Orhan Pamuk – Diese Fremdheit in mir / Kafamda Bir Tuhaflık

  • Überschrift:
    Orhan Pamuk – Diese Fremdheit in mir
    Untertitel:
    Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karataş und seiner Freunde
    sowie
    ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012
    Originaltitel:
    Kafamda Bir Tuhaflık (Türkische Originalausgabe 2014)
    Deutsche Übersetzung:
    Gerhard Meier
    Hörbuch ungekürzt vorgelesen von:
    Hanns Zischler, Dietmar Wunder, Devid Striesow, Walter Kreye, Regina Lemnitz, Maria Koschny, Janin Stenzel, Ulrike Hübschmann, Stefan Kaminski
    English Title:
    A Strangeness in My Mind (Translated from the Turkish by Eklin Oklap)


    Inhalt:
    Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt in „Diese Fremdheit in mir“ vom schillernden Leben eines Straßenverkäufers, als Istanbul sich in eine moderne Metropole verwandelt.
    Kann man die falsche Frau heiraten und trotzdem die große Liebe finden? Mevlut ist Straßenverkäufer in Istanbul, als er sich Ende der 60er Jahre auf der Hochzeit seines Cousins in die jüngere Schwester der Braut verliebt. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien. Doch dann schickt man ihm die ältere Schwester. Pflichtbewusst heiratet Mevlut Rayiha, und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Die beiden Familien leben drei Jahrzehnte in enger Verbundenheit, doch dann nimmt ihr Schicksal eine dramatische Wende. Istanbul aus der Sicht kleiner Leute: Ein großartiger Schelmenroman und ein Familienepos – vor allem aber erzählt der Nobelpreisträger Pamuk eine erstaunliche Liebesgeschichte. (Quelle: Carl Hanser Verlag)


    „Diese Fremdheit in mir“ ist eine großartige Familiensaga von 1969 bis 2012, eine weitere Liebeserklärung Orhan Pamuks an die Stadt Istanbul und die wunderschöne Biografie eines Menschenschicksals in einer Zeit des Wandels.
    Diesmal lässt Pamuk seinen Roman nicht in den gutbürgerlichen Ortsteilen Istanbuls agieren, wo er selber groß wurde und heute noch lebt, sondern in den Vierteln der zugezogenen Arbeitsmigranten aus anatolischen Dörfern und Kleinstädten. Er erzählt von den Sehnsüchten, Empfindungen und Taten des jungen anatolischen Straßenverkäufers Mevlut, den der Vater zu sich nach Istanbul holt während Mutter und Schwester im Dorf zurück bleiben. Die Zerrissenheit zwischen dem aktuellen Leben des duldsamen, herzensguten Mevluts und den Gedanken ‚Was wäre wenn gekommen‘ machen die erzählerische Spannung des Romans aus.
    Gleichzeitig erlebt der Leser wie sich die Umwelt in den 30 Jahren verändert. Mevlut verkauft Joghurt aus Bottichen, doch irgendwann sinkt die Nachfrage als Joghurt in Geschäften später Supermärkten viel sauberer in Keramikgefäßen, dann in Gläsern, schließlich in Plastikbechern angeboten wird. Also reicht das Joghurt verkaufen bald nicht mehr zum Leben, und Mevlut schultert abends das Tragejoch der Boza-Verkäufer. Das Alltägliche des langsamen Umbruchs, es gibt viele unterschiedliche Beispiele im Buch, macht die Schönheit des Romans aus.
    Ganz nebenbei erlebt man die Entwicklung Istanbuls von einer großen Stadt in die heutige Megalopolis mit der begleitenden Bodenspekulation, von der politischen Polarisierung zwischen der türkischen Linken und den Nationalisten, vom aufkeimenden Islamismus. Auch hier sind es wieder die vielen lebendigen Details, die einen fesseln. Die Herkunft der Straßenverkäufer bestimmt z.B. ihren Geschäftszweig; die Migranten aus Anatolien verkauften Joghurt, gefüllte Muscheln waren die Spezialität der Kurden. Der Boza-Verkauf erlaubt Mevlut Einblicke in die Wohnungen seiner Kunden. Unaufhaltsam ändern sich auch hier die Lebensgewohnheiten.
    Positiv zu erwähnen ist weiterhin die Erzählweise von Orhan Pamuk in diesem Roman. Mevlut zeigt viele sprachliche Nöte, benutzt einen Briefsteller, um zu Beginn des Romans Liebesbriefe an seine Angebetete zu schreiben. Seine Geschichte wird von einem auktorialen Erzähler geschildert. Alle anderen Romanfiguren kommen immer wieder als Ich-Erzähler zu Wort, was dem Buch viel Lebendigkeit gibt. Es bleibt allerdings bei einer sehr gefälligen Sprache.

    Das könnte einer der wenigen negativen Aspekte des Romans sein, diese kastrierte Kultursprache passt nicht zum Milieu der Arbeitsmigranten in Istanbul, der Straßenverkäufer ohne Schulabschluss. Es wirkt wie eine Sprache, die sich selber Fußfesseln anlegt. (Diese Meinung beruht sowie auf der englischen Übersetzung von Eklin Oklap wie auch auf der deutschen Übersetzung von Gerhard Meier.)
    Frustrierend sind die Figuren der im anatolischen Dorf Zurückgebliebenen, insb. der Frauen, sie haben keine wirkliche Stimme im Roman. Es kommt nicht klar rüber, ob dies eine Schwäche des Erzählers ist oder von gesellschaftlicher Bedeutung. Der Leser erfährt nur von Mevluts Bedauern. Seine Zerrissenheit zwischen Heimatdorf und neuer großstädtischer Heimat bleibt oberflächlich.

    Der Lauf der Dinge wird in „Diese Fremdheit in mir“ mit sehr vielen Details weder nostalgisch noch melancholisch erzählt. Zwischen den Zeilen merkt man Orhan Pamuk an, wie es ihn ärgert, dass die Situation in der Türkei immer noch als ‚postottomanisch‘ bezeichnet werden kann.
    Mit diesem wunderbaren Familienfresko vor der Kulisse Istanbuls reiht sich Pamuk weiterhin in die Linie der großen Erzähler des 20. Jahrhunderts ein, wie dem so von ihm verehrten Thomas Mann. Er versteht es aus Alltagsdingen und kleinen Vorkommnissen allgemeingültige Bücher zu schaffen, Weltliteratur eben.


    Zum Hörbuch:
    Da ich des Türkischen nicht mächtig bin, las ich die englische Übersetzung auf meinem Kindle abwechselnd mit dem deutschen Hörbuch im Ohr. Das brachte zeitweilig mehr Details zum Vorschein als es eine Übersetzung allein ausgemacht hätte. Die deutschen Sprecher waren dabei angenehm neutral, so dass ich mich voll auf den Text und die Bilder, die er aufrief, konzentrieren konnte.