Autor: Friedrich Christian Delius
Titel: Die Birnen von Ribbeck
Seiten: 80
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 9783499132513
Der Autor: (Klappentext)
Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt heute in Berlin. Mit seinen zeitkritischen Romanen und Erzählungen, aber auch als Lyriker wurde Delius zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt. Bereits vielfach ausgezeichnet, erhielt Delius zuletzt den Fontane-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis sowie den Georg-Büchner-Preis 2011.
Inhalt: (Klappentext)
Fontanes Ballade hat das Dorf Ribbeck, vierzig Kilometer von Berlin gelegen, berühmt gemacht. Nach Öffnung der Mauer kommen Westberliner nach Ribbeck, um einen Birnbaum zu pflanzen und mit den Ribbeckern die neue deutsche Einheit zu feiern. Sie pflanzen den Baum wie eine Standarte in besetztes Gebiet neben das Schloss, das jetzt ein Pflegeheim ist, und sie fragen nicht nach der Vergangenheit. Auf dem Volksfest, wie es seit Jahrhunderten nicht mehr stattfand, mit Erbsensuppe, Freibier und Birnenschnaps aus dem Westen, verschafft sich ein Ribbecker Bauer Gehör. Zögernd zunächst und langsam erzählt er die Geschichte des Dorfes, das an der alten Heerstrasse liegt: die Zeit des Dreissigjährigen Kriegs und die Feudalherrschaft, Nazidiktatur und Zweiter Weltkrieg, die Etappen des Sozialismus bis zur Wende und der katastrophale Niedergang der Landwirtschaft heute. Er erzählt von den Herren im Dorf, dem letzten Ribbeck, der in das KZ Sachsenhausen kam, von der Roten Armee, den Parteibonzen und den Erben, die jetzt wieder das Dorf mit herrischen Schritten vermessen.
Meinung:
Ein experimentelles Werk, aber ziemlich gelungen! Am bemerkenswertesten ist die Struktur der Erzählung als langer, 70-seitiger Monolog des Bauern: ein endloser Strom an Gedanken, ein ewig langer Satz ohne Punkt, aber mit ausreichend Kommata und Absätzen.
Zitat von Friedrich Christian DeliusAls sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, dem Luftwaffengebell und den Ribbeck'schen Jagdfesten nicht mehr besetzt war, fünfzig oder sechzig glänzende, frisch gewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Fotoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten und Bier und Fassbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten und nach einer kurzen Rede, die der Bürgermeister wie gewohnt mit schafsäugigem Nicken begleitete, in den Vorgarten des Altenpflegeheims, das früher das Schloss war, einpflanzten und dabei mehr auf die Videokameras als auf den Baum schielten und sich selber Beifall klatschten und uns auf die Schulter hieben, als hätten sie ein großes Spiel gewonnen oder ihre Fahne in erobertes Gebiet gesteckt...
Seine Rede lässt sich überraschend flüssig lesen, und ich habe auch keinen Dialog oder andere Personen vermisst. Es herrscht eine lockere Volksfestatmosphäre, in der ein Alteingesessener leicht angetrunken über die alten Zeiten schwadroniert (dem man zu Beginn noch gerne zuhört, aber mit fortgeschrittener Stunde um ihn herum beginnt aufzuräumen, die Schnapszufuhr drosselt und sich schliesslich komplett abwendet und heim fährt). Glücklicherweise wird aber nicht stammtischmässig über Minderheiten hergezogen, sondern über das Leben unter den verschiedenen Herrschern und Regierungssystemen mit ihren Vor- und Nachteilen referiert. Dadurch wird auf unterhaltsame Weise ein ordentliches Stück deutscher Geschichte aufgearbeitet, und ganz nebenbei auch das berühmte Gedicht auseinandergenommen – wobei einzelne Verse daraus im neuen Kontext auch einen neuen, teils abgeänderten Sinn ergeben. („So spendet Segen noch immer“, weil Fontanes Birnengedicht den kleinen Ort heute wieder Touristen und ihr Geld heranlockt)
Eine eindeutige Leseempfehlung, nicht nur für Freunde des Gedichts (das übrigens der Erzählung vorangestellt ist), sondern auch lesenswert im Hinblick auf die deutsche Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur deutschen Einheit.