Henrik Stangerup - Snake In The Heart / Slangen i brystet

  • Der Autor (Wikipedia): Der am 1. September 1937 in Frederiksberg geborene Henrik Stangerup war ein dänischer Schriftsteller, Journalist, Essayist, Drehbuchautor und Filmregisseur, der am 4. Juli 1998 im Alter von 60 Jahren in Langebæk an Krebs verstarb. Er war Enkel des schwedischen Schriftstellers Hjalmar Söderberg (u.a. "Doktor Glas"), Sohn des Literaturhistorikers Hakon Stangerup und der Schauspielerin Betty Söderberg, Bruder der Schriftstellerin Helle Stangerup (u.a. "Der Brautmaler") und Cousin des dänischen Schriftstellers Klaus Rifbjerg (u.a. "Die chronische Unschuld"). Eine lange Zeit seines Lebens lebte Henrik Stangerup in Paris. Viele seiner Romane, Erzählungen und Zeitungsartikel schildern das Leben in der französischen Hauptstadt in den 1960er- und 1970er-Jahren. Kennzeichnend für sein Werk sind die internationale Orientierung und eine ablehnende Haltung gegenüber intellektuellem Konformismus jeder Art. 1981 erhielt Stangerup den dänischen Kritikerpreis für seinen Roman "Vejen til Lagoa Santa", 1982 den "Prix Amalienburg" für sein schriftstellerisches Gesamtwerk. 1986 wurde er mit dem Großen Preis der Dänischen Akademie ausgezeichnet.


    Von ihm stammen die Romane "Slangen i brystet" (1969), "Løgn over løgn" (1971), "Manden der ville være skyldig" (1973, dt. Der Mann, der schuldig sein wollte, 1976. Der Roman wurde 1990 nach seinem eigenen Drehbuch auch verfilmt), "Fjenden i forkøbet" (1978), "Vejen til Lagoa Santa" (1981, dt. Der Weg nach Lagoa Santa, 1991), "Det er svært at dø i Dieppe" (1985, dt. Es ist schwer, in Dieppe zu sterben, 1998), "Broder Jacob" (1991, dt. Bruder Jacob oder die Reise zum Paradies, 1995) und "Datter af. Scener om en mor" (1995) sowie diverse Erzähl- und Essaybände. Außerdem führte er Regie bei den Spielfilmen "Giv Gud en chance om søndagen" (1970), "Farlige kys" (1972) und "Jorden er flad" (1976) und verfasste Drehbücher für eigene und fremde Filme.


    Henrik Stangerups Debütroman "Slangen i brystet" erschien zuerst 1969 beim Verlag Gyldendal in Kopenhagen. Diese Ausgabe umfasst 328 Seiten. Laut Vermerk schrieb er den Roman in den Jahren 1966 bis 1968 in der südfranzösischen Stadt Millau, in der bretonischen Gemeinde Audierne und in Herringløse im Osten Seelands nahe Roskilde. 1995 erschien im Verlag Editions de l'Olivier unter dem Titel "Vipère au coeur" eine französische Übersetzung aus dem Dänischen, besorgt von Else-Marie Jacquet-Tisseau. Diese Ausgabe umfasst 335 Seiten. 1996 erschien im Verlag Marion Boyars Publishers (London & New York) unter dem Titel "Snake in the Heart" eine englische Übersetzung aus dem Dänischen, besorgt von Anne Born. Diese Ausgabe umfasst 256 Seiten. Eine deutsche Übersetzung des Romans liegt nicht vor. [-( Ich las die dänische Originalausgabe in der zweiten Auflage aus dem Jahr 1972.


    Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat des jungen Karl Marx über Verzweiflung und Selbstekel, jene "am Busen genährte Natter":

    Zitat von Karl Marx

    Self-disgust is a snake that constantly pierces and gnaws at the breast, sucks the lifeblood out of the heart and blends it with the poison of despair and the hatred of humanity.


    In "Slangen i brystet" geht es um den sozialen und persönlichen Niedergang eines dänischen Journalisten in Paris in den 1960er-Jahren. Max Mollerup ist Korrespondent einer Kopenhagener Tageszeitung in der französischen Hauptstadt, der die relative Freiheit seines Jobs fern seines Arbeitgebers genießt. Er besucht Pressekonferenzen und Ausstellungseröffnungen und versucht Interviews mit wichtigen Personen der Zeitgeschichte zu bekommen, beziehungsweise mit Menschen, für die sich die Leser im fernen Dänemark interessieren könnten. Er muss sich kaum jemals festlegen, wäre zwar gerne mitten drin im Geschehen, bleibt aber lieber am Rande. Unverbindlich. Er ist Teil der "dänischen Kolonie" in der französischen Hauptstadt. Man kennt sich, sieht sich, beäugt sich und geht seiner Wege. Neben seiner Arbeit an Artikeln füllt er auch eine Zeitungskolumne mit kulturellen Themen über Frankreich, die Stadt Paris und den Alltag ihrer Bewohner, die die Grundlage für ein Essay-Buch werden soll, mit dem er allerdings nicht recht vorankommt. Er schiebt Dinge gerne auf die lange Bank und baut darauf, dass sie sich von selbst regeln. Sein Umgang mit Menschen ist sehr vorsichtig und kontrolliert. Oftmals wirkt er fast paranoid. Männer erscheinen ihm vor allem als Konkurrenz. Intensiver menschlicher Beziehungen, vor allem zu Frauen, scheint er kaum fähig zu sein: Er sucht lieber die Nähe zu Prostituierten. Auch das Verhältnis zu seiner Mutter, einer über die Grenzen Dänemarks hinaus bekannten Schauspielerin, ist weitgehend gestört und von Vorwürfen und "kindlichem Trotz" geprägt. Es passiert oft, dass er über seine Mutter ausgefragt wird. Irgendwann erzählt er, wenn auch anscheinend widerwillig, die immer gleichen Anekdoten aus ihrem Schauspielerleben, die ihn, wenn die Mutter sie erzählt, umgehend langweilen, da er sie allzu oft gehört hat. Aber ehe er etwas über sich selbst erzählt, greift er lieber auf das verhasste Thema zurück und sonnt sich in ihrer Berühmtheit ein wenig. Seine unerwartete erotische Beziehung zu der Italienierin Claudia kühlt - für ihn sehr überraschend - bei einem gemeinsamen Weihnachtsurlaub in Kopenhagen fast von einem Augenblick auf den anderen ab. Es gelingt ihm, den Wendepunkt der Beziehung zeitlich sehr genau zu fixieren, aber wie dieser Wandel begründet ist, entzieht sich seiner Kenntnis. Dabei hatte er wahrscheinlich bereits gehofft, die Italienerin dem Bild, das er sich von einem "erwachsenen Leben" machte, als Ehefrau beifügen zu können ...


    Immer stärker erweist sich der Antiheld Mollerup als ein von starkem Selbstzweifel erfüllter Mann kurz vor der Midlife-Krise. Überall wittert er Missgunst und Hintergedanken seiner Mitmenschen bezüglich seiner Person. Die männlichen Bekannten seiner Affäre beäugt er mit wachsender Eifersucht. Beruflich und privat tappt er in diverse Fettnäpfchen: Ein ungeschickte Frage bei einer de-Gaulle-Pressekonferenz schadet seinem Ansehen – oder bildet er sich vielleicht nur ein, dass plötzlich alle über ihn tuscheln? Später fälscht er für einen verhassten Artikel Unterschriftenlisten, lässt Dinge an Orten zurück, die seine unpassende Anwesenheit verraten, und lässt sich "in verfänglichen Situationen" ertappen, die gar nicht verfänglich sind. Alles ohne bösen Willen, eher unbedacht, leichtfertig, mit der Hoffnung, dass sich die Dinge für ihn schon zum Guten wenden werden. Um sein Essay-Buch fristgerecht fertigstellen zu können, holt sich Mollerup Anregungen bei zwei Kapiteln des Paris-Buches eines deutschen Journalisten, die er kaum getarnt als eigenen Text übernimmt. Die Veröffentlichung seines Buches verschafft ihm zunächst ungeahnten Zuspruch und Renommee: Er glaubt, jetzt mit 40 einen neuen Lebensabschnitt großer Professionalität und Ehrbarkeit beginnen zu können, erfüllt von neuem Selbstvertrauen, das auf seinem nun öffentlich belegten beruflichen Können begründet ist. Er glaubt tatsächlich, die Fäden in der Hand zu haben. Dabei schlingert er mehr schlecht als recht zwischen den Klippen seines Versagens hindurch und wird seiner Person, seinem beruflichen Status und seinem Seelenleben durch Vermeidung und Ausblendung von Problemen großen Schaden zufügen ...


    Der Alltag als "Fremder unter Fremden" und das Zeitkolorit von Paris in den gesellschaftlich so aufgewiegelten Sechzigerjahren ist sehr lebendig, konzentriert und bildhaft eingefangen. Außerdem gibt es profunde Äußerungen über das Selbstverständnis und gewissermaßen den "Nationalcharakter" der Dänen als kleines Volk im großen Europa. Dänemark, ein Land, das immer ein wenig unterhalb des Radars der "großen" Völker vor sich hin wurstelt - wie am Katzentisch. Ein Volk, dessen Sprache weltweit kaum gesprochen wird, und das so kaum und selten wahrgenommen wird. Dänen, die im Ausland am liebsten für Engländer gehalten werden möchten, tauchen auch in diesem Roman auf. :wink: Dass die Lebensgeschichte einer Figur voller Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühlen ausgerechnet mit einem Dänen als Protagonist in Frankreich erzählt wird, ist in diesem Sinne sehr treffend und entlarvend. Ein ständiges Ringen um Aufmerksamkeit.


    Der leichte Tonfall und die manchmal fast slapstickartig beschriebene Weise, in der sich die Hauptfigur in Schwierigkeiten bringt, darf nicht darüber hinwegtäuschen: "Slangen i brystet" ist die im Grunde äußerst ernsthafte Schilderung der Nöte eines "modernen Mannes", gefangen zwischen charakterlichen Defiziten, Selbstzweifel, sozialem Druck und zwischenmenschlichen Vermeidungsstrategien. Eine Hauptfigur, die den Anforderungen des Berufslebens und den Zwängen des sozialen Miteinanders nicht gewachsen ist. Eine Figur geblendet von den eigenen Talenten, die aber wenig dafür tut, die Talente zu entwickeln. Dabei geht es dem Autor weniger um das Auffinden der psychologischen Ursachen, als vielmehr um die Darstellung, wie sich das fehlerhafte Verhalten auf den Alltag und den Menschen auswirkt. Wenn man so will ist "Slangen i brystet" der genau beobachtete Roman einer Depression, einer sozialen Überlastung, eines menschlichen Ausbrennens.


    Zum Ende hin, nach dem Umweg über Kopenhagen, wenn Mollerup fast völlig isoliert und handlungsunfähig da steht – beziehungsweise sich absichtlich isoliert, um das eigene Versagen zu bemänteln –, vereinfacht sich der im wahrsten Wortsinne entsetzte Mollerup die komplizierte Welt immer und verkleinert seinen Radius. Die sozialen und familären Bindungen werden gekappt. Von seinem letzten Geld zieht Mollerup zurück nach Paris, in die Stadt, in der er wenigstens einmal fast erfolgreich war, bezieht dort ein kleines Zimmer, in das nur ein Bett und ein Tisch passen, und markiert auf einem Stadtplan mit roten Stecknadeln jene Straßen und Viertel, in denen Menschen wohnen, die Zeugen seines Untergang wurden. Auf dass er diese Gegenden bei seinen Gängen durch die Stadt zukünftig vermeide. Diesen Personen der Vergangenheit will er nicht mehr begegnen, um nicht erinnert zu werden - oder um sie nicht an sein Versagen zu erinnern. Kein zukunftsträchtiger Ausweg aus der Misere! :shock:


    Dieser harmlos scheinende Roman entpuppt sich als ziemlich düsteres Monster, dem man sein Alter auf keiner Seite anmerkt. Henrik Stangerup versteht es meisterlich, wie nebenbei seelische Abgründe zu beschreiben und die Schlinge um seine Hauptfigur erbarmungslos zuzuziehen. Er zeigt sich in diesem Roman als intimer Kenner der Verschämten und Unsicheren, der nicht wertet, sondern bloßlegt. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das von mir gelesene dänische Original ist nicht bei Amazon gelistet, doch hinter diesem Link findet sich der Roman, der 2014 in fünfter Auflage bei Gyldendal in Kopenhagen erschienen ist (ISBN 8702165988). Das Umschlagbild ist eine leicht modernisierte Version der Originalausgabe!

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  • Neben der englischen Übersetzung findet sich noch eine französische Übersetzung von Else-Marie Jacquet-Tisseau, unter dem Titel "Vipère au coeur" 1995 in der Reihe "Olivier Littérature étrangère" erschienen.

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