Jo Walton - Das Jahr des Falken / Half A Crown

  • **Eventuell kleinere Spoiler für die ersten beiden Teile**


    Half A Crown ist der dritte Teil aus Jo Waltons Small Change-Trilogie, in der Großbritannien 1941 einen Friedensvertrag mit Nazi-Deutschland geschlossen hat. Während Die Stunde der Rotkehlchen (Farthing) dieses Szenario in einen typisch englischen Landhaus-Krimi verpackt und Der Tag der Lerche (Ha'penny) ein Versuch in Suspense ist, ist Half A Crown ein politischer Thriller – einer, der großen persönlichen Einsatz von unseren Helden fordert. (Und der englische Klappentext ist totaler Blödsinn, daher lasse ich ihn mal weg.)


    Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1960, mehr als zehn Jahre sind seit den Ereignissen in Der Tag der Lerche vergangen. Die politische Situation in Großbritannien ist noch düsterer geworden: Die Regierung baut ein eigenes Konzentrationslager, Juden und Kriminelle werden auf den Kontinent deportiert. Nach der Zerschlagung der Sowjetunion ist dieser (fast) komplett in faschistischer Hand. Jetzt wollen sich die Führer der Welt in London zu einer Friedenskonferenz treffen. Gerade da brechen Unruhen auf den Straßen aus.
    Carmichael, ehemals Inspector beim Scotland Yard, ist gezwungenermaßen Leiter der “Watch” geworden, einer Gestapo-mäßigen britischen Geheimpolizei. Für Carmichael stellt dieser Posten einen kompletten Verrat an seinen Idealen dar; er hat ihn angenommen, um seine Lieben zu schützen – und um wenigstens ein klein wenig Gutes zu tun, um wenigstens einige Unschuldige zu retten. Der grundsätzliche gute Mensch, der zu grundsätzlich schlechten Taten gezwungen wird: Das ist einer meiner liebsten Charakter-Stereotype, und Walton weiß sehr gut, wie sie aus dieser Ausgangssituation das Beste (=Schlimmste) herausholt.


    Die bewährte Struktur behält sie bei: Auch Half A Crown erzählt sie wieder abwechselnd aus Carmichaels Perspektive und aus der Sicht einer weiblichen Ich-Erzählerin. Dabei handelt es sich diesmal um Carmichaels Mündel Elvira. Von allen drei nicht ganz so sympathischen Ich-Erzählerinnen der Reihe ist Elvira die bei weitem Unsympathischste. Das ist nicht unbedingt ihre Schuld: Sie ist eine 18-jährige Debütantin, die weit über ihre eigentliche soziale Stellung hinausgewachsen ist und bald der Queen vorgestellt werden soll. Sie ist auch ein Paradebeispiel für eine Generation, die im Faschismus groß geworden ist. Dazu erzogen, eine grundsätzlich unpolitische, vorzeigbare Ehefrau zu sein, hat sie gelernt, die politische Lage im Land nicht in Frage zu stellen und jeden zu verraten, der sich gegen die Regierung und den Faschismus stellt.
    Die Kapitel aus ihrer Sicht waren für mich nicht leicht zu lesen – gerade weil Walton hier ein sehr realistisch wirkendes Portrait gelingt.


    Es war jedoch sehr interessant, Carmichael aus den Augen dieser kleinen Nachwuchs-Faschistin zu sehen. Er selbst ist ebenfalls nicht ohne Fehler, ebenfalls ein Kind seiner Zeit, mit anerzogenem Sexismus und Homophobie, obwohl selbst homosexuell. Es gibt eine sehr unschöne Szene, wo seine Ablehnung schwuler Männer besonders deutlich wird; die fand ich fast unlesbar. Mein eigentlicher Held der Geschichte ist Carmichaels Lebensgefährte Jack. Ich konnte ihn nur dafür bewundern, wie er alles mitmacht, an Carmichaels Seite steht, obwohl er sich ständig als sein Diener ausgeben muss und finanziell von Carmichael abhängig ist.
    In allen drei Büchern ist Carmichael sehr darum bemüht, das Richtige zu tun – doch die Umstände sind gegen ihn. Er versucht, auch in dieser schwierigen Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen, aber das will einfach nicht immer gelingen. Einige dieser Entscheidungen haben bittere Konsequenzen. Sein Versuch, Elviras Unschuld und Unwissenheit zu bewahren, folgt zum Beispiel den besten Absichten, tritt aber erst die Ereignisse los, die tragische Auswirkungen auf ihrer beider Leben haben sollen. Was mir in Der Tag der Lerche an Spannung und Emotionalität gefehlt hat, habe ich hier doppelt und dreifach bekommen.


    Der Tag der Lerche lebte davon, dass der Leser mehr wusste als die Charaktere. Hier ist es genau umgekehrt: Der Leser weiß nur so viel und manchmal sogar weniger als die Protagonisten. Mir ist die zweite Variante lieber, sie führt aber auch dazu, dass am Ende manche Fragen unbeantwortet und einige Fäden lose bleiben. Wer alles bis ins Kleinste aufgelöst haben will, wird sich hier am Ende vielleicht ärgern. Ich fand auch die Motive von einigen Antagonisten hier nicht immer ganz leicht nachvollziehbar - weil auch Carmichael und Elvira sie nicht nachvollziehen können, klar. Aber manche Handlung erschien mir doch etwas kleinlich und daher etwas zu weit hergeholt für politische Führer (oder?). Das Ende selbst kam vielleicht ein wenig zu rasch. Es fügte sich alles doch ein wenig zu passgenau zusammen und wirkte dadurch etwas Hollywood-mäßig. Ich war über den kleinen Hoffnungsschimmer jetzt nicht böse, kann daran geäußerte Kritik aber nachvollziehen.


    Fazit:
    Half A Crown ist ein gelungener Abschluss der Small Change-Trilogie, spannend und vor allem in der zweiten Hälfte ein echter Page-Turner. Es ist kein perfektes Buch, einige Motive der Nebencharaktere erscheinen mir etwas unklar oder weit hergeholt, das Ende zu gefällig. Aber es ist lange her, seit mich ein Buch emotional so fertig gemacht hat. Deswegen gibt es trotz kleinerer Kritikpunkte ganz subjektiv die Höchstwertung.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Die deutsche Ausgabe soll laut Vorschau des Golkonda-Verlags Das Jahr des Falken heißen und im "Herbst 2016" erscheinen. Auf Amazon ist dazu noch nichts zu finden, aber "Herbst" ist ja ein dehnbarer Begriff.


    Über die Autorin (von Amazon.de)
    Jo Walton wurde in Wales geboren, lebte viele Jahre in England und hat sich 2002 in Kanada niedergelassen. Ihr erster großer Erfolg war der Roman „Tooth and Claw“ (2003), der mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Für ihren Roman „Lifelode“ (2010) erhielt sie den Mythopoeic Award. Sie führt ein regelmäßiges Blog und schreibt für die Internetseite tor.com eine regelmäßige Kolumne.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Seit dem aufsehenerregenden Anschlag auf Hitler und den britischen Premierminister Mark Normanby bei einer Shakespeare-Theateraufführung sind zehn Jahre vergangen. Hitler hat unversehrt überlebt und regiert nach wie vor in Deutschland, Normanby kam nicht unbeschadet davon, ist jedoch in Großbritannien nach wie vor an der Macht.


    Es brodelt im Land, auch die Rechte ist gespalten. Bei einem Fackelmarsch mit Kundgebung kommt es zu Unruhen und anschließenden Verhaftungen. Auch die neunzehnjährige Elvira Royston wird in Gewahrsam genommen - dabei wollte sie nur einen unterhaltsamen Abend erleben und hat sich über die Politik noch nie groß Gedanken gemacht. Doch Elviras Vormund ist Peter Carmichael, Kommandeur des "Watch" genannten Pendants zur deutschen Gestapo, und er ist sich ziemlich sicher, dass Elvira als Druckmittel gegen ihn eingesetzt werden soll, damit er weiterhin brav auf Linie bleibt, zumal in London nur wenige Tage später eine große internationale Friedenskonferenz stattfinden soll. Denn trotz seines hohen Ranges hat Carmichael nicht nur eine homosexuelle Beziehung zu verbergen und ist dadurch höchst angreifbar.


    Im letzten Band der "Small Change Trilogy" steht kein Mordfall und keine Verschwörung zum Attentat im Mittelpunkt, die Carmichael aufklären müsste - schließlich hat er schon am Ende des 2. Teils den Arbeitsplatz gewechselt und steckt mitten im politischen Tagesgeschehen. Dieses ist Stoff genug für einen düsteren Politthriller mit rivalisierenden Strömungen innerhalb der herrschenden Partei und gesetzlich sanktionierter Diskriminierung von Juden und anderen unerwünschten Menschen. Carmichael weiß nie, wem er wirklich trauen kann, und die furchtbare Rolle, in die er Tag für Tag schlüpfen muss, belastet ihn sehr, gerade weil ihm klar ist, dass es keinen gangbaren Ausweg für ihn gibt, wenn er nicht seine Liebsten gefährden will.


    Mit der Eskalation auf dem Fackelzug und der Verhaftung der politisch unbedarften Elvira wird das Eis auf einen Schlag für ihn noch viel dünner, und es scheint unausweichlich, dass er in eine fatale Abwärtsspirale aus Verrat und Gewalt hineingesogen wird.


    Waltons alternatives Großbritannien ist in diesem letzten Teil noch trostloser, düsterer und menschenverachtender geworden, was sich aber nicht in epischen Schilderungen zeigt, sondern durch oft ganz subtil am Rande erwähnte Kleinigkeiten wie die Pläne zur Errichtung eines Konzentrationslagers in Gravesend. Die unschuldig im Gefängnis gelandete Elvira schildert die Willkür des totalitären Systems aus ihrer eigenen, oft recht naiv wirkenden Sicht, und die zweite Erzählperspektive, wie immer die des ewig zweifelnden und innerlich zerrissenen Carmichael, der hier mehr als je zuvor am Rande des Abgrunds steht, ist die perfekte Ergänzung dazu.


    Ohne Effekthascherei und blutige Gewaltszenen beschwört Jo Walton ein politisches Gruselszenario erster Güte herauf, das mich gleichermaßen atem- wie fassungslos immer weiterlesen ließ. Ein mehr als würdiger Abschluss der Trilogie.

  • Es war jedoch sehr interessant, Carmichael aus den Augen dieser kleinen Nachwuchs-Faschistin zu sehen.

    Ich fand Elvira gar nicht so furchtbar unsympathisch. Natürlich habe ich auch jedesmal geschluckt, wenn ihre "politischen" Ansichten zur Sprache kamen, aber in meinen Augen waren sie genau das nicht, wirklich politisch. Sie hat einfach nachgeplappert, was ihr lebenslang eingetrichtert worden war.


    Klar mag man ihr vorwerfen, dass sie das nicht stärker hinterfragt hat (wie ihre Freundin Betsy das ja gelegentlich tut), aber ich fand ihre Darstellung gerade realistisch. Sie will ihr Leben leben und die Politik den Politikern überlassen, wie viele andere auch. Ich sehe sie weniger als echte Nachwuchsfaschistin denn als ein Kind ihrer Zeit und möchte ihr das nicht unbedingt zum Vorwurf machen. Auf mich wirkte sie hauptsächlich unbedarft und naiv (und als solche natürlich leichte Beute für unreflektiertes Nachbeten faschistischer Parolen).