Sabine Friedrich - Immerwahr

  • Kurzbeschreibung (Quelle: Verlagsseite)
    Das Porträt einer eindrucksvollen Frau.
    Im Dezember 1900 wird die Chemikerin Clara Immerwahr als erste Frau an der Universität Breslau promoviert. Sie heiratet ihren Kollegen Fritz Haber, doch die Ehe ist schwierig. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 arbeitet Haber für das Kriegsministerium an der Entwicklung von Kampfgas und wird zum umjubelten Helden. Doch Clara kann diese todbringende »Perversion der Wissenschaft« nicht billigen …


    Autorin (Quelle: Verlagsseite)
    Sabine Friedrich, 1958 in Coburg geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte 1989 in München. Seit 1996 lebt sie mit ihrer Familie wieder in Coburg. Ihr erster Roman ‚Das Puppenhaus‘ wurde 1997 veröffentlicht. Weitere Romane folgten, darunter ‚Familiensilber‘ (2005) und ‚Immerwahr‘ (2007). Im Jahr 2012 erschienen Sabine Friedrichs umfangreicher Roman über den Deutschen Widerstand: ‚Wer wir sind‘ sowie ihr ‚Werkstattbericht‘ über die Entstehung dieses Romans.


    Allgemeines
    Erschienen am 1.Dezember 2013 bei der dtv-Verlagsgesellschaft als TB mit 224 Seiten
    Neuauflage im Großdruck am 9.Dezember 2016
    Gliederung: In Absätze untergliederter Romantext – Zitate von Fritz Haber – Danksagung – Wesentliche Quellen
    Erzählung in der dritten Person aus der Perspektive von Clara Immerwahr
    Handlungsort und -zeit: Berlin am 1.Mai 1915 mit Rückblicken auf Claras Leben


    Zum Inhalt
    Der biographische Roman schildert das Leben der Wissenschaftlerin Dr.Clara Immerwahr (1870-1915), die als eine der ersten deutschen Frauen einen Doktorgrad (Chemie) errang und als Menschenrechtlerin wissenschaftliche Erkenntnisse ausschließlich zum Wohl der Menschheit angewendet sehen wollte.
    Am letzten Abend ihres Lebens lässt Clara, schwer desillusioniert und depressiv, ihr Leben Revue passieren. In Rückblicken wird ihr Werdegang geschildert. Von ihrem Vater, dem Chemiker Philipp Immerwahr, ermutigt, möchte Clara ebenfalls studieren und eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen. Schon der Weg bis zur Erreichung der Studienzulassung ist für sie als Frau schwierig, an der Universität wird es nicht leichter. Sowohl unter den Studenten als auch unter den Professoren gibt es Männer, die sich gegen die Anwesenheit einer Frau in ihren heiligen Hallen wehren und auch alltägliche Dinge erschweren ihr Studienjahre: An der Universität gibt es keine Damentoiletten.
    Ungeachtet widriger Umstände promoviert Clara im Fach Chemie magna cum laude. 1901 nimmt sie den Heiratsantrag des Chemikers Professor Fritz Haber (1868 – 1934) an und hofft, an seiner Seite für das Wohl der Menschen arbeiten zu können. Doch schon bald platzen ihre Träume wie Seifenblasen, eine beschwerliche Schwangerschaft und die Tätigkeit als Hausfrau und Mutter lassen ihr wenig Raum für wissenschaftliche Tätigkeiten, sie fühlt sich und ihre Leistungen von ihrem Mann nicht anerkannt.
    Als Fritz Haber nach Anbruch des Ersten Weltkrieges seine Kenntnisse für Kriegszwecke einsetzt (Pulver für Sprengstoffe, Giftgas) und seine Frau dies unter keinen Umständen akzeptieren kann, ist die Kluft zwischen den Eheleuten nicht mehr zu überbrücken.


    Beurteilung
    Am 1.Mai 1915 findet in der Dienstvilla des Ehepaares Haber-Immerwahr in Berlin eine Feier statt, denn Fritz Haber ist kurz zuvor für seine Verdienste um das Vaterland (Ermöglichung der Giftgasherstellung zur gezielten Vernichtung der gegnerischen Soldaten in den Schützengräben) zum Hauptmann ernannt worden. Clara bringt es nicht über sich, an dieser Feier teilzunehmen, sie steht am Fenster ihres Zimmers, blickt in die Dämmerung hinaus und lässt noch einmal ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen, geleitet von der Frage, an welchen Stellen ihres Lebenswegs sie andere Entscheidungen hätte treffen können oder müssen. Die Szenen des 1. Mai sind im Präsens gehalten, die Rückblicke auf die verschiedenen Stationen ihres Lebens von der Kindheit bis in die Gegenwart werden im Präteritum erzählt. Der häufige Wechsel aus gegenwärtiger und vergangener Perspektive fordert dem Leser erhöhte Aufmerksamkeit ab.
    Diese Schilderungen werden nicht sachlich, sondern komplett aus Claras Eindrücken und Empfindungen heraus vorgenommen. Dabei wird ihr Gefühlsleben, ihre Traurigkeit und Resignation hinsichtlich ihrer unerfüllt gebliebenen Hoffnungen, so einfühlsam und einprägsam vermittelt, dass der Leser erschüttert zurückbleibt und viel Mitgefühl empfindet.
    Der gründlich recherchierte biographische Roman ist nicht nur emotional stark ansprechend, sondern auch informativ, denn es werden reichhaltige Einblicke in die Entwicklung der chemischen Wissenschaftsbereiche im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jahrhundert gegeben. Dabei treten auch diverse zeitgenössische Wissenschaftler auf, für die ein Personenverzeichnis im Anhang wünschenswert gewesen wäre.
    Auch in die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts gibt der Roman interessante Einblicke.


    Fazit
    Ein informativer und zutiefst einprägsamer biographischer Roman, thematisch stellenweise für sensible Leser nicht leicht zu ertragen. Sehr lesenswert!
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • @€nigma wäre der Thread nicht sinnvoller bei den Biografien oder den historischen Romanen eingeordnet, auch wenn es eine Romanbiografie ist? Du sagt ja selbst, dass er gut recherchiert ist. :wink:


    Danke übrigens für die Rezi. Ich habe mal einen sehr interessanten Film über dieses Paar gesehen, weiß aber leider nicht mehr den Titel. :|

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • @€nigma wäre der Thread nicht sinnvoller bei den Biografien oder den historischen Romanen eingeordnet,

    Darüber habe ich auch nachgedacht, aber mich dann dagegen entschieden, da die Darstellung nicht komplett sachlich ist, sondern sehr stark durch Claras "Brille" gesehen wird. Die historischen Fakten werden zwar korrekt geschildert, aber von Clara interpretiert.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
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  • Ein Roman und doch noch mehr ein Psychogramm einer ungewöhnlichen Frau. Zumindest bis zu ihrer Heirat war Clara Immerwahr eine ungewöhnliche Frau, die gegen alle Widerstände mithilfe ihres Vaters ein Studium der Chemie absolvierte, mit der Promotion Magna cum laude abschloss und dann sogar im Labor ihres Doktorvaters Abegg mitarbeitete. Das war alles andere als selbstverständlich und gewiss aufsehenerregend. Zu dieser Zeit schien sie alles erreichen zu können. Aber dann verfing sie sich in den Pflichten der Frauen dieser Zeit und in den Pflichten einer Ehe mit einem sehr ehrgeizigen, hochintelligenten Mann, der alles unternahm, um gegen die Widerstände seiner Zeit als jüdisch geborener Mensch Karriere zu machen. Sie zerrieb sich an allen Fronten, ihre wohl eher labile physische und psychische Gesundheit litt und zerbrach unter diesen Anforderungen und sie schien in ihrer Ehe immer mehr zu kämpfen, zu leiden und depressiv zu werden. Dies alles ist kaum belegt, zumindest kaum in eigenen Worten oder Dokumenten. Vieles ist Hörensagen durch Dritte, was diesen Roman zu einem fiktiven Psychogramm macht.

    Die Geschichte beginnt und endet in der Berliner Dienstvilla am Institut Fritz Habers. Clara steht am Fenster, kann nicht mehr weiter in ihrem Alltag und versinkt in ihren Erinnerungen. Sie führt Selbstgespräche, spinnt immer wieder die Geschichte und Geschichten ihres Lebens und Erlebens, diskutiert mit sich selbst immer das was-wäre-wenn und findet keine Antworten auf ihre vielen Fragen. Am Ende bleibt nur zu gehen, aufzugeben, ein Leben aufzugeben, in dem sie keinen Sinn mehr sieht und nie wirklich gefunden zu haben scheint. Die Autorin entwickelt das Bild einer zutiefst unglücklichen Frau und spinnt dabei alle Facetten des was-wäre-wenn und der möglichen Interpretationen ihres Selbstmordes. Nichts davon ist belegt, alles wäre möglich und wurde vielfach diskutiert. Dem Leser bleibt es selbst überlassen, welche Clara Immerwahr er sieht, hört und zu erkennen glaubt - die nachträglich hochgehobene Pazifistin oder die zutiefst depressive und unglückliche Frau. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen liegen könnte.


    Dieser Roman ist eine Studie zur Figur Clara Immerwahrs, die Sabine Friedrich als Vorarbeit zum Theaterstück „Immerwahr - Theaterstück für eine Schauspielerin in zwölf Rollen“ geschrieben hat, wie sie in der Danksagung erklärt. Das hätte mir vor dem Lesen bewusst sein sollen, denn dann hätten mich weder der Stil noch die sehr depressive Grundstimmung des ganzen Romans überrascht. So fand ich grade dieses Depressive als sehr anstrengend beim Lesen. Das mag aber einfach mein Problem sein und andere nicht so sehr stören. Ich hatte schlicht eine „normale“ Romanbiografie erwartet, da nichts am Klappentext darauf hinweist, dass es hier viel mehr um eine psychische Interpretation Clara Immerwahrs geht. Darf ich meine Erwartungshaltung dem Roman anlasten? Wohl eher nicht, daher gebe ich durchaus eine Leseempfehlung. Sabine Friedrich hat es sehr wohl geschafft, die Zerrissenheit dieser intelligenten Frau aufzuzeigen und die Lebensumstände von Frauen dieser Zeit und vor allem ihre Einschränkungen im Leben glaubhaft und deutlich darzustellen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier