Stephen King - Carrie

  • Immer mal wieder stellt sich mir die Frage, was einen guten Schriftsteller ausmacht. Die Antwort schwankt dann oft zwischen theoretischen Kriterien und hochtrabend intellektuellen Erklärungen, ohne jedoch plausibel genug zu sein, dass ich nickend zustimmen könnte. Zur praktischen Auflösung der Frage kommt es immer dann, wenn ich ein Buch in Händen halte, das sich einfach nicht mehr von meinen Fingern lösen will und das doch innerhalb von wenigen Stunden zu einem viel zu frühen Ende kommt. So erging es mir, wie schon so oft bei Romanen von Stephen King, bei dem Horror-Klassiker „Carrie“ („Horror“ im weitesten Sinne des Wortes). Hätte mich die Vernunft nicht ermahnt, wäre die Nacht, als ich mit dem Lesen begann, für mich schlaflos geblieben.


    Da ich der festen Überzeugung bin, dass der Autor Stephen King keiner weiteren Vorstellung bedarf, widme ich mich gleich dem Inhalt – wobei auch der aufgrund von Hollywood- und Fernseh-Verfilmungen vermutlich bekannt sein dürfte.

    Das Übersinnliche von Nebenan

    Carrie White lebt mit ihrer Mutter Margaret in einem kleinen Häuschen in Chamberlain/Main. Margaret Whites religiöser Fanatismus hat dafür gesorgt, dass Carrie sich zum klassischen Mauerblümchen entwickelte. In der Schule wird sie gehänselt und die üblichen Wünsche und Sorgen eines Teens an der Schwelle zur Erwachsenen sind ihr fremd. Denn ihre Mutter hält alles, was normale Mädchen in ihrem Alter tun, für gotteslästerlich. Nachdem Carrie beim Sportunterricht von ihren Mitschülerinnen unter der Dusche mal wieder besonders erniedrigt wurde, fühlt sich der Schülerin Sue Snell, die bei der Hänselei kräftig mitgemischt hat, schuldig und überredet ihren Freund Tommy, mit Carrie zum Schulabschlussball zu gehen. Als Tommy und Carrie dann auch noch zu Ballkönig und -königin gewählt werden, kommt es zur Katastrophe.

    Fesselnd mit ausuferndem Showdown

    Vor der Beurteilung des Buches muss ich vorweg schicken, dass ich ein großer Fan der Carrie-Verfilmung mit Sissy Spacek aus dem Jahr 1976 bin. Und auch das Remake von 2013 kann man sich durchaus anschauen. Beide Filme setzen den Roman recht gut um, wenn man mal von den dramaturgischen Veränderungen absieht. Da ich aber die Filme gesehen habe, bevor ich das Buch las, war ich sicher, mit einer gewissen visuellen Vorbelastung an die Geschichte herangehen zu müssen. Und hier kommt die Kunst eines Stephen King zum tragen: Ja, einzelne Szenen hatte ich dank Hollywood tatsächlich in gewisser Weise vor Augen. Doch King hat es über weite Strecken geschafft, dass ich mich völlig von der Carrie lösen konnte, wie sie von Sissy Spacek oder Chloë Grace Moretz verkörpert wurde. Der Unschuld der Carrie White, dem Bösen im hassgetriebenen Fanatismus ihrer Mutter und auch dem Verschlagenen in den Mitschülerinnen verleiht King eine fesselnde Eigenständigkeit. Sie lässt das Bombastische und Schockierende der Hollywood-Adaptionen während des Lesens völlig vergessen. Das liegt sicherlich auch an dem literarischen Kniff, in die Geschichte Auszüge aus Untersuchungsberichten, Interviews und Verhören zu den Vorfällen in Chamberlain einzubauen, die das Danach beleuchten.


    Doch vor allem ist es dem packenden Schreibstil von King zu verdanken. Der treibt die Story gnadenlos voran und lässt sie schließlich in einem Showdown enden, das mehr als ein Drittel des gesamten Buches einnimmt.


    Fazit

    Mit übermäßig intellektuellem Hang zur Analyse könnte man in dem Roman die Warnung entdecken, man müsse mit dem Bösen immer und überall rechnen. Doch ich selbst halte von solchen Interpretationen ziemlich wenig und auch Stephen King schätze ich so ein, dass er in erster Linie eine spannende Geschichte erzählen wollte. Das ist ihm unzweifelhaft gelungen. Wie eingangs erwähnt, musste ich mich jeden Abend zwingen, den Roman beiseite zu legen, um noch einige Stunden Schlaf zu finden. Mag sein, dass ich dem Stil von Stephen King schlicht verfallen bin, doch wenn es einem Autor gelingt, dies bei seiner Leserschaft zu erreichen, dann kann man ihn getrost als guten Schriftsteller bezeichnen. Zu empfehlen ist der Roman all jenen, die actiongeladene Geschichten mit eine gehörigen Prise blutigem Horror mögen. Feingeister und überzeugte Realisten sollten hingegen die Finger davon lassen.