Aksel Sandemose - Der Werwolf / Varulven

  • Der Autor (Wikipedia): Aksel Sandemose, am 19. März 1899 in Nykøbing Mors mit dem Geburtsnamen Axel Nielsen und als Sohn eines Schmiedes auf die Welt gekommen, war ein dänisch-norwegischer Schriftsteller. 1921 nahm er den Namen Aksel Sandemose an. Nach Vollendung seiner Schulpflicht fuhr er lange Jahre zur See. Später arbeitete er als Lehrer und Journalist. Ab 1929 lebte Sandemose in Norwegen und schrieb ab spätestens 1931 in norwegischer Sprache (Riksmål). Er gilt als Begründer des modernen skandinavischen Romans. Sein Frühwerk wurde stark von Joseph Conrad und Jack London beeinflusst. In den Kriegsjahren 1941 bis 1945 lebte Sandemose im schwedischen Exil. Er starb am 6. August 1965 in Kopenhagen.


    Ins Deutsche übertragende Werke sind: Klabautermanden (1927, dt. Der Klabautermann, 1928), September (1939, dt. September, 1939), En flyktning krysser sitt spor (1933, dt. Ein Flüchtling kreuzt seine Spur, 1973) und Varulven (1958, dt. Der Werwolf, 1982, übersetzt aus dem Norwegischen von Udo Birkholz)


    Inhalt (Klappentext): Die willensstarke und leidenschaftliche Felicia Ormsund, der grüblerische, aber zu eruptiven Handlungen neigende Schriftsteller Erling Vik und der nüchterne, auf die Erhaltung seines Stammsitzes bedachte Jan Venhaug werden im Norwegen der vierziger und fünfziger Jahre zum Widerstand gegen das Werwölfische herausgefordert. Als das die Menschen seit Urzeiten beschäftigende mythische und mystische Sinnbild des Bösen durch Krieg und Faschismus Gestalt annimmt, wissen die drei sich seiner zu erwehren. Als es sich aber nach 1945 im Untergrund von Heuchelei, Lüge und Intrige verbirgt, glauben sie zu früh, ihm für immer entronnen zu sein. Sie ziehen sich auf das Gut Venhaug zurück und leben dort in einer von Traumdeutungen, Gefühlsausbrüchen und Daseinsbetrachtungen beherrschten Gemeinsamkeit nach ihren eigene Grundsätzen. Felicia hat Jan Venhaug geheiratet, aber unter der Bedingung, dass er ihr Verhältnis mit Erling Vik toleriert. Das Experiment scheint zu gelingen, und die drei meinen, auf ihre Weise den alles Menschliche deformierenden Normen ihrer bürgerlichen Umwelt entgegenzuwirken – doch das Werwölfische schleicht sich bei ihnen ein und schlägt unvermutet zu. Ein Mord, ausgelöst durch Neid, Hass und politischen Revanchismus, zerstört ihr Utopia, hinter dessen Palisaden sie sich vor der von ihnen verachteten Gesellschaft sicher wähnten. Aber das Verbrechen stürzt sie nicht nur in Verzweiflung, es führt auch zur Besinnung. In einer veränderten Konstellation harmonischer, menschlicher Beziehungen finden „die auf Venhaug“ die Kraft, sich von ihren Illusionen zu lösen.


    Dieses Buch ist ein Wunder. Es ist mir schleierhaft, wie ein scheinbar so konfus erzählter, ausufernder Roman voller Zeitsprünge und eingeschobener Geschichten eine solche erzählerische Geschlossenheit und Wucht erringen kann. Im Grunde ist mir das Ordnungsprinzip des Romans nicht klar. Warum die Narration trotzdem funktioniert? Es ist wohl ein wenig wie bei einem großen Gemälde, bei dem es auch verschiedene Ansätze des Beschreibens gibt, wo man anfängt, und verschiedene Wege, sich durch das Bild hindurch zu beschreiben. Unübersichtlich vielleicht wie ein Blick in die urwüchsige Natur, die ja oft das reinste Chaos zu sein scheint, da man die vielfältigen Bezüge und Zusammenhänge einfach nicht kennen kann (vor allem, wenn man nahe herangeht und immer mehr Mikrowelten zu erkennen sind).


    Im „Werwolf“ geht es um die Natur des Menschen. Und um diese in den Blick zu nehmen, ist eine chronologische Erzählung gar nicht notwendig. Es geht nicht darum, das Verhalten der Menschen der Gegenwart dadurch zu erklären, dass gezeigt wird, wie sie sich vor zehn Jahren verhalten haben. Das Leben ist keine stetige Stufenleiter, bei der sich der nächste Schritt aus dem vorigen ergibt. Stattdessen werden in allen geschilderten Zeiten Auswüchse der menschlichen Natur vorgestellt. Wie sich die Leute anhand ihrer eigenen oder der allgemeinen Moral verhalten. Alle auftauchenden Nebenfiguren illustrieren das Verhalten und die Moralvorstellungen bestimmter Typen vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der 1930er- bis 1950er-Jahre in Norwegen. Es geht wohl gemerkt auch nicht um eine stimmige Fortführung alter Werwolf-Mythen, dazu bleibt das Symbolhafte zu nebulös.


    In Erinnerungen, Rückblicken, Betrachtungen und Gesprächen werden die Lebensgeschichten der drei Hauptfiguren Erling Vik, Jan Venhaug und Felicia Ormsund. Diese starken Figuren, die an archetypischen Gestalten der altnordischen Saga-Literatur angelegt sind – die willensstarke, rächende Frau, der aus seiner Familie verstoßende, amoralische Frevler und der treusorgende, vom Eigentum korrumpierbare Gutsbesitzer -, schaffen es, den gesamten Roman und die geschilderte Zeitspanne 1934 bis 1958 zusammenzuhalten. In dem Roman wird gezeigt, wie leicht - vor allem in Kriegszeiten - die haarfeine Trennwand zwischen einem guten, zivilisierten und sozial Handelnden und einem bösen, selbstsüchtigen, hasserfüllten Menschen, symbolisiert im Werwolf, überwunden wird. Was „befähigt“ Menschen zu Machtgier, Niedertracht, Rachsucht oder Faschismus? Wie fördern die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse das Bösartige, das Werwölfische im Menschen? Welche bürgerlichen Tugenden sind vielleicht die Keimzelle für den Hass auf andere und die Überschätzung der eigenen, kleinen Welt? Neben dem Versuch, diese Fragen zu beantworten oder zu illustrieren, wird auch gezeigt, was das Individuum tun kann, um mit kämpferischer Energie gegen alle erdrückenden Normen, falschen Ansichten, fragwürdigen Tugenden und asozialen Menschen eine widerständige Position einzunehmen.


    Erling, Jan und Felicia waren im norwegischen Widerstand gegen die nazi-deutschen Besatzer und die norwegischen Faschisten und Mitläufer aktiv, wurden zu Flüchtlingen und politischen Mördern. Inzwischen leben die drei Freunde ihr Leben und ihre Liebe zu dritt, teilweise vereint auf Jans altem Grundbesitz Venhaug. In diesem inneren wie äußeren Zufluchtsort leben sie auf der Grundlage ihres Freiheitswillen ihr individuelles Lebensmodell wie eine freiheitlich-idyllische Utopie gegen die antilibertäre Bürgergesellschaft, so wie sie einst die antihumane Nazi-Gesellschaft bekämpften. Der größte Teil des Romans schildert ihr gegenwärtiges Nachkriegsleben und wie sie versuchen, jede Schuld und jeden Schrecken von einst zu verarbeiten und zu verstehen. Sie erinnern sich an ihre Geschwister, erste Liebschaften und Widersacher aus der Nazizeit. Der Schluss des Romans zeigt sowohl die Grenzen ihrer Lebensutopie, als auch die Schattenseiten der Figuren auf – und setzt einen tragischen Schlusspunkt unter diesen bewegenden, faszinierenden Roman über Kollaboration und Widerstand, norwegische Geschichte und individuelles Glück, über Unbeugsamkeit, moralische Normen, Illusionen und Utopien. Das Werwölfische ist nicht geschlagen, Hass, Neid und Missgunst leben fort. Was zu erwarten war ...


    Tatsächlich war ich fast versucht, das eben zugeklappte Buch nach seinen 550 Seiten einfach gleich wieder von vorne zu beginnen. Ein Buch, das einen durch sein Leben begleiten könnte. Ein episches Werk, gesellschaftskritisch und warmherzig, die Wahrheit liebend und mit böser Zunge erzählt, entlarvend, scharf beobachtend und mit einer umwerfenden Frauengestalt an der Spitze, die ihresgleichen sucht: Willensstark, unbeugsam und leidenschaftlich. Ganz große Literatur, die ins Herz zielt und den Verstand fordert, im Grunde leicht zu lesen, doch nicht unbedingt leicht zu verstehen.






    Und weils so schön ist, hier noch eine Zusatzinformation: :)


    Auf Sandemose geht übrigens das Gesetz von Jante (Janteloven) zurück, ein Verhaltenskodex sozialer Spielregeln, das er in seinem in Skandinavien sehr bekannten Roman „Ein Flüchtling kreuzt seine Spur“ entwickelt hat. Darin beschreibt Sandemose das kleingeistige Milieu einer dänischen Kleinstadt namens Jante und den Anpassungsdruck, welchen die Familie und das soziale Umfeld ausüben. Sehen manche im Jantegesetz eine Möglichkeit zur Eindämmung egoistischen Erfolgsstrebens, halten es andere für einen Dämpfer jeglicher Individualität. Für Sandemose war sein sarkastisches Gesetz Ausdruck davon, dass Menschen, die unterdrückt werden, irgendwann selbst die Unterdrückung in die Hand nehmen. Wie auch immer: Das Jantelov ist Teil des skandinavischen Selbstverständnisses geworden. Das sind die zehn Gebote des Jantegesetzes:


    1. Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist.
    2. Du sollst nicht glauben, dass du uns ebenbürtig bist.
    3. Du sollst nicht glauben, dass du klüger bist als wir.
    4. Du sollst dir nicht einbilden, dass du besser bist als wir.
    5. Du sollst nicht glauben, dass du mehr weißt als wir.
    6. Du sollst nicht glauben, dass du mehr wert bist als wir.
    7. Du sollst nicht glauben, dass du zu etwas taugst.
    8. Du sollst nicht über uns lachen.
    9. Du sollst nicht glauben, dass sich irgendjemand um dich kümmert.
    10. Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.


    Also mir läuft es kalt den Buckel runter ...

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  • Eine norwegische Ausgabe von 1970 unter dem Originaltitel "Varulven".

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  • Eine englische Übersetzung, veröffentlicht bei der "University of Wisconsin Press", die allerdings sehr schlecht sein soll.

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