Gustav Regler - Die Saat

  • Der Autor (nach Klappentext und Wikipedia): Gustav Regler, geboren 1898 in Merzig/Saar als Sohn eines Buchhändlers, war Schriftsteller, Lehrer und Journalist. Er kämpfte als Soldat im Ersten Weltkrieg, gegen den Anschluss des Saarlandes an NS-Deutschland und als Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Reichstagsbrand 1933 floh Regler vor der Gestapo über Worpswede und das Saarland nach Paris. Während der Nazizeit veröffentlichte er diverse Bücher, u.a. den kirchenkritischen Roman „Der verlorene Sohn“, beim Querido Verlag in Amsterdam, einem der wichtigsten Verlage für deutsche Exilliteratur. Seit November 1934 wurde Regler auf der Ausbürgerungsliste des Deutschen Reiches als Staatsfeind Nr. 19 geführt. :) Sein Roman „Wasser, Brot und blaue Bohnen“ war schon im Mai 1933 eines der von den Nazis verbrannten Bücher. Regler war gut befreundet mit Egon Erwin Kisch und Ernst Bloch, überzeugter Antifaschist und ein strammer Kommunist, auch wenn er sich mit den Jahren politisch immer stärker von der stalinistischen Sowjetunion abwandte, nichts zuletzt als Reaktion auf den Hitler-Stalin-Pakt. 1945 starb seine Frau nach langjähriger Krebserkrankung, was ihn auch in seinem literarischen Schaffensprozeß beeinträchtigte. Er unternahm erneut viele Reisen in Europa und der Welt. 1948 erschien sein Heimkehrerroman „Sterne der Dämmerung“, 1955 sein Renaissance-Roman „Aretino“ und 1958 seine vielbeachtete Autobiografie „Das Ohr des Malchus“. Auf einer Studienreise nach Neu-Delhi in Indien verstarb er 1963.


    Inhalt (Klappentext): 1493: Die elsässischen Bauern planen den Aufstand gegen die drückende Herrschaft der Fürsten. Doch die „Bundschuh“-Mitglieder werden verraten und hingerichtet. Joß Fritz, einem Schwarzwälder Bauern, gelingt die Flucht. Mit seiner unterm Wams versteckten Bauernfahne taucht er immer wieder dort auf, wo die Bauern sich erheben, und wird zur Legende.


    Der Roman „Die Saat“ erschien erstmals 1936 im Querido Verlag Amsterdam. Er trägt den Untertitel „Roman aus dem Bauernkrieg“. Allerdings beschäftigt er sich nicht mit dem eigentlichen „Bauernkrieg von 1525“, sondern hat sich bäuerliche Volksbewegungen im deutschen Südwesten rund um das Jahr 1500 als Thema gewählt, somit die Wurzeln des großen Aufstandes von 1525. Erzählt wird die Geschichte anhand der Figur des aufrüherischen „Revolutionärs“ Joß Fritz, der um 1470 in Untergrombach bei Bruchsal geboren wurde. Er war leibeigener Bauer, begann allerdings nach dem ersten, gescheiterten Aufruhr 1493 im elsässichen Schlettstadt, Verschwörungen gegen Lehnsherren und Kirchlichkeit zu organisieren, zunächst 1502 im Kraichgau, dann 1513 im Breisgau und 1517 am Oberrhein. Diese bäuerlichen Erhebungen standen im Zeichen des Bundschuhs, einem typisch bäuerlichen Schuhwerk, das gewissermaßen gegen „die da oben“ zu Felde zog. Alle diese Verschwörungen und geplanten Aufstände sind jedoch durch Verrat gescheitert. Joß Fritz konnte jedes Mal entkommen.


    Der Roman deckt die Zeit zwischen 1493 und 1502 ab und beschäftigt sich haupstächlich (nebst einigen kontrastierenden Kapiteln rund um den Habsburger Herrscher Maximilian I., ab 1486 römisch-deutschem König und ab 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, und einem Türkenfeldzug in der Steiermark, an dem auch Joß Fritz teilnahm) mit dem geplanten Bundschuh-Aufstand in Untergrombach, bei dem das Schloß Obergrombach erstürmt und dann die Stadt Bruchsal eingenommen werden sollte. Da auch dieser Aufstand scheitert, endet der Roman gewissermaßen ohne großen Knalleffekt. Doch was zuerst wie ein dramatugisches Defizit wirkt, stellt sich am Ende als die große Stärke des Romans dar. Seine interessante Anlage mit der, so wirkt es zunächst, ungewöhnlich gewählten Handlungszeit vermag nämlich eine ganz besondere Wirkung auf den Leser auszuüben: Da der Roman mit dem Scheitern eines Bauernaufstandes endet, bleibt der zugrundeliegende Konflikt zwischen Machtmissbrauch der Herrschenden und dem Duckmäusertum bzw. dem Umsturzhandeln der Beherrschten ungelöst - und steht wie eine Aufforderung an den politisch denkenden Leser im Raum, selbst den revolutionären Fehdehandschuh aufzunehmen, weiter in dieser politischen Richtung „aktiviert“ zu bleiben und zu schauen, wo die "staatlichen" Unterdrücker weiterhin ihre Macht über „das Volk“ ausnutzen. Im Roman sind die Unterdrücker feudal, klerikal oder kaiserlich, in der Lebenswirklichkeit des Leser können sie ganz anderer Art sein ... :wink:


    Da das Scheitern durch den Verrat eines feige Angepassten geschieht, lässt sich darüberhinaus zum einen erzählen, wie fragil politische Bewegungen sind, und wie sehr das Individuum oft um die eigene Sicherheit besorgt ist, was meist zu Lasten der Allgemeinheit geht. Zum anderen wird klar, wie sehr das vorherrschende System feudaler und klerikaler Unterdrückung und Ausbeutung darauf fußt, durch Einschüchterung der Untergebenen das Aufkommen radikaler Gedanken und umstürzlerischer Bewegungen gar nicht erst zu ermöglichen, indem auf die feige Verzagtheit der Menschen gebaut wird, die den Einzelnen das Einstehen für die eigenen Belange an zweite Stelle nach dem Wohlergehen des Herrschers bzw. (heute) des Staates verschieben lässt. Ein Phänomen, das heute noch genauso viel Bestand hat.


    Das Nachwort von Reiner Wild (es ist so stimmig wie ausführlich und bei dem Unwissen über diesen vergessenen Autoren gewissermaßen notwendig) eröffnete mir einen weiteren wichtigen Aspekt, indem es den Roman in den Rahmen deutscher Exilliteratur stellte, die besonders oft Zuflucht zu historischen Stoffen nahm. In Exilliteratur, die vor allem auch für die Leser des Auslandes geschrieben wurde, konnten deutsche Autoren gewissermaßen ein Bild des „anderen“, nicht faschistischen Deutschlands und seiner geschichtlichen Wurzeln aufzeigen. Darum ging es wohl häufiger, als um das reine Verstecken brisanter Themen in der „unverfänglichen“ orts- und zeitfernen Vergangenheit. Es handelt sich bei „Die Saat“ tatsächlich nicht einfach um einen antifaschistischen Roman, der seine Aussage in historischen Analogien verbirgt, sondern um eine tatsächliche, faktengetreue Aufarbeitung einer historischen Situation, die große Relevanz für die Gegenwart beweist, und das nicht nur für die Gegenwart der 1930er-Jahre: Es geht um die subversive Auflehnung gegen Tyrannei, Willkür und Gewaltherrschaft und die freiheitsliebende Selbstermächtigung der Unterdrückten.


    Das Nachwort gewährt außerdem einige Einblicke in Reglers möglichst faktengetreue Arbeitsweise: Wenn direkte Verweise auf das unmenschliche Unrecht im Hitler-Deutschland gezogen werden, passiert das stets nur in Erzählungen, im Hörensagen über Willkür, Unmenschlichkeit, Terror und Machtmissbrauch, um dem Leser das nachträgliche Einordnen gewisser Vorgänge und das Erkennen quasi die Zeiten überdauernder, allgemein-menschlicher Niedertacht zu erleichtern, die einem ausbeuterischen System geschuldet ist. Tatsächliche, historische Ereignisse werden dagegen nicht mit einer antifaschistischen Absicht „umgeschrieben“, was den moralischen Wert des Romans zwar überhaupt nicht, den historischen Wert dagegen schon um einiges schmälerte.


    Die Hauptfiguren (und auch die Nebenfiguren) bleiben unnahbar; charakterliche bzw. menschliche Einfühlung findet kaum statt. Das führt zu einer guten Draufsicht auf das Geschehen und gibt der Geschichte einen altertümlichen Tonfall, schafft aber wenig Raum zum Mitfiebern mit den Figuren, es sei denn, die geschilderten Vorgänge sind an sich so rasant und außergewöhnlich, so dass die Spannungskurve rein von der Handlungsebene her in die Höhe schnellt – was übrigens sehr oft geschieht. Der kluge, wenn auch etwas spröde Roman ist also recht spannend erzählt, ohne sich (zum Glück!) allzu sehr mit der Hauptfigur und ihrem "psychologischen Hintergrundrauschen" zu befassen. Eine nachträgliche Heldenverehrung oder Mystifizierung ist nicht angestrebt, eher wird gezeigt, wie eigenbrötlerisch und engstirnig militante Kräfte werden könnten. Spätestens, als Martin, den zweiten Mann an der Seite von Joß Fritz, Zweifel beschleichen, und er sich zunächst in ein Kloster zurückzieht, nimmt der Roman - was für einige interessante Kapitel sorgt - auch die ständigen Selbstzweifel an der Richtigkeit des eigenen Tuns und die ständige Selbstüberwindung, seinen Hals für eine lebensgefährliche, überpersönliche Sache zu riskieren, in den Blick. Dessen ungeachtet geht es weniger um die Darstellung einer Führerpersönlichkeit, sondern darum, wie Unzufriedenheit in umstürzlerische Tat umgemünzt wird; mit allen Fehlern, Zweifeln, Anfeindungen, Gefahren, Übertreibungen und Irrwegen. Wie Vaganten und Tagelöhner instrumentalisiert werden, um bei ihren Reisen mit immer neuen Schreckensgeschichten (tatsächlichen und übertriebenen) Stimmung zu machen im Volk gegen die Lehnsherren. Wie sich nach und nach revolutionäre „Parallelgesellschaften“ bilden, die den Umsturz planen. Ein Roman über die Kraft des geflüsterten Wortes gewissermaßen. "Die Saat" beleuchtet somit ein fast vergessenenes Kapitel der deutschten Geschichte, das in vielfältiger Weise auch im 20. und 21. Jahrhundert mit Genuss und Gewinn verstanden werden kann (auf dass die einmal ausgebrachte Saat eines Tages auch aufgeht :rambo::wink: ). Gustav Regler ist außerdem in der Lage, einen realistisch wirkenden Einblick in die unsichere, gewaltbeherrschte, armselige, feindliche und ehrfürchtige Welt des späten Mittelalters und der sehr frühen Neuzeit zu geben – vom bäuerlichen Alltag im Dorf, über das „ausgestoßene“ Leben auf der Straße bis hin zu den Fallstricken der hohen Politik. Eine anregende Lektüre für Liebhaber historischer Romane und für Leser, die sich für deutsche Exilliteratur der Nazizeit und das gruppendynamische Entstehen von Volksbewegungen interessieren.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Hier noch eine hartgebundene Ausgabe, 2002 als Band 3 der 15-bändigen Regler-Werkausgabe im Stroemfeld-Verlag, Basel und Frankfurt am Main, erschienen. Englische oder französische Übersetzungen finde ich allerdings keine, im Gegensatz zu Texten Reglers über Mexiko und den Spanischen Bürgerkrieg, die auch übersetzt wurden.

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