Hilary Mantel - Jeder Tag ist Muttertag / Every Day Is Mother's Day

  • Kurzbeschreibung:
    Längst haben es die Nachbarn aufgegeben, mit Evelyn und Muriel Axon Kontakt zu pflegen. Das ist Evelyn, die früher gelegentlich als Medium arbeitete und sich von Geistern verfolgt fühlt, nur recht. Zusammen mit ihrer Tochter verbarrikadiert sie sich in ihrem Haus, das mehr und mehr verfällt. Mit den Sozialarbeitern, die ihre geistig behinderte Tochter fördern wollen, wird sie schnell fertig. Aber wie soll sie mit Muriels Schwangerschaft und dem Kind, wenn es denn mal da ist, umgehen?
    Isabel Field ist die neueste Sozialarbeiterin, die den Widerstand der Axon-Damen brechen will. Sie ist ähnlich verbissen und starrköpfig wie Evelyn. Und hat ebenso viele Probleme: einen sexuell sehr aktiven Vater, der seine Eroberungen in den Waschsalons der Kleinstadt macht, und einen schwärmerischen, aber angstgetriebenen Liebhaber, Colin Sydney, der Abendklassen besucht, um seiner dominanten Frau zu entkommen.
    Wäre da noch Muriel. Sie scheint ganz offensichtlich ein eigenes Leben zu haben, von dem weder ihre Mutter noch die Sozialarbeiter etwas ahnen. Und man fragt sich, ob Muriel wirklich so behindert ist, wie alle glauben. *Quelle*


    Zur Autorin:
    Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte in Botswana und in Saudi-Arabien. Für den Roman Wölfe (Dumont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit Falken, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei Dumont erschienen zuletzt der Roman Brüder (2012), der Erzählungsband Die Ermordung Margaret Thatchers (2014) und ihre Autobiographie Von Geist und Geistern (2015).


    Meinung:
    Evelyn Axon, ein ehemaliges Medium, und ihre 33-jährige Tochter Muriel leben völlig isoliert und ohne jegliche soziale Kontakte in ihrem langsam zerfallenden Haus. Muriel wird vom Sozialamt betreut, denn sie ist nach deren Aussage und der Ansicht ihrer Mutter geistig zurückgeblieben. Doch die Betreuung gestaltet sich als schwierig, da Mutter Evelyn die Betreuer so gut wie nie ins Haus lässt.


    Erst Isabel Field, neu für diesen Fall zuständig, versucht, an Mutter und Tochter heranzukommen. Doch auch sie hat es nicht leicht im Leben, denn sie ist eine Affäre mit dem verheirateten Colin eingegangen, die ihr schon bald nicht mehr behagt, da er seine Frau Sylvia auf keinen Fall verlassen will. Zu guter Letzt stellt sich heraus, dass Muriel schwanger ist. Wie werden die beiden zurückgezogen lebenden Frauen damit umgehen?


    Jeder Tag ist Muttertag ist der Debütroman Hilary Mantels, der bereits im Jahr 1985 im Original erschien.


    Sie beschreibt auf eine bitterböse Art und Weise die Geschichte der Axons, Mutter Evelyn und Tochter Muriel, im Jahr 1973. Der Vater ist seit geraumer Zeit verstorben, Evelyn verdingte sich als Medium, was sie aber aufgegeben hat. Seitdem quälen sie nicht näher genannte Geister in ihrem eigenen Haus, die sie ärgern, sie stolpern lassen und ihr an manchen Tagen den Zutritt zu bestimmten Zimmern anhand von geschriebenen Zetteln verbieten.


    Muriel, die 33-jährige Tochter, wird von ihrer Mutter als zurückgeblieben betitelt und wenig geliebt. Sie ist ihr eher eine Last, was sie sie immer wieder durch ihre Aussagen spüren lässt. Das Sozialamt lässt sich nur sporadisch blicken und wenn, wird diejenige Mitarbeiterin meist schon an der Eingangstür von Evelyn abgekanzelt, und es wird sich auch nicht weiters um das Mutter-Tochter-Gespann, das zusehends verwahrlost, gekümmert.


    Erst Isabel Field, die deren Fall neu übernimmt, möchte den Axons näherkommen, doch auch sie beißt auf Granit. Auch ihr Privatleben wird von Hilary Mantel näher beleuchtet, in dem sie eine Affäre mit dem verheirateten Colin unterhält, der ein ausgemachter Pantoffelheld ist. Seine Frau Sylvia hat in der Familie das Sagen und seine drei Kinder tanzen ihm nur auf der Nase herum, was in mancher Situation schon fast erschreckend wirkt.


    Hilary Mantel zeichnet hier ein entlarvendes und oft schon in groteske Züge abschweifendes Bild aller Beteiligten. Keiner der Charaktere wird beim Lesen sympathisch, denn jeder hat seltsame Züge an sich, die schwer nachzuvollziehen sind. Vor allem Muriel ist ein sehr unzuverlässiger Charakter, denn bis zum Ende hin wird nicht klar, inwiefern sie wirklich behindert ist oder ob sie einfach nur ein wahnsinniges Talent zur Schauspielerei besitzt, was sich ab und an durchaus abzeichnet.


    Hier bin ich jedenfalls sehr auf die Fortsetzung gespannt, die im August 2016 unter dem Titel Im Vollbesitz des eigenen Wahns erschienen ist und die hoffentlich noch ein paar offene Fragen, die sich für mich ergeben haben, beantworten wird.


    Fazit:
    Ein Roman, der von seiner bitterbösen Boshaftigkeit und seinem sehr schwarzen Humor lebt. Hilary Mantels Debüt seziert das Leben seiner Protagonisten bis ins Detail und konnte mich sehr gut unterhalten. Lesetipp!


    Wertung: :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Inhalt

    Vor langer Zeit hat Evelyn Axon einmal als Medium gearbeitet und Kontakt zu Verstorbenen aufgenommen. Seitdem scheint im Haus die Zeit stillzustehen. Evelyn und ihr inzwischen verstorbener Mann waren stets für sich geblieben. Das war vermutlich auch besser so; denn Evelyn hatte ihren eigenen Kopf und sah nicht ein, ihre Wäsche so auf die Leine zu hängen, wie ihre Nachbarinnen es für richtig hielten. Wir befinden uns im Jahr 1973, als britische Milchmänner die Milch noch in Flaschen vor die Tür stellten und man eine Telefonzelle suchen musste, um von unterwegs jemanden anzurufen. Evelyn lebt mit ihrer vermutlich geistig behinderten Tochter Muriel zusammen. Muriel ist in der Schule zweimal sitzen geblieben und anschließend in der Sozialbürokratie verloren gegangen. Was genau ihre Behinderung ausmacht, bleibt ungeklärt. Muriel könnte ebenso gut völlig normal sein. Vielleicht ist sogar Evelyn das Problem; denn sie hört Stimmen und wird von frechen Wesen in ihrem eigenen Haus bestohlen, geschubst und schikaniert. Das Haus verfällt langsam. Evelyn kann keine Glühbirne auswechseln, wüsste vermutlich noch nicht einmal, wo man so etwas heute kauft. Sozialamt und Jugendamt versuchen, Evelyn dazu zu bringen, Muriel in eine Tagesstätte für Behinderte zu schicken. Schließlich kann Evelyn nicht ewig allein für Muriel sorgen. Doch Evelyn verhält sich den Sozialarbeitern gegenüber feindselig. Wer die Briefe an Evelyn und die Aktennotizen über Mutter und Tochter Axon liest, den wundert das nicht. „Bitte zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren,“ schreiben sie immer wieder. Die Ämter scheinen um ihrer selbst willen zu existieren und nicht zum Wohl der Klienten. In dieser ohnehin beklemmenden Situation gibt es Anzeichen, dass Muriel schwanger sein könnte. Mutter und Tochter sind nicht in der Lage, Hilfe von außen anzunehmen, so dass man für die Schwangere und ihr Baby nun das Schlimmste befürchten muss.


    Fazit

    In ihrem ersten (1985 erschienen) Roman erzeugt Hilary Mantel eine beklemmende Situation mit grotesk bis boshaft gezeichneten Figuren. Außer Mutter und Tochter Axon treten die Nachbarin Florence auf, deren Bruder samt Familie und Geliebter und mehrere Sozialarbeiter. Die raffinierte Verknüpfung der Figuren miteinander war für mich erst allmählich durchschaubar. So kompliziert hätte die Konstellation für meinen Geschmack nicht sein müssen. Der dargestellte Konflikt ist - erschreckend - zeitlos, wenn Menschen ohne Hilfe von außen nicht mehr zurechtkommen, diese Hilfe aber vehement und mit allen Tricks ablehnen. Gerade das Wissen, dass die Autorin selbst als Sozialarbeiterin tätig war, ließ mir hier entsetzt die Haare zu Berge stehen. Die Vorgänge im Haus Axon sind unbestreitbar gruselig; sicherlich könnte man sich darüber auch empören. Das Buch hat in seiner Trostlosigkeit bei mir ähnliche Gefühle ausgelöst wie McEwans Zementgarten oder O’Donnells Bienensterben. Wer die genannten Bücher schrecklich fand, wird mit Mantels Erstling vermutlich nicht glücklich. Wer jedoch ihre listige Art der Personenbeschreibung schätzt, liegt hier richtig.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow