Swetlana Alexijewitsch - Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft / Chernobyl’skaja molitva

  • Amazon-Kurzbeschreibung:
    "Swetlana Alexijewitsch wurde bekannt durch die Dokumentation menschlicher Schicksale und gilt als wichtigste Zeitzeugin der postsowjetischen Gesellschaft. Über viele Jahre hat sie mit Menschen gesprochen, für die die Katastrophe von Tschernobyl zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde. Entstanden sind eindringliche psychologische Porträts, die ungeheure Nähe zu den Betroffenen aufbauen und von höchster Sensibilität und journalistischer Perfektion zeugen."


    Die Autorin (nach Wikipedia):
    Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch (* 31. Mai 1948) ist eine weißrussische Schriftstellerin. 2015 wurde ihr „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.



    Swetlana Alexijewitsch hat fast 20 Jahre an dem Buch geschrieben. Es handelt sich dabei nicht um eine Ursachensuche oder Chronologie des Reaktorunglücks vom 26. April 1986. Vielmehr lässt sie viele verschiedene Menschen, die in alle in irgendeiner Form von der Katastrophe betroffen waren, zu Wort kommen und zeichnet damit ein vielfältiges, facettenreiches und auch kritisches Bild der Katastrophe aus sehr unterschiedlichen Perspektiven:
    Da sind z. B. die Heimkehrer, die wieder in ihre verstrahlte Heimat zurückkehren und dort als Selbstversorger leben. Kriegsflüchtlinge suchen lieber in den verseuchten Gebieten Zuflucht als dass sie in ihrer Heimat bleiben, wo sie nach dem Zerfall der Sowjetunion ethnischer Hetze ausgesetzt sind. Soldaten und Liquidatoren kommen zu Wort, die am Reaktor gearbeitet und die verseuchten Gebiete dekontaminiert haben. Ihre Motivation war ganz unterschiedlich, einige wollten ihrem Land dienen, andere lockten das Abenteuer oder die Prämien, Urkunden, Medaillen und Vergünstigungen. Für viele Soldaten war es selbstverständliche Pflicht, die Arbeiten "menschlicher Roboter" dort zu erledigen, wo alle Technik aufgrund der Radioaktivität versagte. Jäger berichten über ihre schreckliche Aufgabe, die zurückgelassenen zutraulichen Haustiere zu töten; Parteifunktionäre erzählen, wie sie unter allen Umständen eine Panik in der Bevölkerung vermeiden sollten. Eltern, Familienmitglieder, Ehepartner und Kinder schildern ihre vielen persönlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken zu dem Unglück, den Evakuierungen, ihrem Leben nach der Katastrophe und mit der Strahlenkrankheit. Ärzte, Wissenschaftler, Journalisten, Radiologen und Strahlenmesstechniker berichten über das Vertuschen der Gefahren für die Bevölkerung, den Umgang mit verstrahlten Lebensmitteln und Gütern und das Unvermögen der Behörden. Für den (atomaren) Kriegsfall gab es massenweise Pläne, aber Tschernobyl war etwas vorher noch nie Dagewesenes, an dem die Behörden und Offiziellen versagten.


    Vielen Menschen war die Gefahr der Strahlung gar nicht bewusst - das Verbot, die guten Früchte aus dem eigenen Garten zu essen war für die Bewohner, von denen die meisten sich noch gut an den Hunger des 2. Weltkriegs erinnern konnten, viel schlimmer als die unsichtbare und nicht greifbare Radioaktivität. Krass ist die Unwissenheit in der die Bevölkerung gelassen wurde und die Vertuschung. Alle Bücher über Radioaktivität verschwanden aus den Büchereien, Kinder wurden nachts heimlich evakuiert und Lebensmittel mit untauglichen Messgeräten für unbedenklich erklärt. Wodka wurde als Mittel gegen die Verstrahlung deklariert und ausgegeben und die Verstrahlung war sowieso nur westliche Propaganda. In Weißrussland, wo ein erheblicher Teil der radioaktiven Wolke niedergegangen ist, wurde den Leuten bewusst die Gefahr verschwiegen, da die Bevölkerung zum Bewirtschaften der Felder und zur Planerfüllung benötigt wurde. Es macht einen so betroffen, wie leichtfertig die Behörden das Leben und die Gesundheit der Menschen aufs Spiel gesetzt haben.


    Das Buch ist voller Emotionen - jedoch ohne jemals rührselig zu sein. Man liest von Wut, Trauer, Verzweiflung, Ergebenheit, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Verlorenheit, Zynismus, Bitterkeit, Galgenhumor. Einige Gesprächspartner wollen nicht mehr über Tschernobyl reden und alles endlich hinter sich lassen, andere beginnen zu philosophieren über die Welt, Gott, die Rolle der Menschen in diesem Unglück oder über die sowjetische Seele...


    Man hat das Gefühl, dass die meisten Menschen im Buch dankbar sind, dass jemand ihnen zuhört und sich ihr persönliches Schicksal hinter dieser Katastrophe anhört. Dankbar, dass die Autorin ihnen eine Stimme gibt, damit das Erlebte nicht in Vergessenheit gerät. Angesichts des Entstehungszeitraums des Buches vermutet die Autorin selbst, dass viele Stimmen aus ihrem Buch nicht mehr leben.


    Das Buch ist sehr informativ und zeigt auch weniger bekannte Seiten der Katastrophe und ihre Auswirkung auf das Land, die Gesellschaft und die Menschen. Es ist sehr eindringlich geschrieben und ich musste öfter innehalten, um das Gelesene sacken zu lassen. Vor allem dann, wenn mir immer wieder klar wurde, dass das Gelesene kein Roman ist sondern die harte - erst 30 Jahre zurückliegende - Realität. Ein beklemmendes Buch, das mir lange im Gedächtnis bleiben wird. :thumleft:

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Ich habe die 1997 erstmals veröffentlichte Ausgabe gelesen. Es gab also nur die ersten zehn Jahre an Erfahrung mit Tschernobyl und den Folgen und noch keine Möglichkeit der Einordnung, wie sich das Ganze nach 25 Jahren darstellt. (Und wer weiß, wie wir in weiteren 25 Jahren darüber denken?!)
    Die Berichte sind in der gerade erst auseinandergebrochenen Sowjetunion entstanden, was viel Bitterkeit darüber und natürlich auch über die ehemaligen Parteigenossen erklärt, die militärische Rangordnung und Warten auf Befehle über die Gesundheit der Bevölkerung stellten.


    Das Buch hat mich ziemlich mitgenommen. Wir hatten ja erst vor kurzem über "Baba Dunjas letzte Liebe" diskutiert; mir kamen viele Passagen bekannt vor, weshalb ich vermute, dass die Autorin "Tschernobyl" und Betroffene kennt.


    Diese vielen, vielfältigen Erfahrungsberichte sind in ihrer Gesamtheit einfach nur schrecklich. Das, was passiert ist, die traurige Unwissenheit und Hilflosigkeit der Bevölkerung, die absichtliche Vertuschung und die Ohnmacht derer, die zwar was dagegen tun würden, aber gehindert werden, vor allem aber der letztlich doch total inkonsequente Umgang mit verseuchtem Material - furchtbar.


    Es wird sich nicht viel geändert haben seitdem; der Sarkophag ist undicht, verstrahlte Maschinen stehen frei in der Natur herum oder es wurde alles Mögliche geraubt und auf irgendwelche Märkte, wahrscheinlich inzwischen weit verstreut, verkauft und der mit Sand bedeckte, abgetragene Boden bringt sein strahlendes Erbe letztlich mit wild wachsenden Pflanzen doch wieder ans Tageslicht.


    (Fukushima schließlich hat ja gezeigt, dass auch ein hochindustrialisiertes Land erstens einen GAU erleben kann und zweitens mit seiner Informationspolitik nicht unbedingt offener umgeht als damals die Sowjetunion.)
    Und angesichts all dieser Informationen, mit dem 30. Jahrestag des einen und dem 5. Jahrestag des anderen GAU im Nacken, entscheidet bei uns im Jahr 2016 eine europäische Kommission, dass doch in Zukunft ruhig viele neue Reaktoren gebaut werden sollten, am besten dann eben mehr kleine Kernkraftwerke! :cry: Für jeden eins vor der Haustür?! :-,?( .
    Ob Bürokraten, die solche Entscheidungen treffen, wohl dieses Buch gelesen haben?? Man möchte es ihnen dringendst ans Herz legen!

  • Enormen Dank an @Studentine und @Frawina für Ihre intensiven und sehr eindringlichen Kommentare. Ich lese nun diese « Chronik der Welt nach der Apokalypse » (so der französische Untertitel meiner Ausgabe), und lese ganz langsam. Die verschiedenen dargestellten Zeugenaussagen (man merkt manchmal das « Aufgenommene » daran, das Monologhafte als auch das Dialogige) geben uns eine Einisicht in konkrete Leben, konkretes Erleben hinter den anonymen Zahlen und der doch von uns allen gewußten Katastrophe. Es ist aber etwas anderes, dahinter Einzelne zu sehen, Geschichten in einer unglaublichen Vielschichtigkeit.



    Studentine schrieb:
    Das Buch ist voller Emotionen - jedoch ohne jemals rührselig zu sein. Man liest von Wut, Trauer, Verzweiflung, Ergebenheit, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Verlorenheit, Zynismus, Bitterkeit, Galgenhumor. Einige Gesprächspartner wollen nicht mehr über Tschernobyl reden und alles endlich hinter sich lassen, andere beginnen zu philosophieren über die Welt, Gott, die Rolle der Menschen in diesem Unglück oder über die sowjetische Seele...


    Frawina schrieb:
    Diese vielen, vielfältigen Erfahrungsberichte sind in ihrer Gesamtheit einfach nur schrecklich. Das, was passiert ist, die traurige Unwissenheit und Hilflosigkeit der Bevölkerung, die absichtliche Vertuschung und die Ohnmacht derer, die zwar was dagegen tun würden, aber gehindert werden, vor allem aber der letztlich doch total inkonsequente Umgang mit verseuchtem Material – furchtbar.


    So waren auch meine überwiegenden Reaktionen, natürlich. Aber gleichzeitig tut sich hinter diesem unglaublichen Abgrund an … etwas auf, was sehr schwer zu umreissen ist, und man nur mit viel Vorsicht ausdrücken kann. Ich meinte, dann noch eine andere Dimension zu entdecken, wo so viele dieser Zeugen eine unglaubliche Würde haben, einen/unseren Respekt verdienen. Diese Menschen wurden mit Unsäglichem konfontiert und wecken nicht einfach «nur » Mitleid, sondern eine Form der Bewunderung. Und ich kann nicht anders als glauben, dass auch für die Autorin hinter dieser Bloßstellung von so viel Versagen eben noch mehr steckt. Sie betitelt (was nicht ins Deutsche übersetzt wurde, wieder einmal) dieses Buch ja im Russischen mit Chernobyl’skaja molitva / Чернобьская Молитва . Das bedeutet tatsächlich, « Gebet von Tschernobyl ». Ausdruck einer Klage, (im Französischen heißt es an dieser Stelle « supplication ») aber eben auch Ausdruck einer zutiefst existenziellen Ebene unseres Menschseins. Wird dadurch etwa Tschernobyl zu mehr als einer Apokalypse (so im Französischen) sondern zu einer « Chronik der Zukunft » ???

  • Ich meinte, dann noch eine andere Dimension zu entdecken, wo so viele dieser Zeugen eine unglaubliche Würde haben, einen/unseren Respekt verdienen. Diese Menschen wurden mit Unsäglichem konfontiert und wecken nicht einfach «nur » Mitleid, sondern eine Form der Bewunderung.

    Seit ich gesehen habe, dass du auch dieses unheimlich eindringliche und sich tief in die Seele einbrennende Werk liest, schaute ich immer mal wieder nach einem Kommentar oder einer Beurteilung hier im BT von dir.
    Mit deiner zitierten Aussage zur Würde und dem Respekt triffst du es voll und ganz, genau so habe ich beim Lesen auch empfunden. Im Buch wurde nie auf die Mitleidsdrüse gedrückt, sondern gezeigt, wie die Menschen mit den persönlichen Folgen der Katastrophe umgehen, diese für sich selbst bewerten, vielleicht damit hadern, aber dennoch damit weiterleben (müssen), egal wie schwer es sie oder ihre Lieben getroffen hat oder wie sehr sie in irgendeiner Form Schuld daran zu tragen haben.

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Das Buch klingt sehr interessant. Passend zum Thema kann ich noch die kurze Geschichte von T. C. Boyle "In der Zone" empfehlen.


    Kurzbeschreibung von Amazon:
    "Sie werde Knochenkrebs bekommen, sagte man ihr. Die Mäuse seien Ungeheuer, so groß wie Hunde, und sollte sie in ihrem Garten Tomaten oder Gurken pflanzen, so werde sie nichts davon essen können, weil die Erde voller Gift sei." Drei Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl macht Mascha sich entgegen aller Warnungen und nur in Begleitung ihres Nachbarn Leonid auf den Weg in die Zone, fest entschlossen, ihr verlassenes Zuhause wiederzufinden.


    Meine Wunschliste ist jedenfalls wieder um ein Buch länger... :uups:

  • Vor ein paar Jahren sind in Belarus überarbeitete bzw. erweiterte Ausgaben von Alexiejewitschs Büchern erschienen. Einer der Präsidentschaftskandidaten von 2020, Babariko, hat das Projekt finanziert, wenn ich mich recht entsinne.

    Ich habe alle fünf Bände im Regal stehen, die ich nun nach und nach lese. "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" und "Die letzten Zeugen" habe ich schon durch. Mehr als eines dieser Bücher im Jahr schaffe ich aber nicht. Die sind zu wuchtig.


    "Tschernobyl" lese ich gerade. Nach bereits zwei Kapiteln möchte in unter die Decke und heulen. Die beiden Kriegsbücher hatten eine ähnliche Wirkung auf mich, aber dieses finde ich viel schlimmer. Hier ist der Feind kein Mensch mit einem Gewehr, er ist unsichtbar, was sehr viel unheimlicher ist.

    Es ist ein so dünnes Bändlein und der Inhalt wiegt Tonnen...


    ***

    Aeria