Thornton Wilder - Dem Himmel bin ich auserkoren / Heaven's My Destination

  • Autor (Wikipedia und Klappentext): Der am 17. April 1897 in Madison, Wisconsin, als Sohn eines Zeitungsbesitzers geborene Thornton Niven Wilder war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der am 7. Dezember 1975 in Hamden, Connecticut, verstarb, wo er auf dem Mount Carmel Cemetery begraben liegt. Weil sein Vater als Generalkonsul nach Hongkong und später Shanghai berufen wurde, verbrachte er einen Teil seiner Kindheit in China und besuchte englische und deutsche Missionsschulen. 1915 bis 1920 besuchte er amerikanische Colleges und Universitäten. In dieser Zeit begann er, Theaterstücke zu schreiben. Von seinen Mitschülern wurde er als überintellektuell gehänselt und links liegengelassen. Er studierte neuere Sprachen am Oberlin-College in Ohio und an der Yale University, meldete sich freiwillig zum Kriegsdientst im Ersten Weltkrieg, unternahm 1920 bis 1921 eine archäologische Studienreise nach Rom, arbeitete 1922 bis 1925 als Französischlehrer in Lawrenceville, New Jersey, und erhielt 1925 an der Princeton University den akademischen Grad eines Master of Arts in Französisch. Er lehrte vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Chicago, diente 1942 bis 1945 freiwillig als Offizier im Zweiten Weltkrieg, war von 1950 bis 1951 Professor of Poetry an der Harvard University und leitete 1952 die amerikanische Delegation der UNESCO-Konferenz in Venedig. Er übersetzte außerdem Stücke von André Obey und Jean-Paul Sartre ins Englische. Wilder war nie verheiratet und lebte seine Homosexualität nur versteckt.


    Unter seinen zahlreichen US-amerikanischen und internationalen Auszeichnungen für sein Werk finden sich auch drei Pulitzer-Preise, 1928 für den Roman "The Bridge of San Luis Rey" (dt. Die Brücke von San Luis Rey), 1938 für das später nach seinem eigenen Drehbuch verfilmte Theaterstück "Our Town" (dt. Unsere kleine Stadt") und 1943 für das Stück "The Skin of Our Teeth" (dt. Wir sind noch einmal davongekommen). Außerdem schrieb er das Drehbuch zu dem Hitchcock-Thriller "Shadow of a Doubt" (dt. Im Schatten des Zweifels), drei größere Theaterstücke, zahlreiche Einakter, Essays, wissenschaftliche Artikel und die sieben Romane "The Cabala" (1926, dt. Die Kabala, 1929), "The Bridge of San Luis Rey" (1927, dt. Die Brücke von San Luis Rey, 1929), "The Woman of Andros" (1930, dt. Die Frau aus Andros, 1931), "Heaven’s My Destination" (1935, dt. Dem Himmel bin ich auserkoren, 1951), The Ides of March (1948, dt. Die Iden des März, 1949), "The Eighth Day" (1967, dt. Der achte Schöpfungstag, 1968) und "Theophilus North" (1973, dt. Theophilus North oder Ein Heiliger wider Willen, 1974).


    Kurzbeschreibung (Klappentext): Eigentlich ist George Marvin Brush ein ganz gewöhnlicher Handlungsreisender "in Schulbüchern". Doch wichtiger als seine Schulbücher sind ihm die Seelen seiner Mitmenschen. Seine Irrfahrten im Mittelwesten Amerikas führen zu einer Fülle tragischer und komischer Konflikte, die zugleich eine satirische Spiegelung des öffentlichen Lebens in den USA sind. An dem Geschäftsreisenden George Marvin Brush erfüllt sich, was jedem geschieht, der sein Leben mit äußerster Konsequenz nach höchsten Prinzipien zu leben versucht. Brush gerät schließlich in lächerliche Situationen, verkennt handgreifliche Gemeinheiten und wird für verrückt gehalten.


    Der Roman erschien zuerst als "Heaven's My Destination" 1935 bei Harper & Brothers in den USA und wurde 1951 in der Übersetzung von Herbert E. Herlitschka als "Dem Himmel bin ich auserkoren" beim S. Fischer Verlag in Deutschland veröffentlicht. Das englische Taschenbuch von 2003 hat einen Umfang von 240 Seiten, das deutsche Taschenbuch von 1983 hat einen Umfang von 213 Seiten.



    Die Hauptfigur George Brush ist einer der anstrengendsten Charaktere, die mir bisher in Romanen untergekommen sind. :wink: Dennoch gibt mir sein "Beispiel" einiges zum Nachdenken. Er ist sehr religiös, ein großer Pazifist und Anhänger Mahatma Gandhis, legt sich über alles und jedes Theorien zu recht, lebt in freiwilliger Armut und eckt auf seinen Reisen durch den Mittleren Westen der USA während der Zeit der Großen Depression überall durch sein konsequentes Beharren, seine Unschuld und sein unterschwelliges Predigen an. Sein Verhalten und sein Gerede wird wiederholt als umstürzlerisch aufgefasst, was ihn etliche Male ins Gefängnis bringt, wobei sogar eine mögliche Einweisung in eine Irrenanschalt im Raum steht ...


    Zitat

    Ich habe nicht vier Jahre lang ein College besucht und eine schwierige religiöse Bekehrung durchgemacht, um dieselben Ideen zu haben wie andre Menschen. (S. 159)


    Dabei versucht er im Grunde nur, ein besserer Mensch zu werden. Eine Figur, die ein gutes Leben führen will und anderen helfen möchte, dies ebenfalls zu tun; gebildet, aber engstirnig – und macht sich so wirklich jeden Mitmenschen zum Feind. Ein 23-Jähriger, der sich eine eigene Philosophie aus christlichem Fundamentalismus und Gandhis Morallehren zusammengebastelt hat: mit Gewaltlosigkeit, dem Beharren auf den eigenen Idealen und die Bereitschaft, im Angesicht des Gegners auch Leid zu ertragen. Angereichert mit einem großen Schuss passiven Widerstandes und zivilen Ungehorsams, mit Besitzlosigkeit, Keuschheit, diätistischer Lebensführung und einigem Mut. Banken hält er für unmoralische Einrichtungen. Für Dinge, die er gut kann, lässt er sich nicht bezahlen. Rauchen, Alkoholgenuss und Darwins Evolutionslehren lehnt er rigoros ab. Ein unschuldiger Heiliger in einer verdorbenen Welt – oder jemand, der sich selbst als Heiliger betrachtet? Ein Träumer? Jedenfall eine zutiefst komische Figur, da Selbst- und Fremdwahrnehmung diametral auseinandergehen. Wenn er einem Ladendieb zusätzlich noch Geld in die Hand drückt, um ihm zu verdeutlichen, dass Raub im Grunde Bettelei darstellt, wird er für einen Komplizen gehalten. Nähert er sich einem kleinen Mädchen, das seine Eltern zur Bestrafung mit einem Schild "Ich habe gelogen" um den Hals aus dem Haus gesperrt haben, wird er prompt für einen Kinderschänder gehalten, wo er sich doch nur über die ihm verkehrt erscheinenden Erziehungsmethoden informieren wollte. Da Brush durch sein Verhalten, und wie es verstanden wird, gewissermaßen auch aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgetragen wird, ist er auch eine zutiefst tragische Figur. Man möchte ihn schütteln – und stellt fest, dass man dann im Grunde auch sich selbst schütteln müsste. George Brush kommt immer wieder zurück, piekst uns in die Seite und zeigt auf unsere eigenen Dreckecken. :clown:


    Ein vorzüglicher Roman über die Reiseerlebnisse eines amerikanischen Don Quijote auf Tour durch den Mittleren Westen der USA, der zeigt, wie leicht falsch verstandene Gelehrsamkeit gewissermaßen den Verstand rauben und Prinzipientreue zu Dogmatismus verkommen kann, wie menschenfreundliche Güte als Anmaßung missverstanden wird und gut Gemeintes quasi in die Asozialität führt, herausfordernd und den eigenen Horizont erweiternd, komisch und tragisch, mit einer umwerfenden Hauptfigur, die sowohl entzückend, als auch enervierend, fanatisch und rätselhaft ist, die lernen muss, die eigenen Ideale an der Wirklichkeit abzuschleifen und Nachsicht mit sich und vor allem auch den Mitmenschen zu üben – und daran wächst.


    Zitat

    Niemand ist stark genug, um immer nach Regeln zu leben. (S. 203)


    Der Autor nimmt seine "komische" Figur auf ihrer Suche nach einem "amerikanischen Heim" wirklich ernst, setzt sie nicht der Lächerlichkeit aus und baut nicht auf klare Schuldzuweisungen, woher die Missverständnisse des Romans rühren. Ist es der anmaßende Charakter des George Brush, ein Idiot mit großem Herzen, aber wenig Geschick im Umgang mit Menschen, der für den ganzen Ärger verantwortlich ist, oder ist das Land für gewisse Ideen (noch) nicht bereit, so selbstgenügsam, materialistisch, zynisch und Freigeistern gegenüber feindlich gesinnt seine Bewohner sich geben?


    Thornton Wilder hat es in seinem eher unbekannten, komischen, schnell zu lesenden, temporeichen Roman fürwahr geschafft, in diese für die Ewigkeit geschaffene, faszinierende Außenseiterfigur, in diesen amerikanischen Antihelden George M. Brush und sein Handeln während seines Wanderjahres zwischen dem 23. und 24. Geburtstag die ganze Tragik des menschlichen Strebens nach Güte, Rechtschaffenheit und einem guten Leben im Kreis einer guten Gemeinschaft zu gießen. Ich bin sehr begeistert! Klare Höchstwertung und eine eindeutige Leseempfehlung! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Ach, wäre der Roman doch nur mit einem jungen, schlacksigen James Stewart verfilmt worden ... O:-)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


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    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Eine englische Ausgabe beim US-amerikanischen Imprint-Verlag "Harper Perennial" unter dem Originaltitel "Heaven's My Destination" im Jahr 2003 erschienen.

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  • Wer mag kann den Roman natürlich auch in französischer Übersetzung als "En voiture pour le ciel" lesen, übertragen von Renée Vavasseur und Marcel Duhamel.

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