys fortwährend die Fresse vermöbelt bekommt. :eye: Was die durchgeknallten Szenen, in denen er wie ein Berserker austeilt, um so befreiender wirken lässt. Der Sympathieträger wird zum gewissenlosen Killer, was tatsächlich heißt: Zum Wahrer der eigenen Interessen. Ein Diener keiner Herren, solange die Herren einen schlecht behandeln - oder bezahlen. Gleichzeitig hängt er sein Herz ganz klassisch an eine gefährliche Frau und entschlüsselt meistens zu spät die Masken, hinter denen die Bösen und die nicht die nicht ganz so Bösen ihre wahre Identität verbergen (gute Menschen muss man mit der Lupe suchen). Auch wie Dewey zwischen die Fronten wirklich aller beteiligten Parteien gerät und bald einigen serbischen Kriegsverbrechern an den Karren fährt, ist einfach zu herrlich. Was für ein schöner Tumult! :loool: Besonders gut gefiel mir schließlich auch, dass Deweys dunkle Hautfarbe lange Zeit gar keine Erwähnung findet, bis sie durch immer wieder an ihn herangetragene Rassismen eben doch wieder zum Thema wird. 8)


    Falls man mit der schnoddrigen, sehr gegenwärtigen Umgangssprachsprache voller Halbsätze und Einschübe des Ich-Erzählers ein stilistisches Problem hat, wird der Lesespaß allerdings wahrscheinlich schnell erlahmen, denn der Tonfall ist so allgegenwärtig wie er wichtig ist, die Rasanz der Handlung aufrechtzuerhalten; wichtig auch, um den Leser empathisch einzufangen, auf dass man mit der sehr enigmatischen und "schwierigen" Hauptfigur mitzufühlen bereit ist. Wer den Sprachstil nicht mag, ist draußen. Und verpasst was! :P Dass dieser Hardboiled-Roman in einer realistisch in die Nahzukunft verlängerten Gegenwartsgesellschaft voller Spleens und Seltsamkeiten sich eigentlich gar nicht wie eine Kopie einer Kopie beziehungsweise der tausendste Aufguss überholter Schemata anfühlt, ist vielleicht seine wunderbarste Qualität. Ein literarisches Debüt mit großem und eigenwilligem Stilbewusstsein.
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    Zusatzinfo: Der Name, den sich die "Hauptfigur ohne Vergangenheit" gegeben hat, bezieht sich auf "die Dewey-Dezimalklassifikation, die international am weitesten verbreitete Klassifikation für die inhaltliche Erschließung von Bibliotheksbeständen, die Erfassung literarischer Werke. Sie wird hauptsächlich im anglo-amerikanischen Sprachraum eingesetzt. In den USA benutzen sie ungefähr 85 Prozent der Bibliotheken, vor allem öffentliche und Schulbibliotheken. Die DDC beruht auf einer Dezimalklassifikation, die ursprünglich von Gottfried Wilhelm Leibniz erdacht wurde und die der US-amerikanische Bibliothekar Melvil Dewey 1876 weiterentwickelt hat." (Quelle: Wikipedia)

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  • Der Roman erschient zuerst 2011 beim US-Verlag Akashic Books unter dem Originaltitel "The Dewey Decimal System".

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  • Im Jahr 2014 erschien auch eine französische Übersetzung von Patricia Barbe-Girault unter dem Titel "Le système D".

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  • Bereits 2012 wurde eine italienische Übersetzung von Federico Lopiparo bei Fanucci in Rom unter dem Titel "Il bibliotecario di New York" veröffentlicht.

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  • Schon 2011 erschien bei Voltaire Publishing in Stockholm eine schwedische Übersetzung von Andreas Öberg unter dem Titel "Dewey Decimal" mit dem Untertitel "En neurotisk hitman i ett sargat New York" (in etwa: "Ein neurotischer Auftragsmörder in einem zerstörten New York"). :wink:

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