Roland Schimmelpfennig - An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

  • Nachts auf einer eisglatten Autobahn, 80 Kilometer vor Berlin: Ein Tanklaster legt sich quer und kippt um. Auf dem Standstreifen, kurz im Blaulicht der Feuerwehr: ein einzelner Wolf.
    Bis Berlin reichen die Spuren des Wolfs, und sein Weg kreuzt sich immer wieder mit den Wegen und Schicksalen unterschiedlicher Menschen. Mit zwei Kindern, die von zu Hause weggelaufen sind und durch Wald und Stadt irren. Mit dem polnischen Bauarbeiter, der verzweifelt nach seiner Freundin sucht. Mit der Frau, die morgens auf dem Balkon die Tagebücher ihrer Mutter verbrennt.
    Wie in einem Schwarzweißfilm, in dem gelbes Winterfeuer flackert, ziehen die Bilder und Geschichten dieses Romans an uns vorbei. Sie erzählen vom Suchen und Verlorensein, von der Kälte unserer Zeit und der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Ein Roman von großer visueller Kraft, dessen Poesie und Schönheit man sich nicht entziehen kann...(Klappentext)


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    Diesen Roman zu beschreiben ist schwierig, da er so anders ist.
    Es beinhaltet einen ungewöhnlichen Schreibstil - abgehackt, nüchtern, ohne richtige Dialoge. Es hat weder Anfang noch Ende und im Grunde ist es kein richtiger Roman...und trotzdem, er hat mich während des Lesens gefangen und nach dem Lesen befangen zurückgelassen.


    In einem kalten Winter treibt es einen einsamen Wolf nach Berlin. Er taucht aus dem Nichts auf. Ebenso die Protagonisten und ihr Geschichten.
    Angefangen von einem jungen Polen, der mit seiner Freundin sein Glück in der großen Stadt sucht, über ein jugendliches Pärchen, welches von zu Hause ausreißt und sich zu Fuß nach Berlin durchschlägt, den Eltern dieser Kinder, die sich auf die Suche nach ihnen machen (oder auch nicht), bis hin zu einem uungen Berliner Pärchen mit einem Kiosk mitten in Berlin.
    Sie haben nichts gemeinsam, außer die Trauer, Einsamkeit und den Wolf. Der Wolf ist der rote Faden in dieser Geschichte, der entweder deren Weg kreuzt oder sie gedanklich beschäftigt. Und doch bleibt er im Hintergrund, während die Geschichten dieser Menschen in den Vordergrund rückt. Manchmal kreuzen sich die Wege dieser Protagonisten - zufällig, ohne Konsequenzen und nur kurz.
    Dieses Gefühl hat man auch als Leser. Als würde man bei einem Spaziergang durch das kalte und verschneite Berlin den Weg dieser Protagonisten kreuzen, ein kurzes Stück mit ihnen gehen, um dann einfach wieder zu verschwinden und sie mit ihrem Schicksal, ihrer Trauer und Einsamkeit alleine weitergehen zu lassen.
    Und wie auch der Wolf dann plötzlich verschwindet, verschwinden auch die Protagonisten mit ihren Geschichten.


    Die Sprache dieses Romans ist schnörkellos, melancholisch, bedrückend, einfach und doch beinhaltet der Roman so viel Tiefe und hält uns unsere kalte Gesellschaft vor Augen.


    Fazit:
    Ein melancholischer Gesellschaftsroman in einem ungewöhnlichem Schreibstil - still und doch so laut, oberflächlich und mit doch so viel Tiefe.
    Wenn man sich als Leser darauf einlässt, eröffnet sich einem ein Meisterwerk der Gegenwartsliteratur der ganz anderen, einer neuen Art. Daher gibt es von mir eine absolute Leseempfehlung.
    Und nun halte ich es wie der Wolf - entschwinde wieder so plötzlich wie ich gekommen bin und lasse Euch mit Eurem Schicksal und meiner Rezi allein.

    Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können. (Zsa Zsa Gabor)
    :twisted:

  • Danke an Ambermoon, deren Rezi mich damals angesprochen hatte. Und nun erhielt ich letzte Woche zufällig das Buch von einer lieben und vertrauenswürdigen Bekannten. « Lies es ! » Sofort getan und ich stimme der grundstimmig positiven Meinung und der Leseempfehlung zu ! Prima geschrieben in einem irgendwie nüchternen Ton, nicht übersentimental. Dabei aber doch an Tiefen rührend, Fragen aufwerfend über die Einsamkeit(en) des Menschen von heute.


    Ja, verschiedene Bilder und Geschichten, verbunden durch den Wolf, und auch geographisch irgendwie hauptsächlich in Berlin spielend. Jedoch nicht eine unzählige Menge an Stories, eigentlich nur vier, fünf, die nach Unterbrechung dann wieder aufgenommen und weitergesponnen werden. Und auch über die angesprochenen Verbindungen hinaus berühren und kreuzen sich die Lebenswege letztlich doch.


    Was aber darüber hinaus verbindet ist das Gefühl der Heimatlosigkeit im doppelten Sinne, eine Form der Unbehaustheit, der Einsamkeit, der Suche nach dem wirklichen Platz im Leben. Manchmal bleibt nur das Gefühl, in der Fremde zu sein, ohne Zuhause oder richtigen Entfaltungspunkt… Eher stets gefährdet und auf wackligen Füßen.


    Der etwas seltsame Titel ist übrigens schlichtweg der Anfang des allerersten Satzes.


    In mancherlei Hinsicht erinnert der Film in den verschiedenen Parallelsträngen von Ferne an Filme wie zB Babel von Inaritu, Magnolia von Paul Thomas Anderson oder Short Cuts von Robert Altman.


    Bei diesem besprochenen Buch hier aus dem Jahre 2016 handelt es sich um den ersten Roman des Autors.


    Zum AUTOR noch einige Angaben :

    Roland Schimmelpfennig (* 19. September 1967 in Göttingen) ist ein deutscher Schriftsteller und Dramaturg. Er ist der zurzeit meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Seine Stücke werden in über 40 Ländern aufgeführt.


    Roland Schimmelpfennig wurde in Göttingen geboren und arbeitete nach dem Abitur als Journalist in Istanbul. 1990 begann er eine Regie-Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Nach dem Abschluss wurde er Regieassistent und später Mitarbeiter der künstlerischen Leitung an den Münchner Kammerspielen. Er arbeitete außerdem an der Berliner Schaubühne, dem Wiener Burgtheater und am Deutschen Theater Berlin. Im Wintersemester 2012/13 übernahm Schimmelpfennig die 2. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik an der Universität des Saarlandes, in deren Rahmen er in drei öffentlichen Vorträgen im Januar 2013 seinen Begriff des Theaters erläuterte.


    Zahlreiche Theaterpreise.

  • tom leo Was für eine wunderschöne und treffende Rezension, welche mir Lust macht dieses Buch nochmals zu lesen. Danke!

    Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können. (Zsa Zsa Gabor)
    :twisted: