Jo Walton - Die Stunde der Rotkehlchen / Farthing

  • Inhalt:
    1941 war Sir James Thirkie ein Held, der den »ehrenwerten Frieden« Englands mit Hitler aushandelte. Acht Jahre später wird er tot auf dem Landsitz von Lord und Lady Farthing aufgefunden, auf der blutroten Brust einen Davidstern aus gelbem Stoff, in dem ein Dolch steckt. Ein Schock für die einflussreiche Wochenendgesellschaft aus Freunden und politischen Weggefährten!
    Unter den Gästen befinden sich auch Lucy, die Tochter des Hauses, und ihr jüdischer Mann David, deren Heirat in den Kreisen der Familie missbilligt wurde. Soll David zum Sündenbock gemacht werden? Der Farthing-Clique käme das gerade recht.
    Für Inspector Carmichael von Scotland Yard ist es nicht leicht, das Netz von Lügen, falschen Fährten und Heimlichkeiten zu durchschauen, in dem nichts so ist, wie es scheint, und eines nicht zum anderen passt. Aber auch er hat etwas zu verbergen. Die Ermittlungen in Adelskreisen und unter Politikern fordern ungewohnte Rücksichtnahme − und dann gibt es noch einen weiteren Toten ...


    Rezension:
    Für alle, die sich jemals mit den Ungeheuerlichkeiten der Geschichte beschäftigt haben, schaudernd eigentlich, doch vor Überraschungen sicher, als ginge es um die Autopsie eines toten Drachen, nur um im nächsten Augenblick den sehr lebendigen Nachkommen des Drachen gegenüberzustehen und ihnen ins offene Maul zu starren.
    Diese Widmung stellt Jo Walton ihrem “Was wäre wenn”-Roman voran.


    Ich bin jetzt nicht der größte Fan von moderner Unterhaltung, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust als Hintergrund nutzt, das kommt mir zu oft einfach nur geschmacklos vor. Aber auch ich kann mich der Anziehungskraft von Naziploitation nicht immer entziehen – und trotz meiner anfänglichen Skepsis stellte sich Waltons Werk doch als sehr gutes Buch heraus.


    Die Geschichte beginnt wie ein typischer englischer Landhauskrimi, mit den üblichen reichen englischen Herrschaften und jeder Menge Tee. Bald jedoch verwandelt sie sich in etwas deutlich Düstereres und zeigt das langsame Abgleiten einer Gesellschaft in den Faschismus. Dabei steht das Whodunnit immer im Fokus, die politische Komponente bleibt lange im Hintergrund; der Krieg und der Holocaust sind etwas, was auf dem Kontinent geschehen, in Großbritannien wäre sowas ja nicht möglich, auf gar keinen Fall...oder etwa doch?
    Walton schreibt nicht nur exzellent, ganz in britischer Krimi-Tradition, sondern macht auch hervorragenden Gebrauch von ihren Charakteren. Die Geschichte erzählt sie abwechselnd aus zwei Perspektiven: Einmal ist da Lucy, Tochter einer englischen Adelsfamilie, die einen Juden geheiratet hat – aus Liebe, aber so ein klein wenig auch, um ihrer Familie eins auszuwischen. Lucys unbedarfte Erzählweise, ihr nicht ganz konzentrierter Plauderton nervt manchmal, ist manchmal auch ganz charmant; vor allem aber steht er im krassen Gegensatz zu all dem, was der Leser über den Zweiten Weltkrieg und Hitler-Deutschland weiß. Peter Carmichael, Inspector beim Scotland Yard, ist der andere Hauptcharakter. Selbst ein Außenseiter, bringt er Sympathien für Juden wie David Kahn mit, der hier zum Sündenbock gemacht werden soll. Außerdem ist er ein brillanter Ermittler mit unfehlbarem Gerechtigkeitssinn – was seine Arbeit nicht unbedingt leichter macht.
    Die in der britischen Gesellschaft vorhandenen Vorurteile zeigt Walton nicht nur anhand ihrer Figuren aus der High Society, sondern viel besser noch an den “ganz normalen” Protagonisten, Polizisten wie Sergeant Royston: intelligent, fähig, ein Mann, der seine Tochter liebt – und ein homophober Anti-Semit. Es braucht nur zu wenig, bis derartige Vorurteile in Hass umschlagen.


    Fazit:
    Die Stunde der RotkehlchenFarthing im Original – ist eine hervorragende Mischung aus Krimi und Polit-Thriller. Keine atemlose Unterhaltung, sondern hintergründig, mit einem guten Gespür für Charaktere und einem nicht ganz so typischen Ende.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Es gibt noch zwei weitere Teile um Inspector Carmichael, Der Tag der Lerche (Ha'Penny) ist bereits auf Deutsch erschienen, Das Jahr des Falken (Half a Crown) gibt's auf Englisch, die deutsche Ausgabe ist für Herbst 2016 angekündigt (ich hab aber noch keine ISBN gefunden).
    Ich habe das englische Original gelesen, die deutsche Übersetzung von Nora Lachmann machte im Amazon-Auszug aber einen guten Eindruck. Der Golkonda Verlag bringt ohnehin hübsch aufgemachte und sorgfältig lektorierte Bücher heraus.


    Ach, und liebe Moderatoren: Falls Ihr meint, dass ein Alternative History Roman in einer anderen Kategorie besser aufgehoben wäre, verschiebt die Rezi gerne; ich wusste eifnach nicht, wohin damit.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Ich habe das Buch mit Spannung und Vergnügen gelesen. Es ist ein ausgezeichnet geschriebener Krimi, der fiktive (alternative) Geschichtsschreibung mit einem Mordfall kombiniert, dem ein zweiter Mord folgt.


    Zwar stimme ich @FreakLikeMe zu, dass ein Krimi vor dem Hintergrund Zweiter Weltkrieg und Judenverfolgung nicht unbedingt das ist, was ich gerne lese. Aber bei diesem Krimi wird recht schnell klar, dass es sich nicht wirklich um den realen Kontext handelt, sondern die Autorin recht viel umgestaltet und anders darstellt, als es in Wirklichkeit war. England hat nicht 1941 einen Frieden mit Hitler geschlossen, der ihm dann den Rest Europas zu seiner freien Verfügung überließ, sondern hat bis zum Ende des 2. Weltkrieges am Kampf gegen Hitler teilgenommen. Es gab keinen "ehrenwerten Frieden", die USA haben nicht darauf verzichtet, in den Zweiten Weltkrieg einzugreifen, und auch die Situation in England war 1941 politisch nicht so wie in dem Krimi dargestellt. Es ist ein reizvoller Kunstgriff der Autorin, eine Art fiktive Geschichtsschreibung mit realen Fakten und einem spannenden Krimi zu vermischen, wenngleich ich mich auch frage, wozu das nötig war. Denn ein Mordfall im realen England des Jahres 1941 in den Upper Class Kreisen wäre auch ohne diesen Kunstgriff spannend zu lesen gewesen, da Jo Walton exzellent schreiben kann, die Spannung bis zum Schluß aufrecht erhält und gut ausgearbeitete Protagonisten in Gestalt von Inspektor Carmichael und Lucy Eversley, verheiratete Kahn, die Story aus ihren Augen jeweils schildern lässt.


    Aber dieser Kunstgriff der alternativen Geschichtsschreibung, oder wie immer man das nennen will, führt den Leser dazu, dass er neben dem Mordfall und dem eigentlichen Krimi nachdenklich wird und sich unwillkürlich fragt, was wäre wohl geworden, wenn die Geschichte wirklich so verlaufen wäre wie von Jo Walton umgestaltet. Was wäre aus Europa, dem "Kontinent", wie die Briten das Festland nennen, geworden, wenn es wirklich 1941 einen Frieden mit Hitler gegeben hätte und man ihm alles - außer England - überlassen hätte?


    Ich weiß nicht, ob es die Absicht der Autorin war, diese Nachdenklichkeit mithinein zu bringen, oder ob sie durch ihre fiktive Geschichtsdarstellung einfach ihrem Krimi einen anderen Hintergrund geben wollte. Wie dem auch sei, er ist von Anfang bis Ende spannend zu lesen und ich freue mich schon auf den zweiten Band.


    Ich gebe ihm deshalb viereinhalb Sterne. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

  • Wir befinden uns in England, 1949 - aber nicht in dem England zu jener Zeit, wie wir es kennen, sondern in einem Land, das schon 1941 einen Separatfrieden mit Deutschland geschlossen hat und sich nun seiner "splendid isolation" erfreut, während auf dem Kontinent nach wie vor die Nazis an der Macht sind.


    Auf dem Landsitz Farthing wird eines Morgens der Politiker Sir James Thicke, seinerzeit einer der Architekten des Friedens mit Hitlerdeutschland, tot aufgefunden, offenbar ermordet. An seiner Brust steckt ein Judenstern.


    Lucy Kahn ist entsetzt. Die Tochter des Hausherrn hat zum großen Verdruss ihrer Familie einen Mann jüdischer Abstammung geheiratet, was auch in England nicht gerne gesehen ist, und fürchtet zu Recht, dass der Stern an Thickes Brust den Verdacht auf David lenken könnte.


    Scotland Yard entsendet umgehend Inspector Peter Carmichael an den Tatort, um den heiklen Fall, der schnell Schlagzeilen macht, genauer unter die Lupe zu nehmen, doch der stellt im Laufe seiner Ermittlungen fest, dass die Sachlage immer verworrener wird, je weiter er vordringt. Dem Augenschein ist jedenfalls nicht zu trauen.


    Ich hatte durchaus vermutet, dass mir das Buch gut gefallen könnte, aber Jo Walton hat mit diesem Auftakt zu ihrer "Small Change Trilogy" (im Original sind die Bände jeweils nach alten britischen Münzen benannt) alle meine Erwartungen um Längen übertroffen.


    Die Charaktere sind scharf gezeichnet, der Stil ist knapp und präzise, so dass sie nicht viele Seiten braucht, um einen komplexen Mordfall, zwei Erzählstimmen mit interessanter persönlicher Geschichte (Lucy, das schwarze Schaf mit dem unpassenden Ehemann, sowie Carmichael, der aufpassen muss, dass seine Homosexualität nicht ans Tageslicht kommt) sowie einen hochspannenden und brisanten politischen Hintergrund zu vereinen.


    Die Alternate-History-Kulisse benötigt keine langatmigen Erklärungen, bleibt aber durch kleine Andeutungen stets in unbehaglich eindrucksvoller Weise präsent. Dem klugen, besonnenen, aber leider auch angreifbaren Carmichael beim Ermitteln über die Schulter zu schauen hat mir genauso gut gefallen wie der Part von Lucy, die sich nicht ohne Grund große Sorgen macht, was der Vorfall für ihren Ehemann bedeuten könnte, und selbst den Versuch unternimmt, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.


    Trotz der ernsthaften Thematik ist das Buch von einem ironischen Humor und viel Sinn für die Absurditäten des Alltags durchdrungen. Es gibt auch den einen oder anderen hübschen Running Gag und gewitzte Dialoge, was mich alles ein wenig an eine andere Autorin erinnert hat, die ich sehr schätze: Connie Willis.


    Und das Ende war ein ganz schön schockierender Knaller, der mich mit offenem Mund zurückgelassen hat.


    Ein sehr gelungener Beginn einer Trilogie, deren Folgebände ich sicher nicht lange liegen lassen werde, und eines meiner Jahreshighlights.