Anke Stelling - Bodentiefe Fenster

  • Was für eine traurige Lektüre! Fast 250 Seiten Gedanken, Berichte, Selbstgespräche einer der scheinbar typischen Prenzlauer-Berg-Mütter - doch hier liest man nichts von fröhlichen Latte-Macchiato-Gesprächen unter ihresgleichen oder der erfolgreichen Selbstverwirklichung im kreativen Bereich. Ganz im Gegenteil. Sandra, die Hauptfigur dieses Romans, scheint zwar nach außen voll und ganz dem Klischee zu entsprechen, doch tatsächlich zermürbt sie sich selbst mit ihren ständigen Zweifeln und Selbstvorwürfen. Was ist aus den Idealen geworden, die man ihr daheim und im Kinderladen so eingetrichtert hat, dass sie mittlerweile davon überzeugt ist, dass es ihre eigenen sind? Die absolute Liebe zu den Kindern; dass Gemeinschaft das Wichtigste ist; dass Alle gleich sind und man Alle zu lieben hat und selbst geliebt wird. Doch ihre Frustration über sich, ihr vergebliches Mühen sowie die Anderen, die ganz und gar nicht so leben wie es sein sollte, wird immer stärker und lässt ihre Schuldgefühle und Ängste noch größer werden.
    Noch nie habe ich ein so eindringliches (wenn auch indirektes) Plädoyer für einen gesunden Egoismus gelesen wie in diesem Buch. Auf jeder Seite hätte ich Sandra am liebsten geschüttelt (ebenso wie die meisten der zahlreichen Frauen, die in diesem Buch auftauchen) und entgegengehalten: 'Was interessiert Dich, was Deine Nachbarn denken? Sag was Du denkst oder fühlst. Du musst es auch aushalten können, wenn Dich jemand nicht mag.' Und so weiter. Ist dies wirklich das Erbe der 68er Generation, wie es der Umschlagtext behauptet? Wurden die Kinder, insbesondere die Mädchen, zu solch wenig sich selbst bewussten Menschen und stattdessen zu Erfüllungsgehilfen der Utopien ihrer Mütter herangezogen? Ich will und kann das nicht glauben, auch wenn diese Geschichte mir den Eindruck vermittelt. Wenn wenigstens ein Fünkchen Hoffnung am Horizont aufleuchten würde, doch das scheint Sandra offenbar nicht vergönnt. Sogar als ihre ständige Selbstzermürbung zum vollständigen Zusammenbruch führt, scheint auch hier keine Lösung in Sicht.
    Mut macht dieses Buch nicht, auf mich wirkt es mehr wie eine Bestandsaufnahme eines Menschen, der stets um sich und seine Ideale kreist, die nicht zu erreichen sind und daran krankt, schwer krankt - ohne große Hoffnung auf Besserung. Doch dafür hätte es keine 250 Seiten gebraucht, denn letzten Endes ist das Thema immer das gleiche.
    Alles in allem eine gelungene Innenansicht einer überforderten Mutter und Ehefrau aus der Prenzlauer-Berg-Bewohnerschaft, die jedoch meiner Meinung nach um einiges kürzer hätte ausfallen dürfen.


    Auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Danke für die Rezi!
    Ich hätte als Nicht-Deutsche noch eine ergänzende Frage:
    Was versteht man eigentlich unter einer Prenzlauer-Berg-Mutter? Was wäre an denen so typisch?

    :study: Audre Lorde: Sister Outsider (eBook)

    :study: Joseph Roth: Hiob (eBook) - MLR

    :study: Thomas Chatterton Williams: Selbstportrait in Schwarz und Weiss - Unlearning Race



    „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der Schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.“

    Erich Kästner

    "Das fliegende Klassenzimmer"


    Warnhinweis:
    Lesen gefährdet die Dummheit

    :study:

  • Was versteht man eigentlich unter einer Prenzlauer-Berg-Mutter? Was wäre an denen so typisch?

    1. Zwingende Voraussetzung natürlich: Sie müssen im Prenzlauer Berg wohnen und Mutter sein :wink:
    2. Sie gehören meist der mittleren bis oberen Mittelschicht an und zelebrieren dies auch.
    3. Desweiteren sind sie dem Bildungsbürgertum zuzurechnen.
    4. Ihre Aufgabe als Mutter ist das Wichtigste überhaupt - und das muss selbstverständlich auch die Umwelt so sehen.
    5. Daneben sind sie häufig in irgendeiner Form im kreativen Bereich tätig.
    6. Alle Anderen haben keine Ahnung :wink:


    Ich hoffe, ich habe nichts vergessen :wink: und Du kannst Dir nun zumindest so halbwegs ein Bild machen.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Danke für die umfassende Antwort :thumleft: und ich kann mir diese Damen bildlich vorstellen.
    Bei uns gibt es diese Sorte Mütter auch, allerdings nicht konzentriert auf einen einzelnen Bezirk. Es gibt zwar einige Bezirke (die eher teureren) wo sie häufiger auftreten als anderswo, aber eben wie gesagt nicht nur in einem zu finden.
    Wenn ich dich recht verstehe, haben sie nicht die Gelassenheit der Oberschicht, sondern befinden sich genau an diesem Übergang und sind bestrebt, eher nach oben zugerechnet zu werden und ist die Hauptakteurin damit überfordert?


    Auch wenn es kein "positives" Buch ist, und ich wahrscheinlich auf den richtigen Moment warten muss, um es zu lesen, so habe ich es doch auf meine WuLi gesetzt.

    :study: Audre Lorde: Sister Outsider (eBook)

    :study: Joseph Roth: Hiob (eBook) - MLR

    :study: Thomas Chatterton Williams: Selbstportrait in Schwarz und Weiss - Unlearning Race



    „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der Schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.“

    Erich Kästner

    "Das fliegende Klassenzimmer"


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    :study: