Lucius Annaeus Seneca - Medea / L: Annaei Senecae: Tragoediae

  • Ein hervorragendes Beispiel für den Mythos als Träger zeitgenössischer Zustände und Vorlieben, wenn man den Vergleich mit anderen Autoren wagt: Der 3. Aspekt auf den Vgl. mit Euripides und Wolf.






    In seiner Tragödie "Medea" aus dem ersten nachchristl. Jahrhundert greift der römische Dichter L. Annaeus Seneca Minor den altbekannten Stoff um die kolchische Prinzessin Medea auf.
    Die Handlung ist wieder der letzte Tag vor der Umsetzung ihrer Verbannung aus Korinth.



    Zum Inhalt will ich nichts mehr sagen, da ich dazu schon genug bei Wolf und Euripides gesagt habe. Ich habe alle 3 Rezensionen voneinander abhängig gemacht, denn erst durch die Lektüre von Christa Wolfs Medea-Reinterpretation war ich erst verleitet die alten Varianten von Euripides und Seneca zu lesen. Das für mich wirklich Interessante ist nun der direkte Vergleich, da sich die 3 Varianten auf eine Zeitspanne von knapp 2.500 Jahre verteilen (Euripides 431 v. Chr.; Seneca 1. nachchr. Jh.; Wolf 1996).



    Inhaltlich ähneln sich Euripides und Seneca sehr. Doch bzgl. der Personencharakterisierung könnten alle 3 kaum unterschiedlicher sein. Während bei Euripides die gut/schlecht-Zuteilung noch nicht so einfach scheint und bei Wolf Medea definitiv gut und Iason (wie alle Männer bei ihr) definitiv schlecht/schwach ist, findet sich bei Seneca das exakte Gegenteil zu Wolf. Iasons Ehebruch bekommt nur wenig Aufmerksamkeit und ist eher das Opfer der Handlungen. Medea geht mit ihren Handlungen über alle Maße hinaus (bei Euripides sind ihre Grausamkeiten noch irgendwie teilgerechtfertigt, da sie das Opfer von Iasons Treulosigkeit ist). Medea ist hier bei Seneca von einer wahnsinnigen Raserei ergriffen und selbst kurzzeitige Selbstzweifel dienen mMn lediglich dem Spannungsaufbau. Jedem antiken Zuschauer (der Tragödie !) muss ja das Ende bekannt gewesen sein. In ihrer grenzenlosen Raserei lässt die Person Medea an die Person Hercules erinnern, die von Seneca in seiner anderen Tragödie (hercules furens - der rasende Hercules) ebenso wahnsinnig dargestellt ist. Der Gipfel und das Zentrum des Werkes scheint mir die Grausamkeit und die Gottlosigkeit zu sein, mit der Medea ihre eigenen Kinder meuchelt (hier werden ihre Söhne auch das erstemal zeitlich versetzt umgebracht). Der Mord an Kreusa (= Glauke bei Euripides und Wolf) und Kreon wird nicht geschildert (nicht mal über einen Botenbericht wie bei Euripides).
    Iason tritt hier nur selten auf. Die Auftritte der Amme und des Chores, die am zweithäufigsten auftreten, dienen der Vorbereitung auf den doppelten Kindsmord.



    Die von Seneca dargestellte Grausamkeit Medeas erinnert stark an die Darstellungen Lucans in seiner Pharsalia, wo ebenfalls bis ins ekelhafte hinreichende Beschreibungen von Toden geläufig sind. Das scheint also dem zeitgenössischen Geschmack der Römer im 1. Jh. zu entsprechen. Oder bei beiden resultiert es aus einer Art philosophischer Richtung in Verbindung mit einer umfassenden Rhetorikbildung. Das haben Lucan und Seneca nämlich auch gemeinsam.



    Dieser 3fache Vergleich ist kaum mehr als eine grobe Andeutung und ein grober Hinweis. Doch selbst diese rudimentäre Beschäftigung damit ist für mich bereits äußerst spannend. Da steckt noch viel mehr Vergleichspotenzial drinne, die man auf die Zeitgeschichte, zeitgenössischen Zustände und Biographien der 3 Autoren ausweiten kann. Anders sind die teils gravierenden Darstellungsunterschiede bestimmt nicht zu erklären.



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