Juli Zeh - Unterleuten

  • Kurzmeinung

    Marie
    Unterhaltung vom feinsten, sprachlich ansprechend, Klischees nimmt man hier getrost in Kauf
  • Kurzmeinung

    Magoona
    Leider teilweise etwas sehr langatmig, sonst mega!
  • Über die Autorin:
    Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Parallel dazu Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig bis zum Jahr 2000.
    Schon ihr Debütroman „Adler und Engel” (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015). Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit engagiert sich Juli Zeh auch politisch.
    (Quelle: Homepage der Autorin, Wikipedia)


    Buchinhalt:
    Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf “Unterleuten” irgendwo in Brandenburg. Als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …
    (Quelle: Homepage zum Roman)


    Der Roman umfasst 640 Seiten und ist unterteilt in sechs Teile, die wiederum in viele kleine Kapitel unterteilt sind. Kapitelüberschriften sind jeweils die Namen derjenigen Personen, aus deren Sicht das Kapitel die Geschehnisse im Dorf schildert. Zum Teil sind diese Kapitel sehr kurz und umfassen nur wenige Seiten.


    Meine Meinung:
    Ich finde es grad etwas schwierig, das Buch zu beurteilen. Gelesen habe ich es nicht ganz freiwillig, da sich mein Lesekreis 5:1 dafür als nächste Lektüre entschieden hat. Ratet, wer die eine Gegenstimme war. Nach meiner ersten Begegnung mit Juli Zeh und ihrem Roman „Spieltrieb“ vor vielen Jahren wollte ich eigentlich nie wieder ein Buch von ihr lesen, da ich die Geschichte einfach nur als ein fürchterliches, überzogenes, verquastes Machwerk empfinde. Vor 4 Jahren dann las ich „Nullzeit“ und das war schon besser. Bei „Unterleuten“ muss ich sagen, Juli Zeh hat sich schriftstellerisch wirklich entschieden weiterentwickelt, zumindest meiner persönlichen unmassgeblichen Meinung nach.


    Sie erschafft das Dorf Unterleuten (ein durchaus passendes Wortspiel) im Jahr 2010 mit all seinen unterschiedlichen Menschen in einer hervorragend dichten Art und Weise, so dass man – selbst ohne einen Blick auf die Homepage des Buches, die ich erst jetzt entdeckte – das Gefühl hat, mit den Menschen durch ihr Dorf und die Umgegend zu laufen. Da die Autorin seit 9 Jahren im Havelland lebt, hat sie wohl die Gegend und die Menschen dort ganz gut kennen gelernt und kann das sehr bildhaft transportieren ohne in den verquasten, überladenen Schreibstil von „Spieltrieb“ zu verfallen. Im Gegenteil, sie schreibt leicht und locker und sorgt dafür, dass man, ohne es zu merken, Seite um Seite liest, weil man wissen will wie es weitergeht mit diesem Konflikt, dessen eigentliche Gründe viele Jahre zurück in der Vergangenheit liegen. Die Menschen erscheinen bildhaft vor dem geistigen Auge, sie bekommen Gestalt und Gesicht und die Charaktere sind schnell eindeutig und erkennbar. Die Charaktere bestimmen dann auch den Verlauf der Geschichte, denn der von der Landesregierung geplante und geforderte Windpark ist nur der Auslöser, um alte und neue Wunden wieder aufbrechen zu lassen. Dazu gehört nicht viel, es hätte weniger gereicht, denn die Konflikte sind nie verschwunden, sondern nur notdürftig unter der Oberfläche versteckt, da diverse Charaktere der Alteingesessenen sie nie haben wirklich ruhen lassen.


    So weit, so gut – es hat schon wirklich Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen. Doch jetzt kommt das Aber, denn leider konnte die Autorin ihrem Hang zum Überladen doch nicht so wirklich widerstehen. Hat sie diesen Hang sprachlich im Griff, so ist sie ihm leider bei der Zahl der Charaktere und den Klischees, die sie verkörpern, wieder verfallen. Wir finden


    Auch in weiteren Kleinigkeiten wie z.B. dem Ortsnamen Groß Väter für ein Nachbardorf zeigt sich dieses Zuviel. Es hätte eindeutig weniger gereicht, um die Geschichte genauso spannend zu erzählen. Und auch das Ende hat eindeutig zuviel Dramatik für meinen Geschmack und ich glaube nicht, dass die Autorin damit den Menschen in ihrer neuen Heimat wirklich gerecht wird oder gar einen Gefallen tut. Dieses Überladene an Klischees ist mir sofort ins Auge gefallen und hat mich durchgängig gestört – zwar nicht so sehr, dass es meinem gleichzeitigen Gefallen am Fortgang der Geschichte im Weg gestanden hätte, aber es ist der Grund dafür, warum ich dem Buch vier und nicht fünf Sterne gebe.


    Mein Fazit:
    Ein lesenswertes Buch, das sehr gut erzählt ist trotz der Überladenheit an Klischees. Es interessiert mich, wie jemand die Geschichte empfindet, der in der ländlichen DDR aufgewachsen ist und dort die Wende erlebt hat – wie stark verändert der eigene persönliche Hintergrund die Wahrnehmung von Juli Zehs Roman über die Bewohner eines nach der Wende abgehängten Dorfs.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Danke, @Squirrel. Das Buch liegt seit meinem Geburtstag auf dem SuB, ein Geschenk von jemandem, der meinte, er müsse mir ein ganz neu herausgekommenes Buch schenken, denn "alle anderen hast du ja schon". :lol:
    Vielleicht sollte ich es nach oben legen. Also nicht ganz nach oben, denn da liegen 12 Bücher von meinem Beutezug in der Bücherei, aber so ein bisschen drunter.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • ein Geschenk von jemandem, der meinte, er müsse mir ein ganz neu herausgekommenes Buch schenken, denn "alle anderen hast du ja schon". :lol:

    so ganz Unrecht hat er mit dem Gedanken ja nicht :loool: immerhin hat er sich getraut, Dir ein Buch zu schenken :applause:


    Und ich bin gespannt auf Deine Meinung, wir sind uns ja nicht immer so einig :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Hallo liebe Büchertreff-Gemeinde,


    nun endlich ist es soweit, dass ich meine erste Rezension hier ins Forum einstellen darf, nachdem ich gestern das Buch "Unterleuten" zu Ende gelesen habe.
    Zunächst möchte ich sagen, dass ich nicht nochmal eine allgemeine Inhaltsangabe über das Buch schreiben möchte, weil dieses durch Squirrel bereits ausreichend und sehr gut beschrieben wurde.


    Aufmerksam geworden auf das Buch bin ich durch die Sendung "Das literarische Quartett" im ZDF in welcher das Buch äußerst kontrovers diskutiert wurde und somit mein Interesse geweckt hat.


    Ich muss sagen, dass das Buch vor allem eines ist: SEHR UNTERHALTSAM!! Man würde neudeutsch auch "Lageturner" dazu sagen, was manchen vielleicht bei einem Heimatroman überraschen wird.
    Aber es ist ein Heimatroman mit einem gerade im ländlichen Gebiet aktuellen und heiß diskutierten Thema : "Windkraft". Es wird der komplette Mikrokosmos eines ländliche Dorfes beschrieben der, da ich selber in einem kleinen Nest wohne, durchaus (egal ob in Ost oder West) existieren kann.
    Man lernt verschiedene Charaktere und Figuren kennen mit all Ihren unterschiedlichen Eigenschaften, Vorlieben und Schwächen. Besonders pikant wird dies, da hier der "neue moderne Westen" auf den "nostalgischen Osten" trifft. Man kann sagen, es erfolgt eine gewisse Kollision der Kulturen.
    Ohne das in den ersten 500 Seiten eine enorme Action etc. stattfindet, kann man trotzdem nicht aufhören zu lesen, da die Geschichte einen von Anfang an fesselt.
    Zu Anfangs hatte ich Bedenken, dass mich die vielen vorkommenden Figuren verwirren etc. könnten, was aber nicht der Fall ist, da das Buch von der Autorin hervorragend strukturiert wurde. Das Buch ist ebenfalls sehr verständlich sowie leicht ironisch beschrieben und hängt sich nicht an Einzelheiten bzgl. Beschreibungen etc. auf.
    Ein kleiner Kritikpunkt meiner Seite aus besteht am Ende des Buches: Die vielleicht nicht ganz überraschende Wende zum Ende des Buches hätte meiner Meinung nach nicht so dramatisch ausfallen müssen, da dass Buch auch ohne diese Dramatik sehr gelungen ist.
    Interessant sind auch diverse "Nebenschauplätze" die die Autorin angelegt hat : U.a. gibt es richtige Facebook-Profile einzelner Romanfiguren sowie sehr gut gestaltete Homepages der örtlichen Kneipe sowie des Vogelschutzbundes wo man sogar T-Shirts und ähnliches erwerben kann. Wenn denn dies so beabsichtigt war, ist es der Autorin neben der Niederschrift eines guten Buches gelungen, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu verwischen.


    Deshalb von meiner Seite eine absolute Lese-Empfehlung in Höhe von : :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Ich hoffe ich konnte in manchem die Lust zum Lesen wecken und wünsche allen viel Spass bei "Unterleuten"!


    Viele liebe Grüße!


    Euer Oscar

  • Wenn in Unterleuten, einem kleinen Dorf in Brandenburg, überwiegend Kopien der eigenen Person leben würden, dann, ja dann wäre das Leben dort vermutlich sehr idyllisch und harmonisch. So aber treffen Menschen aufeinander, von denen sich jede/r im Besitz der alleinglückseligmachenden Wahrheit meint, während der Rest nur Stuß verzapft. Darüberhinaus pflegen praktisch Alle ihre Vermutungen und Erwartungen über die Anderen, die im seltensten Fall positiv sind. Jede/r traut jeder/m das Schlechteste zu und fast wie eine Art selbsterfüllender Prophezeiung geschehen Dinge, die die eigene Meinung noch bestätigen. Statt miteinander wird mehr übereinander geredet und so verbreiten sich Mutmaßungen und Argwohn in Windesweile im Dorf. Stadtbewohner (junge Frau, alter Mann) gegen grobschlächtigen Einheimischen - die Frau nennt diesen nur 'das Tier'. Naturschützer gegen Unternehmen - man schreibt Briefe. Kommunist gegen Kapitalist - eine Feindschaft, die keinerlei sachliche Grundlage hat. Ehemann gegen Ehefrau in unterschiedlichen Konstellationen - Erwartungen und Vermutungen werden nicht ausgesprochen, stattdessen schweigt man bis zum bitteren Ende. Als dann im Dorf ein Streit über die Errichtung eines Windparks beginnt, werden diese Beziehungsgeflechte auf's Äußerste strapaziert, wobei die alten Konflikte mit einer ungeheuren Heftigkeit wieder aufbrechen und die NeubürgerInnen direkt miteinbeziehen.
    Obwohl das Buch mehr als 600 Seiten hat, lässt es sich weglesen wie ein Unterhaltungsroman. Die Figuren, die erst recht klischeehaft daherkommen, entwickeln sich ziemlich schnell zu eigenständigen Persönlichkeiten, sodass von der ursprünglichen Schablonenhaftigkeit nicht mehr viel bleibt. Gombrowski beispielsweise, der massige, ungeschlachte und auch brutale Wendegewinner hat eine überaus sensible Seite, von der aber nur die Wenigsten wissen - was ihn dennoch nicht von seinem Verhalten Anderen gegenüber freispricht. Schaller, sein ehemaliger Angestellter und Handlanger ist ähnlich ungeschlacht, wenn auch nicht so schlau wie dieser. Sein Schicksal ist derart unvorstellbar, dass ich mehr Mitgefühl als alles andere für ihn empfand. Und so ist es bei fast allen Figuren in diesem Roman, so eindimensional zu Beginn sie auch daherkommen mögen: Jeder/r von ihnen hat eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. Von Juli Zeh habe ich kürzlich in einem Interview gelesen, dass Jonathan Franzen einer ihrer Lieblingsschriftsteller ist. "Mit seinem Roman 'Freiheit' kam ich mir wieder vor wie als Kind, als ich mit der Taschenlampe unter der Decke Seite um Seite verschlungen und alles andere vergessen habe. Es gibt nicht viele, die es beherrschen, so realistisch zu erzählen, ohne dass es dröge wird. Franzen schafft es, die Welt in der wir leben, anschaulich zu machen." Liebe Juli Zeh, Sie schaffen das auch! Danke dafür!

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Inhalt

    Frederik hat als Kind seiner Zeit schon als Schüler gemeinsam mit seinem Bruder das erfolgreichste Browserspiel aller Zeiten programmiert und vermarktet. Als Arbeitsnomade folgt er zunächst seinem Bruder nach Berlin und weiter seiner Partnerin nach Brandenburg. Linda sieht als gelernte Pferdewirtin das Potential des Dorfes Unterleuten und will mit ihrem Zuchthengst in die Pferdezucht und eine Karriere als Pferdeflüsterin einsteigen. Beide campieren noch auf der Baustelle ihres verlassenen Gehöftes, Frederik arbeitet weiter in Berlin. Lindas drängendstes Problem ist, dass sie noch keine Pferdekoppel direkt am Haus hat und ihr Pferd nicht nach Unterleuten holen kann. Die Naturschutzvorschriften sehen keine Nutzungsänderung der Nebengebäude vor und die Beschaffung einer Koppel erweist sich als unerwartet kompliziert. Linda gerät zunächst mit Gerhard aneinander, dem für den Vogelschutz von exakt 16 Brutpaaren des seltenen Kampfläufers Zuständigen in der Unterleutener Heide. Gerhard hat eine erstaunliche Karriere vom mäßig erfolgreichen Soziologie-Dozenten und Gorleben-Veteranen zum Fulltime-Naturschützer hingelegt und ist mit 50 Jahren frischgebackener Vater. Als zum einen ein Investor sein Kapital durch Landkauf um Unterleuten herum gerade rechtzeitig vor der Wirtschaftskrise rettet und zum anderen der Windenergie-Konzern Vento Direct einen Windpark errichten will, eskalieren die Dinge im Dorf.


    Zusätzlich zu den üblichen Konflikten zwischen Alt und Jung, zwischen Ex-DDR-Kadern, Wendehälsen und Zugezogenen, zwischen Idealisten und Absahnern stellt sich nun die lebenswichtige Frage, wem welche Flurstücke gehören und wer an wen verkaufen würde, damit die Ansiedlung möglich wird. Das entscheidende Rädchen im Getriebe war bisher Gombrowski, der nach der Wende noch in letzter Minute vor der Zwangsauflösung die Umwandlung der ehemaligen LPG Gute Hoffnung in die Ökoligica GmbH hinlegte. Gombrowski hat sich den Neid seiner Nachbarn schwer erarbeitet, pflegt gemeinsam mit seinem Gegner Kron einen seit der Zwangsenteignung der Bauern in der DDR schwelenden Groll. Kron, der Bürgermeister von Gombrowskis Gnaden, scheint darüber hinaus bisher der einzige gewesen zu sein, der auch nur einen Gedanken an Infrastruktur und Dorfentwicklung verwendete. Zudem ist Gombrowski als studierter Landwirt als einziger in der Lage, einen großen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen. D. h. wer nicht nach Berlin auspendeln wollte, musste bisher bei Gombrowski arbeiten. Probleme, wo Lindas Pferd weidet und wer an welchen alten Geschichten die Schuld trug, wirken im Vergleich zu den drängendsten Fragen des Dorfes wie Kinderkram. Zur Finanzierung von Kindergarten, Straßen und Abwassersystem braucht die Gemeindekasse dringend Geld. Ohne Infrastruktur werden weder Touristen zu werben sein, noch sich Betriebe im Ort ansiedeln.


    Das Prinzip Dorf funktionierte schon von jeher als fein austariertes Geflecht aus Tauschgeschäften, sowie Vorleistungen, für die (gern auch über drei Ecken) irgendwann in der Zukunft Gegenleistungen eingefordert werden können. In eben diesem heiklen Geflecht ist nun die Entscheidung über den zukünftigen Windpark zu treffen. Lindas Vorteil in der Auseinandersetzung scheint bisher zu sein, dass niemand ihr taktisches Vorgehen zutraut, weil ja allgemein bekannt ist, dass Leute aus dem Westen keine Ahnung haben, ganz besonders die Frauen.


    Fazit

    In knappen, oft bissigen Dialogen lässt Julie Zeh hier Prototypen und Befindlichkeiten der deutschen Gegenwart auftreten. Allein die privaten Konflikte der Unterleutener würden einen umfangreichen Roman ergeben, von den Geschäften und der Bewältigung der DDR-Vergangenheit noch gar nicht zu reden. Nach den ersten drei Personenbeschreibungen war ich mir sicher, das Konzept einer geplanten Vorabendserie in der Hand zu haben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das virtuelle Unterleuten auf seiner eigenen Webseite. Die Verwicklungen „unter Leuten“ sind u. a. sprachlich ein hintersinniger Genuss, wenn z. B. populäre Klischees konstruiert werden (wer einen Beamer mitbringt, gehört zu den Bösen) oder die im Ausdruck noch immer bestehende Ost-West-Teilung sich darin zeigt, dass in Unterleuten der Arbeitsplatz Arbeitsstelle genannt wird. Spannend und witzig zu lesen, wenn ich auch den Begriff Gesellschaftsroman für die Unterleutener etwas zu hoch gegriffen finde.


    Zitat

    "Vielleicht, dachte Arne, wurden Gefühle einfach nicht so alt wie Menschen. Ab einem gewissen Alter lebten Ehepartner wie Mitbewohner in einer WG, falls sie nicht längst geschieden waren. Kinder und Eltern hörten auf, einander zu mögen, besuchten sich trotzdem und waren froh, wenn der andere wieder verschwand. Freunde verloren sich aus den Augen, Nachbarn verwandelten sich in Feinde. Liebschaften wurden lästig, alte Schulkameraden peinlich, und selbst ein Haustier fing irgendwann an zu nerven. Jenseits von jugendlichen Leidenschaften begegnete man der Welt am besten mit gut gekühltem Pragmatismus. Arne beschloss, dass das normal war, es wurde nur selten darüber gesprochen. Kein Grund zur Sentimentalität." (S. 441)


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Einerseits muss ich Squirrel Recht geben, denn die Klischees der Dorfbewohner waren schon ein wenig übertrieben und auch einige dramaturgische Ausreißer, die die Geschichte aus ihrer Lethargie gerissen hat, waren etwas Zuviel des Guten. Vor allem, was am Ende passiert, fühlt sich teilweise wie ein Fremdkörper an. Andererseits war "Unterleuten" vollkommen unspektakulär und mich wundert, das eine Geschichte über ein Kaff, in dem Windräder platziert werden sollen, und bei dem sich die Bewohner nicht unbedingt einig sind, überhaupt jemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Was mich allerdings absolut überzeugt hat, war der Schreibstil von Juli Zeh. Der hatte es mir von Anfang an angetan. Manchmal lernt man doch noch einen Autoren kennen, bei dem nahezu jeder Satz wie Öl runtergeht und das hat sie bei mir wirklich gut geschafft. Wenn jetzt auch noch die Geschichte ein klein wenig interessanter gewesen wäre, dann wäre auch die Höchstwertung drin gewesen. Von mir gibt es :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: Matthias Bogner / Kevin Zindler - Die besten Horrorfilme des 21. Jahrhunderts

    :study: SUB: 330

  • Also ich hatte das Gefühl, die übertriebene Darstellung der Charaktere war absolut gewollt. Ich glaube, dass Juli Zeh sehr wohl weiss, dass sie sich vieler Klischees bedient, und das auch so gewollt hat. Denn - wie ihr schon festgestellt habt - macht sie das immer. Ganz stark auch wieder bei "Nullzeit", und auch bei "Schilf".


    Ich mag das.


    Mich hat das Buch von vorne bis hinten begeistert und ich kann momentan gar nicht genug von der Autorin bekommen.

  • Mein erstes Buch von Juli Zeh. Ich fand es sprachlich top. Sehr angenehm und eine wahre Wohltat im Vergleich zu anderen Büchern (was vielleicht auch nicht für das „Niveau“ meiner durchschnittlichen Lektüre spricht :wink:). Bei juristischen Begriffen wie „Genehmigungsverfahren“, „Amortisieren“ usw. hüpfte mein Herz vor Freude. :lechz:

    Für mich war das Buch vom Anfang bis zum Ende ein wahrer Wohlgenuss und sicher nicht mein letztes Buch der Autorin.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Spitzenliteratur

    Juli Zeh kennt die Menschen. Sie schaut in die Seele eines Jeden. Und entdeckt alle Abgründe. Du fühlst dich ertappt und fragst dich, woher kennt Juli Zeh diese Einzelheiten.

    Warum kommen Nachbarn nicht miteinander friedlich aus?

    Warum prügeln sich gebildete Menschen, Intellektuelle.

    Mit großem Genuss lese ich die Beschreibung einer Tussi, der Pferdeflüsterin. Fang nie etwas mit einer Pferdenärrin an, du bist immer an der zweiten Stelle. Ich glaube das gilt auch für Hundefrauen. Von Berlin in die Pampa. Großartig. Ich lebe auf dem Land, es ist phantastisch, alle meine Nachbarn leben noch. Juli Zeh, ich liebe deine Bücher.

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Spitzenliteratur

    Ich habe das Buch gerade beendet und kann mich nur anschließen: Spitzenliteratur. Absolut grandios. Unsere heutige Gesellschaft in a nutshell sozusagen. Mein Liebling ist der Naturschützer, aber ich liebe auch alle anderen.

    Das beste Buch von Juli Zeh bisher.

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous

  • Juli Zeh kannte ich bislang nur aus dem Fernsehen. Sie ist eine kluge und eloquente Frau, bei der mich allerdings manchmal der Eindruck beschleicht, sie wisse stets ganz genau, was Gut und Böse, Richtig und Falsch sei, und das schüchtert mich, die ich immer so voller Zweifel bin, etwas ein.


    Dies ist also mein erster Roman von ihr und es ist alles drin: ein großes Figurenensemble, schnelle Szenenwechsel, viele Dialoge. Eine Dorfgemeinschaft beginnt zu zerbröckeln, alte Wunden brechen auf, ein dunkles Geheimnis kommt ans Tageslicht, dazu jede Menge Zeitgeistthemen, die zumindest angerissen werden. Das liest sich sehr spannend und unterhaltsam, keine Frage. Aber kaum hatte ich das Buch zugeklappt, war es auch schon vollkommen aus meinem Gedächtnis entschwunden, es hat mich keine Sekunde länger beschäftigt.


    Ich habe mich gefragt, woran das liegt. An den Figuren selber nicht. Sie sind zwar typenhaft, zum Teil fast Karikaturen, aber gerade auch durch den häufigen Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive so differenziert gezeichnet, dass sie interessant bleiben. Juli Zeh wollte wohl auch weniger Einzelschicksale, als vielmehr die gesellschaftliche Befindlichkeit unserer Zeit beschreiben, was ihr durchaus gelungen ist. Sie zeigt, wie das Ausleben des eigenen Individualismus mehr und mehr auf Kosten des Gemeinwohls und der Solidarität geht, wobei jeder sich tatsächlich noch einbildet, dass für alle das Beste sei, was in Wirklichkeit nur für ihn selbst das Beste ist. Schlimmer noch: Die Menschen nehmen beim Verfolgen ihrer eigenen Interessen und Ziele nicht nur in Kauf, dem anderen weh zu tun oder sogar zu schaden, sondern glauben auch noch, es sei ihr gutes Recht.


    So weit, so gut. Mein Problem ist eher, dass man schon sehr bald merkt, dass die Autorin ihre Figuren hat antreten lassen, um sie allesamt scheitern zu lassen. Das hat für mich etwas von einer Versuchsanordnung im Labor oder von einem Planspiel: Man lehnt sich zurück und beobachtet, wie einer nach dem anderen ein Debakel erlebt, nicht unbedingt mit Schadenfreude, aber auch nicht mit Empathie, sondern eher mit einer Art amüsierter Neugierde. Das hat für meinen Geschmack etwas sehr Funktionales, das mir nicht so gefällt.


    Ein anderer Punkt ist die Sprache. Natürlich kann Juli Zeh schreiben. Sie hat eine gute Beobachtungsgabe, kann ihre Themen bündeln, Pointen setzen und ist nicht ohne Witz. Aber die Erzählweise ist sehr konventionell und realistisch, mir fehlt das Poetische, das für mich einen großen Roman ausmacht, dieses Verdichten von Momenten, das Ausleuchten von Zwischenräumen, das Fühlbarmachen des Unausgesprochenen. So ist die einzige Stelle, die mir im Gedächtnis geblieben ist, diejenige, in der sie von der „schwer zu beschreibenden Melancholie sich drehender Windräder“ spricht. Allerdings weiß ich nicht, ob dieser Mangel an sprachlicher Poesie auch in ihren anderen Roman zu finden ist. Vielleicht muss ich meine Meinung in dieser Hinsicht noch revidieren.


    Für mich ist „Unterleuten“ ein intelligenter und unterhaltsamer Roman, aber „Spitzenliteratur“, wie meine beiden geschätzten Vorschreiber mapefue und eigenmelody schreiben, „einen literarischen Triumpf“, wie Denis Scheck meint, oder gar den „großen Gesellschaftsroman der Stunde“, wie Volker Weidermann jubelt, sehe ich in ihm nicht.

    :study: Willa Cather - Meine Antonia

    :study: Wolfgang Herrndorf - Tschick

    :study: Reiner Stach - Kafka. Die Jahre der Entscheidungen

    :study: James Wood - Die Kunst des Erzählens















  • Deine Ausführungen bestätigen mich in meiner Meinung, dass letztendlich jeder Leser sein eigenes Buch liest. Aber ist das nicht schön?

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous

  • Deine Ausführungen bestätigen mich in meiner Meinung, dass letztendlich jeder Leser sein eigenes Buch liest. Aber ist das nicht schön?

    Ja, außerdem gibt es ja auch immer wieder Übereinstimmungen. Den Roman von Juli Zeh fand ich keinesfalls schlecht, nur sehe ich in ihm nicht den großen Wurf. Aber ich werde demnächst "Neujahr" lesen, mal sehen, wie das mir gefällt.

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