John Scalzi - Das Syndrom / Lock in

  • Die Rezension bezieht sich auf das englische Original, ich verwende daher auch Begrifflichkeiten, wie sie im Original vorkommen. In der Übersetzung können die Begriffe abweichen.


    In nicht allzu ferner Zukunft wird die Menschheit von einer globalen Grippe-Epidemie heimgesucht. Das Virus löst eine Form der Meningitis aus, die bei einem Teil der Betroffenen zu einer kompletten körperlichen Lähmung führt: Während die Patienten bei vollem Bewusstsein sind, können sie sich nicht mehr bewegen, sie sind in ihren Körper eingeschlossen – locked in. Ein anderer Teil der Betroffenen überlebt die Infektion ohne körperliche Schäden, aber mit kognitiven Einschränkungen. Ein dritter Teil behält eine veränderte Hirnstruktur zurück, aufgrund derer die Betroffenen mit technologischer Hilfe eine geistige Verbindung mit den locked-in Patienten aufnehmen können – die sogenannten Integrator. Die merkwürdige Krankheit wird nach der US-amerikanischen First Lady, die ebenfalls betroffen war, Haden's Syndrom genannt.


    Das Syndrom ist nicht vollständig fiktiv, sondern ähnelt in seinen Symptomen dem Guillain-Barré Syndrom (GBS), einer autoimmunen Nervenerkrankung, die ebenfalls zur Lähmung des kompletten Körpers führt. GBS hat auch eine Lähmung der inneren Organe zur Folge, kann aber behandelt werden. Beim Haden's Syndrom ist beides nicht der Fall. Die Betroffenen bleiben ein Leben lang in ihren Körper eingeschlossen. Mithilfe moderner Technologie können sie allerdings am Leben teilhaben: Sie treffen sich im nicht-physischen Raum der „Agora“, verbinden sich mit Roboter-Körpern („threeps“) oder nutzen einen Integrator als „Transportmittel“ ihres Geistes. So können Hadens am ganz normalen sozialen Leben teilnehmen und auch arbeiten. Wie zum Beispiel Chris Shane.


    Chris, seit dem zweiten Lebensjahr von Haden''s betroffen, ist ganz frisch beim FBI und wird schon am zweiten Tag im Dienst mit einem Mord konfrontiert. Ein Verdächtiger sitzt gleich am Tatort – ein Integrator. Das stellt Chris und Partnerin Leslie Vann vor ein Problem: Hat der Integrator den Mord selbst begangen? War gerade ein Haden in sein Hirn „eingeloggt“? Oder ist alles doch vollkommen anders, als es scheint? Nicht das einzige Problem: Chris' Vater ist ein berühmter Ex-Basketballprofi und möchte für den Senat von Washington D.C. kandidieren. Als eines der ersten Kinder, die vom Haden's Syndrom betroffen waren, ist Chris außerdem selbst eine kleine Berühmtheit, was die Arbeit fürs FBI nicht einfacher macht.


    Lock in ist ein klassischer Pageturner, sehr geradeaus geschrieben und dialoglastig. Der Autor wirft den Leser unmittelbar in die Geschichte hinein und startet mit wenigen Erklärungen. Vann ist der typische Hardboiled-Cop mit Alkholproblem, Chris ist das rich kid, das mehr mit seinem Leben anfangen will; Scalzi nimmt sich viel Zeit, seinen Charakteren über diese Stereotype hinaus etwas mehr Tiefe zu verleihen, aber schließlich passiert das doch.
    Der Kriminalfall ist eher durchschnittlich spannend, es löst sich alles wenig überraschend und durch sehr viele, sehr glückliche Fügungen auf. Wesentlich interessanter fand ich die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor die das Haden's Syndrom die Menschen stellt: Auch in dieser Zukunftsversion gibt es in den USA keine staatliche Gesundheitsfürsorge. Da die First Lady von Haden's betroffen war, hat die Regierung die Pflege und die Entwicklung technologischer Hilfsmittel zunächst finanziell gefördert. Zum Zeitpunkt, als die Geschichte einsetzt, tritt gerade ein Gesetz in Kraft, das dieser finanziellen Förderung den Hahn zudreht. Scalzi betrachtet auch darüber hinaus, wie die Gesellschaft mit Millionen von Betroffenen umgeht – Hadens, von denen ein Teil gar nicht mal an Heilung interessiert ist, sondern daran, als vollwertige Menschen anerkannt zu werden. Mittlerweile haben die Hadens ihre eigene Gesellschaft mit eigener Kultur entwickelt; bei Heilung befürchten sie deren Verlust.


    Die Tatsache, dass Hadens nicht in ihrem eigenen Körper, sondern in Roboter-Körpern oder Integrators unterwegs sind, hat Scalzi zudem einen kleinen Kunstgriff anwenden lassen, den ich ebenfalls ganz interessant fand. Das ist zwar kein inhaltlicher Spoiler, aber für Leser, die ganz unvoreingenommen an die Lektüre gehen möchten, spoiler ich es doch:



    Der deutsche Klappentext deutet darauf hin, dass sich dieses Detail in der Übersetzung nicht findet. Aber da Klappentexte ja nicht immer dem Inhalt des Buches entsprechen, kann es auch anders sein. Vielleicht mag irgendwann mal jemand, der das Buch auf Deutsch gelesen hat, etwas zu dem Punkt sagen. :wink:


    Wertung: :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:


    Ein kleiner Tipp: Das Buch wirft den Leser wie erwähnt mitten in die Geschichte hinein. Wer vorher etwas mehr über das Haden's Syndrom wissen möchte, kann die kostenlose Kurzgeschichte „Unlocked. An Oral History of the Haden's Syndrom“ bei Tor.com lesen.


    Über den Autor (von amazon.de)
    John Scalzi, geboren am 10. Mai 1969, wuchs in Kalifornien auf. Er studierte und begann bald als Filmkritiker zu arbeiten. Mitte der 1990er-Jahre heiratete Scalzi und wechselte für rund drei Jahre zu dem US-amerikanischen Onlinedienst AOL. Dann machte er sich als Schriftsteller selbstständig. Im gleichen Jahr - 1998 - kam seine Tochter Athena zur Welt. Zwei Jahre später veröffentlichte er sein erstes Sachbuch, 2005 dann seinen ersten Roman. Auf seiner (sehr lesenswerten, Anmerkung von mir) Internetseite hält der produktive Autor fast täglich Kontakt zu seiner Fangemeinde. Besonderen Zuspruch findet sein Essaygedicht "Being Poor".

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Das klingt so, als ob hier der sonst eher für Scalzi typische Humor fehlt. Ist das richtig? Auf jeden Fall liest sich das interessant und anders, als das was ich bisher von Scalzi kenne. Danke für die Rezension. Ich würde @Kapo aber eher zu Krieg der Klone schubsen. Wie siehst Du das @FreakLikeMe?

  • @Wann Lock in war der erste Scalzi, den ich gelesen habe, ich kann daher keine Vergleiche anstellen. Leicht subtiler Humor ist vorhanden, in den Dialogen. Wie typisch oder untypisch das für Scalzi ist, kann ich aber nicht beurteilen.
    Krieg der Klone steht auf jeden Fall auch auf meiner Liste.

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