William Golding - Die Erben / The Inheritors

  • Der Autor (nach Klappentext und Wikipedia): Sir William Gerald Golding wurde 1911 in St. Columb Minor, Cornwall, geboren und begann widerwillig ein Studium der Naturwissenschaft, bis er seinen Studienschwerpunkt auf Englische Literatur verlagerte. 1934 trat er mit Gedichten an die Öffentlichkeit. Ab 1939 lehrte er in Salisbury Englisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er bei der Royal Navy diente, kehrte er in den Schuldienst zurück, von dem er sich 1962 zurückzog. Sein erster Roman "Der Herr der Fliegen/Lord of the Flies" erschien 1954 und erregte in England und Amerika großes Aufsehen, zeigte auch in Deutschland nachhaltige Wirkung und wurde 1963 von Peter Brook verfilmt.


    Von ihm sind ferner die Romane „Die Erben/The Inheritors“ (1955, dt. 1964), Der Felsen des zweiten Todes/Pincher Martin" (1956, dt. 1960), "Freier Fall/Free Fall" (1959, dt. 1963), "Der Turm der Kathedrale/The Spire" (1964, dt. 1966), "Oliver/The Pyramid" (1967, dt. 1972), „Das Feuer der Finsternis/Darkness Visible“ (1979, dt. 1980), „Äquatortaufe/Rites of Passage“ (1980, dt. 1983), "Papier-Männer/The Paper Men" (1984), „Die Eingepferchten/Close Quarters" (1987, dt. 1988), „--/Fire Down Below“ (1989), „Mit doppelter Zunge/The Double Tongue“ (1996, dt. 1998), drei Kurzromane unter dem Titel "Der Sonderbotschafter/The Scorpion God" (1971, dt. 1974), Lyrik, Reiseberichte sowie das Drama "Der Messing-Schmetterling/The Brass Butterfly" (1958) und Essays erschienen.


    1980 erhielt er den Booker-McConnell-Preis, den höchsten britischen Literaturpreis, für „Darkness Visible“ und 1983 den Literatur-Nobelpreis, wohl hauptsächlich für „Lord of the Flies“. 1988 wurde er von Queen Elizabeth II. zum Ritter geschlagen. Golding starb 1993 in Perranarworthal, Cornwall.


    Klappentext: William Golding bezeichnete den 1955 erschienen Roman „The Inheritors“ (deutsch 1964 „Die Erben“) als sein Hauptwerk. Alles an diesem Werk ist ungewöhnlich: die Zeit, der Ort und die Handlung.
    In vorgeschichtlicher Zeit treffen an der Grenze zwischen einer gebirgigen Waldlandschaft und einer wasserreichen Ebene, die sich zum Meer hin erstreckt, zwei Hominidenstämme aufeinander. Die Höhlenbewohner aus den Bergen gehören entwicklungsmäßig einer historisch überholten Vorzeit an, sind – wie das Motto des Buches von H.G. Wells aus „Outline of History“ nahelegt – Neandertaler, während die Erben dem neuen beweglichen Stamme des Homo sapiens zuzurechnen sind. Beide Gruppen kennen den Gebrauch des Feuers und von Werkzeugen, beide verfügen über Sprache und ein Bewusstsein ihrer selbst, beide kennen religiös-animistische Vorstellungen. Bei den Erben ist alles nur weiter entwickelt, geschmeidiger, die Fertigkeiten sind ausgebildeter, das Gruppenbewusstsein im einzelnen zum Selbstbewusstsein kondensiert. Das Aufeinandertreffen dieser in einer Zeit lebenden und doch ungleichzeitigen Menschen, das zu Kampf und Tod führt, mag den Autor gereizt haben, diese Parabel vom Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen zu gestalten, die trotz aller Auseinandersetzung ein „Humanum“ verbindet: die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln, zu Schmerz, Freude und Mitleid.


    Goldings zweiter, seiner Ehefrau Ann gewidmete Roman „The Inheritors“ erschien im Jahr 1955 beim Verlag Faber& Faber in London und wurde von Hermann Stiehl aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Als „Die Erben“ erschien er 1964 beim S. Fischer Verlag, in Berlin und Frankfurt am Main. Die Taschenbuchausgabe im Fischer-Verlag hat 235 Seiten.



    Ein wirklich außergewöhnlicher Roman, in dessen Schreibstil ich mich erst einlesen musste, der mich aber mit der Zeit sehr in seinen Bann geschlagen hat. Wann kommt man denn noch richtig ins Staunen beim Lesen? Welcher Roman lässt einen denn wirklich noch Dinge und Vorgänge erst nach und nach entdecken und begreifen?


    Golding erzählt seine Geschichte gewissermaßen durch die Augen der Neandertaler. Dieser Blickwinkel erfordert eine spezielle Art der Beschreibung der Welt. Golding hat sich zum Glück dagegen entschieden, die Neandertaler in einfacher, grunzender Vormenschen-Sprache miteinander reden zu lassen, sondern entwickelt einen ganz eigenen, lyrischen Tonfall. Die Neandertaler denken in Bildern und kommunizieren über Bilder miteinander, oft in einem intuitiven, fast telepathischen Sinne. Gesten unterstützen ihre Sprache, so dass manche Mitteilung fast getanzt wirkt. Worte, die uns bekannt sind, verwendet Golding in anderen, übertragenen Bedeutungen, die sich der Leser erst einmal erschließen muss. So kann „Bild“ alles von Erinnerung über eine Idee bis hin zu einer gegenwärtigen Ansicht bedeuten.


    Nachdem der Anführer der kleinen Neandertaler-Gruppe stirbt und ein weiteres Männchen spurlos verschwindet, wird Lok, der wohl Dümmlichste der Gruppe zum neuen Anführer bestimmt. (Die Frauen scheinen überhaupt cleverer zu sein als die Männer; und sowohl Stammeskultur, als auch spirituelle Weltsicht sind im Grunde matriarchalisch.) In der Nähe der eigenen Höhle beim Wasserfall scheinen sich auch andere Menschen aufzuhalten, freundlich-naiv „neue Gefährten“ genannt (im Original "New People"), die es irgendwie geschafft haben, auf die den Neandertalern unerreichbar scheinende Insel zu kommen. Eine Bedrohung liegt in der Luft. Die „neue Gefährten“ stecken wahrscheinlich auch hinter dem Verschwinden der Jüngsten des Stammes, eines jungen Mädchens und eines Säuglings. Die letzten verbliebenden Neandertaler, Lok und das Weibchen Fa, schaffen es, sich dem Lager der „neuen Gefährten“ zu nähern, um die Kinder zurückzuholen. Von einem Baumversteck aus beobachten sie das Treiben der weiter entwickelten, besser ausgerüsteten und besser mit Werkzeug umgehenden Hominiden. Abgestoßen, ängstlich und fasziniert schauen sie zu – und verstehen doch nicht: das „berauschte“ Benehmen nach dem Trunk eines bestimmten Getränks, der Zorn über das „überholte“ Essverhalten des entführten Neandertalermädchens, ein seltsamer, gewaltsamer Übergriff, sei es eine Vergewaltigung, sei es ein „Fremdgehen“ - zur Unkenntnis verdammt, dass sie gewissermaßen ihrer eigenen Vernichtung beiwohnen. Das Einläuten ihres eigenen Endes.


    Zuerst erschienen mir die Neandertaler so seltsam und fremd, so dass meine Sympathie als moderner Mensch gewissermaßen dem Auftauchen der „Erben“ entgegensah. Aber Pustekuchen! Die „modernen Menschen“, denen Golding hier wie auch in seinen anderen Romanen mit einiger Abscheu begegnet, sind zwar die im darwinistischen Sinne fitteren Überlebenskünstler, doch besser angepasst an die Umwelt und die Natur erscheinen klar die „Vorfahren“: Freundliche Hominiden, verspielt, sozial denkend, liebevoll im Einklang mit und Teil der Natur, zu nichts Bösem fähig. Auch Tiere werden nicht getötet. Sie schauen voll Staunen und Unschuld in die Welt. Die „Erben“ sind zwar einfallsreicher und mit größerer Vorstellungskraft und Erfindungsreichtum ausgestattet, von aufrechterem Gang, mit knochigen, also eher unbehaarten Gesichtern und in einer fremden Sprache schnatternd, sind aber auch misstrauisch, gefährlich und brutal. Wie es die besorgte Fa formuliert, haben „die neuen Gefährten Angst vor der Luft.“ Mit ihren Booten können sie selbst der Strömung des Flusses entgegen fahren, haben Waffen und können "ihre Haut" abnehmen. Sie sind gewissermaßen wider die Natur. Und auf all dieses ungute, gewalttätige Treiben können die Neandertaler mit nichts anderem als mit kindlichem Staunen reagieren. Gewissermaßen mit einem liebevollen Blick und mit einer stillen Begeisterung für das Tun „der neuen Gefährten“. Doch gerade diese Freundlichkeit, dieser fast animalische, naturergebene Blick, diese naiv-esoterische Weltsicht macht den technisch überlegenden „Erben“ Angst. Weswegen die alte Kultur ausgelöscht werden wird.


    Ein eindrücklicher, kraftvoller und provozierender Roman, in dem der große Misanthrop Golding dem modernen Menschen, der Evolution, dem Fortschrittsglauben und dem Vertrauen auf das Gute im Menschen mal wieder ordentlich heimleuchtet. Wer sich durch den sperrigen Anfang durchgelesen hat, kann sehr belohnt werden! :twisted:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das englische Original in einer Ausgabe von 2011 mit neuer Einführung von Golding-Biograf John Carey.

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  • Eine neue, aber seltene deutsche Ausgabe von 2005 im Erkrather Verlag "Fantasy Productions" erschienen - als Band 3 der Editionsreihe "Paläo-Fiction". :)

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  • William Golding reist in diesem Buch weit zurück in der Zeit und erzählt die Geschichte von einer Gruppe Neandertaler, die nach dem Winter wieder die Höhle verlassen und dabei auf eine andere Gruppe treffen. Die sind anders: sie sprechen eine andere Sprache, nutzen andere Werkzeuge und auch wenn beide Gruppen es versuchen: sie können zwar gemeinsam reden, aber nicht miteinander.


    Für mich war es eine schwierige Lektüre. Zum einen habe ich wahrscheinlich einmal zu oft den "Herr der Fliegen" gelesen und hatte beim Lesen der einen Geschichte deshalb immer das Setting der anderen Geschichte vor Augen. Zum anderen hat William Golding zu gut die Art der Neandertaler beschrieben. Sie hatten einen so kleinen Wortschatz, dass nicht nur die Kommunikation, sondern auch ihre Gedankenwelt sehr beschränkt war. Das hat die Protagonisten selbst frustriert, bei mir hat es dazu geführt, dass das Lesen manchmal quälend langsam voran ging.


    Mit den Mitgliedern der anderen Gruppe kam ich besser zurecht. Sie waren insgesamt ein wenig schneller unterwegs. Einfacher zu lesen, aber schwieriger für die unterschiedlichen Charaktere, miteinander umzugehen.


    Auf der einen Seite ist es schon eine Kunst, seine Leser so in die Welt der Neandertaler hineinzuversetzen. Auf der anderen Seite hat aber genau das bewirkt, dass ich keinen Zugang zur Geschichte gefunden habe.

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