Manu Larcenet - Der alltägliche Kampf / Le Combat ordinaire

  • Der Autor (Wikipedia und Reprodukt-Verlagsseite): Emmanuel „Manu“ Larcenet, der am 6. Mai 1969 in Issy-les-Moulineaux geboren wurde, ist ein französischer Comiczeichner und -Autor. Nachdem er Grafik und angewandte Kunst studierte, Zeichnungen in Musik-Fanzines veröffentlichte und recht erfolgreich in einer Punkband sang, begann er 1994 seine professionelle Comic-Karriere mit Kurzgeschichten für das monatliche Comic-Magazin „Fluide Glacial“, für das er bis 2006 arbeitete. Ab 1997 veröffentlichte er im belgischen Magazin „Spirou“ auch Geschichten, die sich an ein jüngeres Publikum richteten. In seinem eigenen Verlag „Les Rêveurs“ veröffentlichte er zwischen 1997 und 2005 fünf persönliche und düstere Werke. Durch Zusammenarbeiten mit den bekannten Comic-Künstlern Lewis Trondheim und Joann Sfar gewann er eine größere Leserschaft. 2003 begann er seinen melancholischen Vierteiler „Le combat ordinaire“. Der erste Band der Serie wurde 2004 auf dem Internationalen Comicfestival Angoulême als “Bestes Album” ausgezeichnet. Ab 2009 veröffentlichte er die düstere Krimiserie „Blast“ und begann 2015 eine Comic-Adaption des Romans „Le Rapport de Brodeck“ (dt. "Brodecks Bericht") von Philippe Claudel. Larcenets große Produktivität schlägt sich in mehr als 30 Comic-Alben nieder, die er allein und in Zusammenarbeit mit anderen Autoren und Zeichnern vorgelegt hat.


    Inhalt (Reprodukt-Verlagsseite): Marco, ein junger Fotograf, zieht aus einer Schaffenskrise heraus aufs Land, um dort seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Am Ende seiner Suche nach dem eigenen Platz in unserer Welt steht die Erkenntnis, dass die Menschen sich verändern, und dass man – manchmal – eine Wahl hat. Und so stellt sich Marco den Herausforderungen seiner Kunst, seiner Familie und der Liebe…


    Das Buch „Der alltägliche Kampf“ erschien im Herbst 2011 in deutscher Übersetzung von Barbara Hartmann und Kai Wilksen, Handlettering von Dirk Rehm und Farben wie im Original von Patrice Larcenet, beim Berliner Verlag Reprodukt. Diese Ausgabe basiert auf dem französischen Sammelband „Le Combat ordinaire - Intégrale“, der 2010 bei Dargaud in Paris erschienen ist. Enthalten sind die Einzelbände „Le Combat ordinaire“ (2003, dt. "Der alltägliche Kampf“ 2004), „Les Quantités négligeables“ (2004, dt. „Belanglosigkeit“ 2005), "Ce qui est précieux" (2006, dt. "Kostbarkeiten" 2006) und Planter des clous (2008, "Gewissheiten" 2008). [Für die ersten drei Bände verlinke ich zu schönen Rezensionen von @tom leo.] :winken:


    Im Sammelband wurde auf die Titel und die Umschlagbilder der Einzelbände verzichtet, stattdessen werden die einzelnen Abschnitte als Kapitel bezeichnet. So wird der Zusammenhang der vier eng verbundenen Abschnitte betont.


    Die Gesamtausgabe hat 252 Seiten und ist in recht stabiler Klappenbroschur gebunden. Biegt man die Seiten allerdings beim Lesen allzuweit auf (was man eigentlich ja eh nicht machen sollte :wink: ), wird wohl relativ schnell der Buchrücken brechen und ein unschönes Klaffen entstehen. Der Sammelband hat die Maße 19 mal 25,5 Zentimeter und ist damit etwas kleiner als die vier jeweils 64 Seiten starken Einzelbände, die als Softbroschur mit den Maßen 23,5 mal 31 Zentimeter erschienen sind. Meinem Lesegenuss tat die Formatverkleinerung allerdings keinen Abbruch, da die Seiten und die einzelnen Panels immer noch lesefreundlich groß sind. Erwähnt werden muss das kleinere Format natürlich dennoch. Puristen werden wohl die Einzelbände bevorzugen.


    Zitat

    Man kann nicht meckern: Wenn das Leben nicht gerade furchtbar ist, ist es herrlich! (S. 152)


    Dieser Comicband ist ein wirkliches Kleinod über den Alltag eines ganz normalen jungen Mannes, über die Gedanken, die er sich macht und über die Dinge, die er verdrängen will. Ein Mann, der unter plötzlichen Angstattacken leidet, der sich nicht leicht bindet und seine Freiheit (unter anderem nächtelang Playstation zocken :drunken: ) schätzt, der ein starkes soziales Gewissen hat und einen erfüllenden künstlerischen Beruf, der ihn aber mehr schlecht als recht ernährt, der ein ambivalentes Verhältnis zu seinen Eltern hat und Angst vor Veränderungen, die gegenwärtigen Zustände aber im Grunde ebenfalls nur kritisch beäugt. Einer von uns also! :wink:


    Wer denkt, über den Typus des „Großen Kindes“, also eines Mannes, der nicht erwachsen werden will, schon hinreichend informiert zu sein, da er in aller spöttischer Deutlichkeit schon viel zu oft in Büchern und Filmen vorgeführt worden ist, wird hier neue Seiten über Kindsköpfe und wie sie erwachsen werden, wie sie sich mit der Wirklichkeit arrangieren und in welchen Punkten sie sich eben gerade nicht arrangieren, kennenlernen können. Und vorgeführt wird hier keine einzige Figur! Mit einer außerordentlichen Tiefgründigkeit werden hier lebensechte Charaktere ins Rennen geschickt, mit denen man mitfühlen kann und von denen man vor allem auch jeden Schritt nachvollziehen kann. Figuren, die entweder offene Türen einrennen oder mit dem Kopf gegen die Wand. Danach lachen sie sich kaputt und dem Schrecken ins Gesicht. Ein alltäglicher Kampf, immer wieder aufstehen.


    Lässt man sich anfangs von der witzig wirkenden Figurenzeichnung (was hier, da Comic, bitte wörtlich gemeint ist - große Nasen, Kindchenschema) vielleicht in die Irre führen, entblättern sich sehr bald still und heimlich hinter dieser reinen Äußerlichkeit menschliche Sehnsüchte, Schwächen, Albernheiten und Abgründe, die absolut treffsicher eingefangen werden und dadurch unmittelbar nachempfindbar sind. Figuren wie parasoziale Freunde mit Eigenschaften und Marotten, unter denen man ebenfalls leidet. Man kennt einander. Verborgen in der kindlichen Niedlichkeit steckt so viel Wahrheit, dass es wehtun kann. Ein trojanisches Pferd.


    In leuchtenden Farben, flächig, mit klaren Konturen, weichen Bewegungen und ohne größere Experimente bezüglich Seitenaufteilung oder Panelgröße erzählt, variiert Larcenet mit leichter Hand das Tempo der Handlung und lässt Raum für etliche schöne Ruhepausen, also Abschnitte, in denen geschwiegen, resigniert und gehofft wird. Die Geschichte rollt vor dem Leser ab und spinnt ihn ein, nicht immer wissend, wohin die Reise geht, mal mehr in Bereiche persönlicher Defizite, mal mehr zur eigenen Familie der Vergangenheit, mal mehr in die moderne Arbeitswelt mit ihren sozialen Problemen und dann wieder direkt rein ins kalte Wasser: in die Bereiche Liebe, Zweisamkeit und Elternschaft. Und zwischendurch immer wieder Paukenschläge und Momente, in denen man schlucken muss.


    Eine sehr menschliche und engagierte Geschichte, voller Melancholie, Überschwang und liebevoll gezeichneter Schwäche, dabei keine Krankheitsgeschichte, wie man es anfangs vielleicht noch denken mochte bei all den Therapietreffen der Hauptfigur Marco und seinen Angstattacken, die er durch ständige Medikamentengabe bekämpft. Eher eine Geschichte über das Kranken an der Gesellschaft und an sich selbst, auch über die Annäherung an die eigenen Eltern, das Sich-öffnen für Zwischenmenschliches mit all der nötigen Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit sowie über den Schritt ins Erwachsenenleben, wenn man selbst ein Kind bekommt. Eine Geschichte voll Hoffnung und Normalität. Dass Dinge auch mal gut enden, wird nicht als Erfolgsgeschichte verkauft, sondern passiert einfach auch mal dann und wann. Menschen, die nicht alles perfekt hinbekommen, aber wissen, in welchen Punkten sie standhaft bleiben, welche Träume sie sich bewahren müssen, welche Gesellschaft sie ablehnen und vor allem: die wissen, was sie wollen und können.


    Auch wenn es nach ausgelutschtem Verkaufsargument und Verlagswerbung klingt: Wer gegenwärtige Literatur über die großen Themen Liebe, Tod, die Beziehung zu den eigenen Eltern und Verantwortung - im Privaten und in der Gesellschaft – schätzt und sich dieses Jahr nur ein Buch kaufen will, sollte Manu Larcenets „Der alltägliche Kampf“ unbedingt in Betracht ziehen. Ich bin berührt, ertappt und begeistert. :pray:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Hier das französische Original als integrale Gesamtausgabe von Dargaud aus dem Jahr 2014.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)