Norman Spinrad - Kind des Glücks / Child of Fortune

  • Der Autor (nach Wikipedia): Norman Richard Spinrad, geboren am 15. September 1940 in New York City, ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor. Er gilt als ein Mitbegründer der New-Wave-Strömung der Science-Fiction in den 1960er-Jahren in den USA. In Deutschland machte ihn 1981 die Kontroverse um seinen satirischen Faschismus-Alternativweltroman "Der stählerne Traum" (1972) bekannt.


    Inhalt (Klappentext): Man nennt sie Kinder des Glücks, die Zigeuner der Sterne, die an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter auf Wanderfahrt gehen, um fremde Welten und dabei sich selber zu entdecken. Wendi Shasta Leonardo, aufgewachsen in behüteten Verhältnissen, ist ein Kind des Glücks, und vor ihr liegt eine Reise voller Aufregungen und Gefahren, Liebe und Schrecken, deren wahre Bedeutung sie erst am Ende erfahren wird. Ein fröhlicher, erotischer und bewegender Roman in einer Mischung aus Timothy Leary und dem Kamasutra, Alice im Wunderland und Finnegan's Wake – Norman Spinrads außergewöhnlichstes Buch. „Mit Kind des Glücks hat Norman Spinrad seine Stimme als Autor gefunden... Seine Sprache ist eine Sprache der Zukunft, die nicht nur glaubhaft, sondern eine Freude zu lesen ist.“ Patrick Cox, Reason


    Der Philip K. Dick gewidmete Roman erschien im Original 1985 als „Child of Fortune“. 1988 brachte der Bastei-Verlag als Paperback Band 28161 eine deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski unter dem Titel „Kind des Glücks“ heraus. Die Ausgabe hat 493 Seiten einschließlich eines kurzen Nachworts von Joachim Körber über den Autor Norman Spinrad und einige seiner Werke. Die vom Inhalt völlig unabhängige (wenn auch ansprechende) Titelillustration dieser Bastei-Paperback-Ausgabe stammt von Patrick Woodroffe. Seit dem 30. September 2015 gibt es die Langowski-Übersetzung auch als E-Book vom Heyne-Verlag, dessen Umfang 547 Print-Seiten entspricht.


    Der Roman ist nach „The Void Captain's Tale“ (1982, dt. „Dass mich das große Nichts umfange“) das zweite Buch Spinrads, das im Zweiten Raumfahrenden Zeitalter spielt. Beide Romane können unabhängig voneinander gelesen werden.



    "Kind des Glücks" ist eine wirklich außerordentliche Lektüre, die mich als Leser mit leichter Hand durch eine abenteuerliche Geschichte führt, deren Fortgang stets überraschende Wendungen nimmt. Ein intelligenter Bildungsroman zwischen den Sternen über das Erwachsenwerden eines Charakters – ein Coming of Age vom aufmüpfigen Mädchen (Moussa) zur naiven jungen Frau (Shasta) hin zur selbstbewussten Erwachsenen (Wendi), die weiß, wer sie ist, was sie kann und wo sie in Zukunft sein wird, sehr stimmig erzählt aus weiblicher Perspektive (was männliche Schriftsteller nicht immer so gut hinbekommen). Geschrieben in schöner Sprache, manchmal bewusst antiquiert wirkend, in einem eigenen, universalen Tonfall voller Lehnwörter aus anderen Sprachen (ich vermute, das englische Original ist da um einiges gewagter und im Idiom eigenständiger) und angereichert mit vielen Querverweisen und Bezügen, die einige literarische und kulturgeschichtliche Bildung Spinrads erkennen lassen – von Peter Pans verlorenen Kindern über mittelalterliche Heldenepen aus Europa, von Rattenfängern und Don Quijote bis hin zu Zen-Buddhismus, tantrischen Lehren und den Blumenkindern der Hippie-Kultur. Im Grunde eine Quest-Erzählung, doch mit ungewissem Ausgang – und bei weitem nicht so stereotyp herunterformuliert wie man es im Genre leider schon gewöhnt ist. Im Großen und Ganzen angetrieben durch den Charakter der Hauptfigur, weswegen man sich auch durch einige Kapitel durchkämpfen muss, die schwergängiger sind, nicht glattgebügelt und auf Spannung geeicht; die dann nur mit wenig Schauwerten bestückt sind, wenn der Charakter der Hauptfigur Shasta Leonardo abflacht und sie, kurz vor einem Entwicklungssprung, in einem „spirituellen Tief“ steckenzubleiben droht. Kapitel, die nichtsdestotrotz für die Entwicklung des Charakters immens wichtig sind. Schön, dass sowas nicht zugunsten einer leichteren, rein unterhaltsamen Narration geopfert wird!


    Bei dem Initiationsritus des Wanderjahres, das viele junge Menschen zwischen Jugend und Erwachsensein beginnen, geht es darum, seine Profession zu finden, sich von bestehenden Strukturen zu lösen, zu merken, was man kann und wer man ist, und sich – im Wortsinn – einen Namen zu machen, fügt man am Ende der Reise seinem Ruf- und Familiennamen – also unabhängig von der Benennung durch die Eltern – einen selbstgewählten, programmatischen Eigennamen hinzu. Dann, wenn man das Motto seines Lebens gefunden hat, dann, wenn man aus dem besonderen Zwischenreich des Wanderjahres sich neu in die Gesellschaft integriert. Bei der Reise geht es aber auch darum, aus eigener Kraft seinen Weg zu machen, für sein Leben geradezustehen und ein eigenes Einkommen zu finden – zumindest bei denen, deren Eltern nicht so reich sind, ihnen eine Blanko-Kreditkarte mitzugeben ...


    Shasta, die ihren Kosenamen Moussa bald ablegt, bevor sie irgendwann zur Wendi Shasta wird, geht den beschwerlichen Weg, der sie zunächst von Nouvelle Orlean auf dem Planeten Glade zum Planeten Edoku führt, eine glitzernde, mondäne Welt, in der sie schnell ihre Barschaft verprasst und sich den „Gypsy Jokern“ rund um den charismatischen Pater Pan anschließt, einer hippie-artigen Gemeinschaft von Gauklern, fliegenden Händlern, Sängern, Garköchen und Geschichtenerzählern, die in einem provisorischen Zeltlager lebt. Da Shastas Vater ihr eine seiner Erfindungen mitgab, einen Fingerring, der, wenn er an bestimmte Chakren, also Energiepunkte des Körpers, gedrückt wird, die Kundalini-Energien des Nervensystems – im Tantrismus die ätherische Lebenskraft des Menschen – verstärkt, also unter anderem auch aus dem Stand erotische Leidenschaft entfachen kann, versucht sich Shasta zunächst als tantrische Liebesdienerin, eine Profession, in der sie dank des Ringes auch eine große Meisterschaft erringt, die ihr sehr bald die Türen zu Pater Pans Privatgemächern öffnet. Der Guru, der von sich behauptet, schon Jahrhunderte lang zu leben, wird ihre große Liebe, eine verwandte Seele, die sie, gerade aus der gegenseitigen Verbundenheit heraus, weiter in die Welt ziehen lässt, und auch selbst seine „Gypsy Joker“ verlässt, da diese als wahre Kinder des Glücks im Grunde weder einen König, noch Aufsichtsräte haben sollten – und auch nicht danach streben sollten, selber Herrscher zu werden. Ein anführerloses, anarchistisches Utopia.


    Shasta, die entdeckt hat, dass sie Geschichtenerzählerin auf öffentlichen Plätzen werden möchte, setzt ihre Reise auf den Planeten Belshazaar fort, wo sie zunächst in der sehr spröden und geschäftsmäßigen Stadt Ciudad Pallas landet, in der mittellose Kinder des Glücks eigentlich nur als Psychonauten in wissenschaftlichen Laboratorien etwas Geld verdienen können, indem sie unbekannte Rauschgifte ausprobieren. Ciudad Pallas lebt davon, den Urwald des Planeten auszubeuten, das Bloomenveldt, dessen riesige, verführerisch duftenden Blumen eine nie versiegende Quelle für diverse Psychopharmaka darstellt. Wer ohne Atemschutzmaske in das Bloomenveldt geht, scheint binnen kurzem ohne Chance auf Rettung verloren, bedürfen die dortigen Pflanzen doch Säugetiere als Bestäuber, und jeder Mensch, der sich im Urwald verirrt, wird irgendwann zum willen- und geistlosen, süchtigen Erfüllungsgehilfen, dessen Leben völlig von Duftstoffen gelenkt wird; eine den menschlichen Geist verzehrende Blumen-Mensch-Symbiose. Irgendwo tief im Dschungel sollen Stämme von Bloomenkindern leben, von denen einige glauben, sie hätten, wenn es sie überhaupt gibt, den höchsten Grad vollständiger Heiterkeit, quasi die tiefste Bodhi-Erkenntnis des Lebens erlangt. Was Shasta im Urwald findet und wie es ihr gelingt, nur mit der Kraft des Wortes als einziges Wesen diesem schrecklichen Paradies zu entkommen, warum sie ihren Begleiter im Blumenreich zurücklassen muss, dafür andere Seelen retten kann, werde ich nicht verraten. Verraten kann ich aber, dass der Abschnitt im Bloomenveldt einige wirklich originelle und haarsträubende Szenen bereit hält. Außerdem, dass sich das folgende letzte Viertel des Romans, in dem Shasta langsam wieder in die Gesellschaft integriert wird und dabei einige Bekanntheit erringt, ein denkbar sinnvolles und befriedigendes Ende des Romans einläutet.


    Ein anregender, Staunen machender und sehr lebensjahender Roman über die Kraft der Erzählungen und das Herz der Menschlichkeit, über Zen-Buddhismus und selbstbestimmte, genussreiche Sexualität, Aussteiger und Freigeister, über Leben für die Gemeinschaft und Leben für das eigene Selbst, mit sehr eigenständigen Figuren, der an faszinierenden Orten spielt und einiges Interessante über Gesellschaften und Gegenkulturen, Halbwelten, Massen- und Nischenkultur, über Anarchie und Selbsterkenntnis, Verweigerung, Charisma, Schuld, Abhängigkeiten und mitreißende Leidenschaft zu berichten hat. Ein Hippie-Bildungsroman im Weltall über den Sinn des Lebens, der mich Kapitel auf Kapitel immer mehr in seinen Bann geschlagen hat, leichtfüßig und gedankenschwer, lebensnah und optimistisch, dabei voller Bewunderung für den erzählerischen Wagemut, die durchgestaltete Welt-Sprache und seine visionäre Kraft, bis ich ihn am Ende sehr begeistert zugeklappt habe. Das hätte ich nicht gedacht! :flower:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Die englischsprachige Erstausgabe bei Spectra vom Juli 1985.

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    Everett "God's Country" (126/223)


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  • Wunderbar dass du diese wirklich ausserordentlich faszinierende Rezension geschrieben hast. Niemals hätte ich es geschafft bei diesem üppigen Roman die richtigen Worte zu finden, danke :flower:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • @serjena: Ich danke Dir! Da ich ohne Dich den Roman wohl nicht so bald zur Hand genommen hätte! :winken: Bin aber vom Schreiben der Rezension einigermaßen erschöpft. Fand das Schreiben tatsächlich schwierig - und hat lange gedauert! Soviel an Inhalt, Anspielungen und interessanten Gedanken, das ich weggelassen habe. :drunken:

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