Thomas More - Utopia

  • Klappentext (meiner englischen Ausgabe): Thomas More's Utopia painted a fantastical picture of a distant island where society is perfected and men live in harmony; yet its title means 'noplace' and More's hugely influential work was ultimately an attack on his own corrupt, dangerous times, and on the failings of humanity.


    Meine Meinung: Kaum ein Genre hat in den letzten Jahren einen so großen Aufschwung verzeichnen können wie die Dystopie, deren Romane auf der "Hungergames"-Welle mitschwimmen wollten. Doch wie oft auch ein Autor eine Gesellschaft fernab jeglicher Menschenrechte zeichnete, am Anfang stand doch das Gegenteil: Die Utopie; das Idealbild eines Staates. Dieser Begriff stammt nicht von irgendwo, heißt im Altgriechischen "Nicht-Ort" und wird erst durch Thomas More (im dt. "Morus") zu seiner heutigen Bedeutung gebracht.
    Anfang des 16. Jahrhunderts erscheint sein Werk über die Insel Utopia, die fernab der europäischen Welt existieren soll. Sie soll existieren und More gibt sich Mühe, dieses "existieren" dem Leser so wahrscheinlich wie möglich zu machen. Utopia beginnt mit zwei abgedruckten Briefen; der eine geht von dem Autor an seinen Bekannten Peter Gilles. Thematisiert wird die "Entstehungsgeschichte" von Utopia: Dem Leser wird nahe gelegt, dass More lediglich aufgeschrieben hat, was ihm erzählt wurde. Und so beschreibt das erste von zwei Büchern die Begegnung mit Raphael, einem Reisenden, der auch das Land Utopia einige Jahre aufsuchte. Vor allem haben ihm die Besuche anderer Länder, die Begegnung mit anderen Systemen und Vorstellungen von Recht und Politik vor Augen geführt, welche Missstände es im Europa des 15./16. Jahrhunderts gibt; so prangert er unter anderem den Umgang mit Kriminellen in England an.


    Das Land Utopia wird erst im zweiten Buch beschrieben. Die Geographie des Landes, die Organisation der Nahrungsmittelbeschaffung, Aufbau der Städte, Kleidung, Tagesablauf. Obwohl Raphael früh meint, dass es in Utopia nicht viele Gesetze gibt und das Leben dennoch reibungslos funktioniert, Freiheit und Zufriedenheit herrscht, gibt es doch eine Menge Punkte anzusprechen. Vieles schwankt zwischen Irrsinn und Großartigkeit, was aber nicht allein an der Zeitspanne von 500 Jahren liegt, die seit der Veröffentlichung verstrichen ist. Manche Leitideen könnten auch aus einem heutigen Ratgeber stammen: "A pretty face may be enough to catch a man, but it takes character and good nature to hold him." Das steht heute noch in jedem Anti-Diät-Artikel für Frauen. Die Utopier hält das jedoch nicht davon ab, dass sich Partner vor der Eheschließung einmal völlig nackt begutachten sollen - in Begleitung einer Anstandsdame, bzw. eines -mannes. Die Gleichberechtigung der Geschlechter funktioniert auch nicht vollständig: Wahlrecht gibt es für alle, aber die Ehemänner sind immer noch "responsible for punishing their wives"; Mädchen dürfen mit 18 heiraten, Jungen einige Jahre später.
    Besonders schockiert in diesem utopischen Staat die Existenz von "slaves", die erst nach einiger Zeit erklärt und in gewissen Maßen relativiert wird. Das Verhalten in Kriegen gibt einem ebenfalls zu denken. More selber schließt das Buch mit dem Fazit, dass er eine Menge Gesprächsbedarf mit Raphael habe. Es gibt löbliche Ansätze, wie die Geringschätzung von materiellen Werten wie Gold und Silber, die schon den Kindern Utopias eingebläut wird; den Verzicht auf Geld. Eine Umsetzung utopischer Ideale in Europa scheint aber weder im damaligen noch im heutigen Europa möglich.
    Der Umgang mit Philosophie und Religion ist dafür sehr interessant und nimmt nach der äußeren Beschreibung Utopias einen Großteil des zweiten Buches ein. Irgendwie gibt es in dem Land eine Religion und gleichzeitig zahlreiche. Die alten Philosophen kommen dazu sehr gut an.


    Fazit: Utopia soll ein Idealbild zeigen, einen möglichst perfekten Staat, bleibt aber bei der bloßen Beschreibung. Richtig lebendig wird er dadurch nicht und besonders als Leser des 21. Jahrhunderts darf man große Zweifel haben: Wo hört die Utopie auf und wo fängt die Dystopie an? Was nämlich an vielen Stellen fehlt, ist die Individualität und Selbstbestimmung der utopischen Bürger: Sie werden geboren in Organisation und Stabilität. Ob der Nervenkitzel eines eigenen Lebens möglich ist, bleibt fraglich.
    An einer der Stellen, die den Leser immer wieder zum schmunzeln bringen, fasst More seinen eigenen (??) fiktionalen Staat sehr passend zusammen: "Quite apart from such things as their military tactics, religions, and forms of worship, there was the grad absurdity on which their whole society was based, communism minus money." Tatsächlich sehr treffend.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    "All we have to decide is what to do with the time that is given to us."

  • Ursprünglich wurde das Buch in Latein verfasst und obwohl More englischer Staatsbürger war, erschien die erste englische Übersetzung erst drei Jahrzehnte nach der ersten Deutschen.
    Trotzdem kann ich die englische Version nur empfehlen vor allem in dieser schönen Ausgabe, die ich gelesen habe :thumleft:

    "All we have to decide is what to do with the time that is given to us."

  • Danke auf jeden Fall für die Vorstellung dieses Buches, das ich vor Jahren gelesen habe. Es begründete nicht allein, so sehr dystopische Romane, als eben die davon benannten "utopischen" Romane: andere Möglichkeiten eines Zusammenlebens. Der Autor geht selber dabei in eine gewisse Balance zwischen "Beschreibung" und Kritik. Ich las gerade aus Interesse nochmals ein wenig anderweitig nach, da doch meine Erinnerungen lange zurückliegen: https://de.wikipedia.org/wiki/Utopia_(Roman)


    Es ist natürlich auch interessant zu erwähnen, wie dieser "seltsame Vogel" von Thomas More anderweitig gelebt hat, dass er durch sein Eintreten innerhalb des englischen Staates zu seiner Zeit einen Akt des Widerstandes leistete. Er wurde heiliggesprochen von der katkolischen Kirche..., siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Morus

  • Danke auf jeden Fall für die Vorstellung dieses Buches, das ich vor Jahren gelesen habe. Es begründete nicht allein, so sehr dystopische Romane, als eben die davon benannten "utopischen" Romane: andere Möglichkeiten eines Zusammenlebens. Der Autor geht selber dabei in eine gewisse Balance zwischen "Beschreibung" und Kritik. Ich las gerade aus Interesse nochmals ein wenig anderweitig nach, da doch meine Erinnerungen lange zurückliegen: https://de.wikipedia.org/wiki/Utopia_(Roman)

    Man merkt beim Lesen sehr stark, dass er gerne auch Kritik anbringt. Wen wir heute von einem Utopia reden, dann eher in der Verwendung eines erstrebenswerten Idealstaates, während More (siehe auch mein Fazit) selbst stark daran zweifelt. Seine eigene "Erfindung" macht er mit dem Ende selbst herunter und ich muss mal sehen, ob er sich irgendwo später tatsächlich noch genauer dazu geäußert hat.
    (Wikipedia hatte ich schon durch :wink: Allerdings hatte ich auch mal eine Vorlesung dazu, deswegen kannte ich das Buch auch nur. Mal sehen, ob ich da noch was Interessantes finde.)

    "All we have to decide is what to do with the time that is given to us."