Samuel R. Delany - Triton / Trouble on Triton

  • Zuerst erschienen 1976 als Triton, die zweite Auflage erschien dann als Trouble on Triton.


    Einige Hintergrundinformationen, die vor der Lektüre nicht unbedingt nötig, aber nett zu wissen sind:
    Delany schrieb das Buch, als gerade Ursula K. Le Guins The Dispossessed: Am Ambiguous Utopia erschien, deutsch „Der Planet der Habenichtse“ bzw. „Die Enteigneten“ in der 2006er Neuübersetzung von Joachim Körber (ein Buch, das ich jetzt wohl auch mal lesen sollte). Durch den Untertitel „An Ambiguous Heterotopia“ wollte er beide Bücher in Dialog zueinander stellen, da Triton praktisch als Gegenentwurf zu The Dispossessed gesehen werden kann. Den Begriff der Heterotopie entlehnt Delany dabei von Michel Foucault. Heterotopien sind demzufolge Orte, die zwar innerhalb einer Gesellschaft existieren, aber gleichzeitig außerhalb dieser Gesellschaft stehen und nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren – Altenheime, Bordelle, Schiffe und dergleichen. (Über den Wikipedia-Artikel kommt man zu Foucaults Originaltext.)


    Zur Handlung: Im Jahr 2112 hat die Menschheit Mars sowie die Monde aller Planeten unseres Sonnensystems besiedelt. Zum Zeitpunkt, in dem die Handlung einsetzt, sind die beiden Welten Erde und Mars im Krieg mit den Monden – mit allen außer Triton. Auf den Monden hat sich eine nicht nur sexuell freizügige Gesellschaft entwickelt, in der jeder seine individuellen Vorlieben komplett ausleben kann. Körperliches Geschlecht und sexuelle Orientierung lassen sich nach Wunsch anpassen. Dank eines überarbeiteten Wohlfahrts- und Einkommenssystems ist für alle gesorgt, Steuern sind illegal, politisches Interesse ist gar nicht mehr notwendig, die sogenannte Computer-Hegemonie kümmert sich um alles. Diese Gesellschaft erlebt der Leser durch die Augen von Bron Helstrom, Ex-Callboy, Emigrant vom Mars und der stereotypische straight white male. Er beginnt eine Beziehung mit der Theater-Regisseurin The Spike, während die Situation zwischen Triton und den beiden Welten eskaliert.


    Wer sich jetzt fragt, ob es so etwas wie den „typischen“ straight white male überhaupt gibt: Die Frage, inwiefern Menschen sich verschiedenen Typen zuordnen lassen, ist eines der wiederkehrenden Motive des Romans. Triton ist eine Gesellschaft, in der es keinen Mainstream und dementsprechend keine Außenseiter mehr gibt. Dennoch findet nicht jeder seinen Platz in einer derartigen Gesellschaft; hier ist es ein Typus wie Bron, der weiße, (weitgehend) heterosexuelle Cisgender-Mann, der unfähig ist, diesen Platz und damit sein Glück zu finden – also gerade der Typus, der in den 1970ern, aber auch noch heute in der westlichen Gesellschaft als Norm angesehen wird. (Delany selbst ist übrigens Afro-Amerikaner und homosexuell.)


    Bron ist aber nicht nur ein Vertreter einer sozio-kulturellen Norm in einer Gesellschaft, in der es keine solchen Normen mehr gibt – er ist auch ausgesprochen unsympathisch: selbstbezogen, bindungsunfähig, nicht in der Lage, seine eigenen Fehler zu erkennen, auf unangenehme Weise konservativ. Falls jemand schon mal irgendeine Romanze gelesen oder gesehen hat: Bron ist der gängige Vertreter des bindungsunfähigen A*lochs, dass in der Romanze durch die "richtige Person" in seinem Leben "gerettet" wird. Nun, Trouble on Triton ist keine Romanze und dekonstruiert diesen Typus.
    Dass der Leser die ganze Geschichte aus Brons Blickwinkel erlebt, nicht aus seinem Kopf herauskommt, während der Roman gleichzeitig von außen auf ihn und sein Verhalten blickt, bedingt den hohen Fremdschämfaktor. Bron ist keine Identifikationsfigur, auch wenn sich einige einzelne Gedanken und Verhaltensweisen vielleicht nachvollziehen lassen. Er ist nicht als Identifikationsfigur gedacht. Das erklärt Delany selbst in einem sehr lesenswerten Interview zu Trouble on Triton (Spoilergefahr!).
    Brons Perspektive hat Auswirkungen auf Sprache und Stil; Trouble on Triton ist weniger poetisch als andere Romane des Autors, muss es aber auch sein. Zu dieser Konsequenz kommt Delanys Fähigkeit, in sich absolut schlüssige Science-Fiction-Welten zu entwickeln. Mehr noch als Bron ist Triton, die Heterotopie zusammengesetzt aus vielen kleineren Heterotopien, Hauptdarsteller des Romans. Sekten und religiöse Kulte florieren, in einem staatlich eingerichteten „unlizenzierten Sektor“ gelten keine staatlichen Gesetze und deswegen sehr wirkungsvolle eigene, Ice-Operas sind das große Ding im Fernsehen (ja, das gibt es noch), in Egobooster-Boxen kann sich jeder drei Minuten staatlich aufgezeichnetes Material über sich selbst ansehen. Diese anscheinend utopische Gesellschaft hat natürlich auch eine extrem dystopische Seite, daran bleibt kein Zweifel.


    Das Buch verlangt dem Leser einiges ab: Man muss damit klarkommen, 326 Seiten lang mit einem unsympathischen, unzuverlässigem Erzähler zu verbringen; man braucht eine große Toleranz gegenüber Einschüben in Klammern und noch mehr Toleranz gegenüber der Tatsache, dass nicht alle Fragen beantwortet werden. Einige Dinge werden einfach nicht erklärt. Kann sich der Leser darauf einlassen, erwartet ihn oder sie eine intelligente, absurde und für mein Empfinden im Wortsinne aberwitzige Satire. Ich habe mich köstlich amüsiert.
    Noch dazu erscheint der Roman kaum gealtert: Die Geist der 1970er ist zwar zu spüren, etwa in den Co-Ops und Kommunen, in denen die Menschen zusammenleben. Und ob alles, was über Genetik gesagt wird, dem aktuellen Stand der Forschung entspricht, kann ich nicht sagen. Davon abgesehen aber ist die soziale Thematik geradezu erschreckend aktuell.


    Volle Punktzahl: :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Über den Autor:
    Samuel R. Delany, geboren 1942, gilt als eine der bedeutendsten schwarzen Stimmen der US-amerikanischen Science-Fiction und zählt neben Norman Spinrad, Harlan Ellison und Roger Zelazny zu den wichtigsten Vertretern der amerikanischen New Wave, einer literarisch ambitionierten, experimentellen Strömung der Science Fiction-Literatur – er selbst zählt sich allerdings nicht dazu. 1962 veröffentlichte Delany seinen ersten Roman, 1985 auf Deutsch als Die Juwelen von Aptor erschienen. Immer wieder beschäftigt sich Delany in seinen Romanen mit Sprache und ihren Auswirkungen auf unser Denken, mit Sexualität und sexueller Orientierung und mit sozialen Fragen, wenn auch meist verklausuliert. Von 1975 an lehrt Delany an Universitäten, von 1988 bis 2015 als Professor an der Temple University

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño