Henry Roth - Nenn es Schlaf / Call It Sleep

  • Der Autor (anhand deutscher und englischer Wikipedia, Verlagsinfo und einem Lebenslauf auf den Seiten der American Jewish Historical Society): Henry Roth, der am 8. Februar 1906 bei Stanislau geboren wurde, dem heute urkainischen Iwano-Frankiwsk, damals in Galizien, Österreich-Ungarn gelegen, war ein jüdisch-amerikanischer Romancier und Verfasser von Kurzgeschichten.


    Als Zweijähriger übersiedelte er 1908 (oder 1909) mit seinen jüdischen Eltern nach New York City, lebte zuerst im Brooklyn-Viertel Brownsville, ab 1910 in den Slums von Manhattans Lower East Side, einer vor allem jüdisch geprägten Nachbarschaft, ab 1914 in Harlem und studierte ab 1924 am City College in New York, um Biologielehrer zu werden. Hier traf er die weitaus ältere Dichterin und Literaturprofessorin Eda Lou Walton, die ihn während der Niederschrift seines ersten Romans emotional und finanziell unterstütze.


    Sein Debütroman „Call It Sleep“ (dt. „Nenn es Schlaf“), den er zwischen 1930 und 1934 schrieb, spielt in der Lower East Side unter jüdischen Einwanderern. Im Herbst 1934 wurde der Roman veröffentlicht, erhielt gemischte Kritiken und ging in der Weltwirtschaftskrise unter. Die Arbeit an einem zweiten Roman mit dem Arbeitstitel „If We Had Bacon“ stürzte Roth in eine schwere Schreibblockade, die im Großen und Ganzen bis 1979 anhielt. Durch die Neuauflage von „Call It Sleep“ im Jahr 1964, von dem damals mehr als eine Millionen Taschenbücher verkauft wurden, wandelte sich auch das allgemeine Kritikerecho bezüglich des Romans, der seitdem als „großer amerikanischer Roman“, ein Meisterwerk aus der Zeit der Großen Depression und als Klassiker jüdisch-amerikanischer Literatur überhaupt gilt.


    1939 heiratete Henry Roth die Pianistin und Komponistin Muriel Parker. Während des Zweiten Weltkrieges verdingte er sich als Werkzeugmacher und Metallschleifer. Das Paar zog nach Bosten, bekam dort zwei Söhne und ließ sich 1946 in Montville im US-Bundesstaat Maine nieder, wo Roth als Förster und Lehrer, vier Jahre als Krankenpfleger in einem staatlichen Irrenhaus, als Wasservögelfarmer und Dozent für Latein und Mathematik arbeitete. Einige seiner Kurzgeschichten erschienen noch in Literaturmagazinen wie dem „New Yorker“, doch für das stetige Einkommen sorgte seine Frau Muriel, die an einer Grundschule Unterricht gab.


    1968 zogen Henry Roth und seine Frau nach Muriels Pensionierung in einen Trailer Park in Albuquerque im US-Bundesstaat New Mexico, wo sie wieder zu komponieren begann und er vorsichtige Schreibversuche unternahm, Essays und Kurzgeschichten verfasste, die auch in dem 1987 veröffentlichten Sammelband „Shifting Landscape: A Composite, 1925–1987“ enthalten sind.
    Nach Muriel Parkers Tod machte sich Roth nach einer Roman-Schreibpause von fast 60 Jahren an die autobiographische Romantetralogie „Mercy of a Rude Stream“ (dt. „Die Gnade eines wilden Stroms“), die im Original zwischen 1994 und 1998 veröffentlicht wurde. Henry Roth starb am 13. Oktober 1995 mit 89 Jahren in Albuquerque, New Mexico. 15 Jahre nach seinem Tod erschien aus dem Nachlass, von einem Lektor des „New Yorker“ bearbeitet und herausgegeben, sein letzter Roman „An American Type“, in dem die Geschichte Ira Stigmans aus „Mercy of a Rude Stream“ weitergeschrieben wurde.


    Klappentext: „Nenn es Schlaf“ ist die Geschichte von David Schearl, der 1907 als kleiner Junge mit seiner Mutter aus Galizien nach Amerika kommt. Hier, an der Lower East Side New Yorks mit ihren miefigen Häusern, düsteren Straßen und einer beklemmenden Armut, lebt der Vater, ein jähzorniger Mann mit wechselnden Arbeitsstellen, schon länger. Das Verhältnis zu seiner Frau Genya ist gespannt, dem Sohn gegenüber zeigt er sich unnachsichtig und brutal, so dass sich David verängstigt an die immer liebevolle Mutter klammert. Genya, die nur Jiddisch spricht, fühlt sich fremd in einer ihr unverständlichen Umgebung und lebt allein für ihr Kind. Durch Davids Augen sieht man die enge Welt einer jüdischen Familie, den ewigen Streit der Eltern, die ihn hänselnden, besser angepassten Nachbarkinder, das furchteinflößende dunkle Haus. Mehr und mehr flieht das sensible Kind in Phantasien und Träume, steigert sich in Schuldgefühle hinein. Die Unvereinbarkeit von innerer und äußerer Welt zerreißt David, treibt ihn zu einer Wahnsinnstat ...


    Der Roman erschien im Original 1934 unter dem Titel "Call It Sleep". Die deutsche Übersetzung von Eike Schönfeld erschien unter dem Titel "Nenn es Schlaf" 1998 als Hardcover bei Kiepenheuer & Witsch in Köln. Diese Ausgabe hat 525 Seiten.


    Meine Meinung: Ein Roman über den angstgeplagten, armseligen, gewalttätigen Alltag eines jüdischen Einwandererjungen aus Osteuropa etwa zwischen seinem sechsten und neunten Lebensjahr, in New Yorks Lower East Side vor dem Ersten Weltkrieg angesiedelt. Erzählt fast vollständig aus Sicht des Kindes, was ich in dieser Wucht so noch nie gelesen habe. Die Sprache bedient sich ausführlich bei Soziolekten, Straßenslang, verschliffener Umgangssprache und schlecht beherrschtem Englisch, was in der deutschen Übersetzung recht gut, authentisch und „unpeinlich“ übertragen wurde. Das Milieu erscheint mir ausgesprochen realistisch eingefangen.


    Sehr ausführlich reihen sich Alltagsepisoden aus der Familie, vom Spielen und Herumstromern auf der Straße und aus dem strengen Schulalltag im Cheyder aneinander, der jüdischen Grundschule, in der ein Rabbiner vor allem die Grundlagen des Judentums und Hebräisch unterrichtet. All diese Episoden illustrieren die Angst und die Schuldgefühle eines Kindes, auf dessen Bedürfnisse kaum eingegangen wir, das nur zu funktionieren hat. Andere “Hintergedanken” hat der Roman - neben dem Bewahren eines in dieser Form untergegangenen Milieus - nicht: Es gibt keine bebilderten Lebensweisheiten wie “Allein geschafft aus eigener Kraft” oder “Wer etwas wirklich will, kann alles erreichen”, die das Elend für lahme Leser erträglich machen würden. Das mag manches Mal für einige sicherlich etwas anstrengend zu lesen. Auch, dass der Junge ein eher weinerliches Muttersöhnchen ist, zerrt an den Nerven des Lesers, da die Ängste ungefiltert aus der Sicht des Kindes erzählt werden - anstregend vielleicht, aber auch sehr, sehr eindrücklich. :shock: Hoffentlich wird so jedem klar, dass der Junge durch den brutalen, lieblosen Vater gewissermaßen zum Muttersöhnchen gemacht wurde, auch durch das Leben auf der Straße, gespielt nach den erbarmungslosen Regeln von Kinderbanden, und durch die ständige Gängelei durch wildfremde Erwachsene, Nachbarn, Polizisten oder Lehrer, die Kindern gegenüber glauben, sich jede Entwürdigung herausnehmen zu dürfen. Und überhaupt: Wer beim Lesen „Muttersöhnchen“ denkt, hat sowieso schon die Sprache und Denkweise der Unterdrücker, Katzbuckler und Lebensfeinde angenommen. Man bedenke: Davids Alltag sollte eigentlich jeden Menschen, der sich noch einen Funken Feingeist und Menschlichkeit bewahrt hat, an Mutters Rockschoß zurücktreiben. Es geht hier nicht nur darum, dass David kein Eis bekommt und zum Schlafengehen pünktlich nach Hause kommen soll, sondern um Chancenlosigkeit, Erniedrigung, Armut, Gewalt und Außenseitertum. Dass David von seinem jähzornigen Vater, der im Stillen die Vaterschaft überhaupt anzweifelt und gar keinen Bezug zu seinem Sohn sucht, eines Tages totgeschlagen wird, ist so unwahrscheinlich nicht ... 8-[


    Zum Ende hin zieht der Roman plötzlich das Tempo an und verwickelt den Jungen in einen äußerst spannenden Strudel aus unguten Entscheidungen, schüchternen Versäumnissen, falschen Freunden, Streit und Gebrüll, Geistern der Vergangenheit und schrecklichen Ereignissen der Gegenwart ein. Die Schlinge zieht sich immer stärker zusammen. Was David auch tun mag, scheint ihn nicht heil aus der Falle heraus zu bugsieren. Und so endet der Roman mit einem lauten Knalleffekt - und eigentlich ohne jede Entlastung. Schuld und Sühne? Alles bleibt den Menschen in den Knochen stecken! Aber wie soll man das ganze Elend und Leid der Menschen, und sei es für ein einzelnes Leben, auch billig im Laufe eines einzelnen Buches lösen? Die konsequent durchgezogene Erzählhaltung und der straßenköterartige Blick à la Heinrich Zille oder Jacob Riis auf das Elend in den Bruchbuden, auf den Häusertreppen und Straßenschluchten nötigen mir großen Respekt ab. Oder anders gesagt: Der Roman ist richtig klasse! :thumleft:
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  • Eine englische Kindle-Ausgabe des Romans als Reprint beim Verlag "Farrar, Straus and Giroux" aus dem Jahr 2013.

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  • Eine französische Ausgabe unter dem Titel "L'or de la terre promise", übertragen von Lisa Rosenbaum. 2009 bei Grasset & Fasquelle erschienen.

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