William Gay - Provinzen der Nacht / Provinces of Night

  • Der Autor (siehe Krimi-Couch und englische Wikipedia): Der am 27. Oktober 1941 in Hohenwald im US-Bundesstaat Tennessee geborene William Elbert Gay war ein amerikanischer Verfasser von Romanen und Kurzgeschichten. Nach der High School diente er in der United States Navy und kämpfte im Vietnamkrieg. Nach seiner Rückkehr in die USA lebte er in New York City und Chicago, bis er sich 1978 im Lewis County, Tennessee, niederließ, wo er bis zu seinem Tod lebte. Er arbeitete als Schreiner, Trockenbauer und Maler. Obwohl er schon seit seinem 15. Lebensjahr Geschichten schrieb, veröffentlichte er nichts, bis 1998 zwei seiner Kurzgeschichten in Literaturmagazinen erschienen. 1999 kam sein erster Roman „The Long Home“ (dt. „Ruhe Nirgends“) heraus, mit dem er sich zwischen William Faulkner, Harper Lee und Cormac McCarthy einreihte und seinen Ruf als einer der herausragenden Vertreter der Southern-Gothic-Literatur begründete. 2000 erschien sein zweiter Roman „Provinces of Night“ (dt. „Provinzen der Nacht“) und sechs Jahre danach sein dritter Roman „Twilight“ (dt. Nächtliche Vorkommnisse“. William Gay starb am 23. Februar 2012 in Hohenwald, Tennessee, im Alter von 70 Jahren vermutlich in Folge eines Herzinfarktes. Im Herbst 2015 wurde der bislang unentdeckte Roman „Little Sister Death“ veröffentlicht. Für Ende 2016 ist der Roman „The Lost Country“ angekündigt (auch wenn im Internet bereits frühere Ausgaben gelistet sind).


    Klappentext (Fischer TB): In den Hügeln am Tennessee River: Der junge Fleming Bloodworth ist ganz auf sich gestellt. Sein Vater hat ihn verlassen, die anderen Verwandten sind Loser und Sonderlinge in einem gottverlassenen Flecken Erde. Aber Fleming spürt, dass der langsame Rhythmus des Lebens im Alten Süden nicht seine ganze Zukunft bestimmen wird. Und dann lernt er am Fluss ein fremdes Mädchen kennen, Raven Lee.


    Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel „Provinces of the Night“ im Verlag Doubleday, New York. Für den Argon Verlag fertigte Susanne Goga-Klinkenberg eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Provinzen der Nacht“, die auch 2002 im Fischer Taschenbuch Verlag erschien. Diese Ausgabe umfasst 359 Seiten. Im Jahr 2010 wurde der Roman „Provinces of Night“ unter dem Titel Bloodworth etwas lahm verfilmt. Regie führte Shane Dax Taylor. Die Hauptrollen spielen Val Kilmer, Kris Kristofferson, Dwight Yoakam und Hilary Duff. Der Romantitel entstammt einem Zitat aus Cormac McCarthys Roman „Child of God“, das dem Roman vorangestellt ist:

    Zitat

    Gäbe es dunklere Provinzen der Nacht, er hätte sie gefunden.


    Ein breit ausgespielter Roman, von dem ich mir gewünscht habe, er möge niemals enden. :) Die Geschichte der „sonderbaren, zur Gewalt neigenden Nachkommenschaft“ eines zum Untergang verdammten, unzuverlässigen, ruchlosen alten Mannes im ländlichen Tennessee der 1950er-Jahre, erzählt aus dem Blickwinkel seines Enkels Fleming Bloodworth. Eine leere Landschaft voller Männer, die an sich zuerst denken, die verschlossen sind und mit ihrer Unaufrichtigkeit ihr gesamtes Umfeld unglücklich machen. Die lügen und ihre Frauen verlassen.


    Im Laufe der Handlung wird der vermeintlich aus der Art geschlagene, Bücher liebende Fleming mehr und mehr in diesem psychosozialen Klima „geformt“ durch die abweisende, tumbe, selbstgenügsame, auf Krawall gebürstete und im Grunde asoziale und wahnsinnige Männerwelt. Sein letzter Kern Menschlichkeit widersteht der Umwelt bis zu einem Moment, wenn jede Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit, jedes harmlose Zugehen auf einen anderen Menschen in ihm zerrieben scheint – und genau in diesem Moment lässt er den Staffelstab aus Hass, Ablehnung, Missgunst, Neid und Gewalt ganz einfach fallen, weist das „Erbe seines Blutes“ weit von sich und entscheidet sich für den beschwerlichen Lebensweg des Mitgefühls und der Aufrichtigkeit. Ein Entscheidung gegen das, was anscheinend vorherbestimmt ist. Jeder Schritt ist besser als Stillstand. Ohne diesen Umschwung würde ich diesen Roman nicht so sehr lieben, wie ich es tue.


    Eine Generationengeschichte, bevölkert von virilen Enkelsöhnen und schwachen Vätern. Die Väter sind im Grunde reine Kindsköpfe und lächerliche Kopien ihrer eigenen Väter, die zwar auch Kindsköpfe waren, aber wenigstens noch eine gewisse Autorität besaßen, ohne nur herum zu brüllen oder wild mit den Armen zu fuchteln. Bei den Enkeln ist noch nicht ganz klar, ob sie im gleichen Trott steckenbleiben werden, im Stillstand ihrer Väter und Großväter versumpfen, oder ob sie etwas aus ihrem Leben machen. Ihr Lebenslicht hell erstrahlen lassen. Dass es um die Väter in dem Roman am wenigsten geht, wird schon rein formal an der Spärlichkeit deutlich, mit der die Geschichte von Flemings Vater Boyd erzählt wird, der eines Morgens zu Beginn des Romans auszieht, um seine Frau zu suchen, die ihn verlassen hat: Alle hundert Seiten einmal werden Boyds Abenteuer für wenige Absätze wieder aufgegriffen und erneut beiseite gelegt. Diese Beiläufigkeit wirkt fast schon wie Desinteresse des Autors. Sie lässt die Figur noch weniger bedeutsam wirken, weit mehr, als wäre sie völlig aus dem Roman verschwunden.


    William Gay folgt lieber den Figuren, die am Dasein leiden, die Gefühle haben und Mitleid empfinden, die spüren, dass da noch mehr sein muss im Leben. Und das tut er ganz famos. Die Liebesgeschichte zwischen Fleming und Raven Lee ist wirklich ganz wunderbar, eben weil es William Gay bei der Zuspitzung der Geschehnisse nicht nur um die Erzeugung einer möglichst großen Erregung beim Leser geht, auf dass dieser glaube, er habe etwas empfunden, sondern weil es Gay darauf ankommt, wie sich Menschen in so einer Situation verhalten. Und dass es möglich ist, den Teufelskreis aus Hass, Eifersucht, Kleingeisterei und Betrug zu durchbrechen.


    Der Roman ist keine putzige Ansammlung skurriler Gestalten in malerischem Südstaaten-Setting und auch keineswegs im aufgesetzten Tonfall eines ach so ruppigen, pseudo-verdüsterten Southern-Gothic-Zeitgeistes geschrieben ist. Vielleicht keine ausgefuchste Geschichte, aber ein in seiner Wahrhaftigkeit umwerfendes Sittenbild. Und wie bei jedem guten Bild geht es auch darum, was der Rezipient in das Bild hineinpacken und aus ihm herauslesen und mitnehmen kann. Es geht weniger um clevere Storylines, Plot Points und narrative Kniffe, sondern um die Erzeugung eines Gefühls beim Leser. Und William Gay versteht es wahrlich, mit Emotionen, Erinnerungen und sinnlichen Eindrücken sein Bild zu malen. Ein dicht gewebter Teppich aus Melancholie und Sehnsucht. Ein Autor, der sich für seine Figuren interessiert. Dieser Roman steckt voll tief empfundenen Mitleids für den Menschen. Warmherzig, spröde, schmerzhaft und sogar komisch. Figuren - größer als das Leben, doch dabei so erbärmlich wie das Leben. Aufbegehren gegen den Fatalismus, wenn auch ohne Garantie auf Glück. :thumleft:
    Keine halben Sachen: Höchstwertung! :)
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Die Doubleday-Erstausgabe aus dem Jahr 2000 unter dem Titel "Provinces of Night".

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • :!: Dies ist keine Rezension, sondern ein persönlicher Lesebericht. :!:


    Es dauerte nur ein paar Abschnitte, dass ich (mein Kopf) wusste: Ich lese gerade einen sehr guten Roman. Einen, der eine Atmosphäre vermittelt, die eintauchen lässt, der Personen vorstellt, die präsent sind, und der viele Geschichten in einer zu erzählen weiß.


    Dennoch sperrte sich das Buch, und ich hatte das Gefühl, dass es mit fremd blieb und dass ich, aus welchem Grund auch immer, nicht hineinfand. Passagenweise ging es besser, stockte vielfach und trieb mich doch wieder an. Ich las die Rezension von @Jean van der Vlugt in der Hoffnung, einen Anhaltspunkt zu finden - immerhin war ich durch sie erst auf das Buch aufmerksam geworden. Schnell stellte ich fest, dass es vor allem die Abschnitte um Fleming waren, auf die ich wartete und die mir nahe kamen.


    Ich breche zwar Bücher, die mir nicht zusagen, relativ schnell ab. Dennoch blieb ich dran, weil mir klar war, dass nicht das Buch das Problem war, sondern die Leserin. :-s


    Bis ich in einem anderen Zusammenhang auf ein Wort stieß: Männerbuch. :idea: Und verstand.
    Es sind vor allem Männer, um die es geht. Männer, die ihre Familien / Kinder verlassen. Die saufen und sich prügeln. Die unfähig sind, miteinander zu reden oder jemanden um Verzeihung zu bitten. Die immer den leichteren Weg suchen. Die Frauen verachten, missbrauchen und im Stich lassen.
    Eine fremde Welt. Eine Welt, die mich abstößt, ängstigt und in der ich nicht zuhause bin. Wie also sollte ich in einem Buch ankommen, das eine Welt darstellt, die mir verschlossen ist und die zu erreichen ich überhaupt nicht den Wunsch habe? Kein Wunder also, dass mich die Abschnitte ansprechen, die von Fleming erzählen, der sich nicht in die Welt begibt, die Vater, Großvater und Cousins eigentlich auch für ihn bestimmt hatten. Und wie habe ich gebangt, dass er es schafft, sich treu zu bleiben und keine Kehrtwendung zu machen.


    (In diesem Zusammenhang wurde mir klar, warum ich schon mit Donald Pollock – Die himmlische Tafel Probleme hatte und mich so lange um einen Kommentar drückte, der dann verhalten und distanziert ausfiel.)


    Weil das hier keine Rezension ist, gebe ich keine Leseempfehlung (verweise aber diesbezüglich auf @Jean van der Vlugts Beitrag oben), aber ich rate auch nicht ab, dazu ist es zu gut.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)