Margaret Atwood - Das Herz kommt zuletzt / The Heart Goes last

  • Klappentext:


    Stan und Charmaine sind ein verheiratetes Paar, das versucht, mitten in einem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch über Wasser zu bleiben. In einem Auto lebend und durch die Trinkgelder, die Charmaine in einer Bar verdient finanziell in Bewegung gehalten, werden sie zunehmend angreifbar für herumstreifende Banden und sind in einem eher verzweifelten Zustand. Als sie also eine Werbung für das Positron Projekt sehen, das in der Stadt Consilience durchgeführt wird - ein soziales Experiment, das feste Anstellungen und ein eigenes Heim anbietet - beteiligen sie sich sofort. Alles, was sie tun müssen für ihr vorstädtisches Paradies ist, ihre Freiheit jeden zweiten Monat aufzugeben und ihr Haus gegen eine Gefängniszelle eintauschen.


    Zunächst geht alles gut. Aber langsam, unbemerkt von den anderen, entwickeln Stan und Charmaine eine Besessenheit für ihre Gegenstücke, das Paar, das ihr Haus bewohnt, während sie selbst im Gefängnis sind. Bald nehmen der Konformitätsdruck, Misstrauen, Schuldgefühle und sexuelle Anziehung überhand und Positron sieht weniger wie ein erfüllter Traum, als wie eine erfüllte fürchterliche Prophezeiung aus.


    Ein düsterer, bösartig witziger Roman über eine nahe Zukunft, in der die Gesetzestreuen eingesperrt sind, während die Gesetzlosen herumstreifen. "The Heart Goes last" ist Margaret Atwood in herzinfarktinduzierender Bestform.


    Eigene Beurteilung/Eigenzitat aus amazon.de:


    Bösartig? Ja, auch das. Schon in Margaret Atwoods "A Handmaid's Tale" wird die Opposition von "Freiheit zu..." und "Freiheit von..." sehr klar aufgezeigt. Stan und Charmaine sind in einer wirlich fürchterlichen Situation zu Beginn des Buchs, in einem kleinen Honda lebend und ständig bedroht von den Menschen, die noch nicht einmal einen Honda haben - dafür aber Killerinstinkt, Hieb-, Stich- und Schußwaffen und absolut nichts mehr zu verlieren. Da erscheint das Positron Projekt wie die absolut Rettung. Freiheit von Bedrohung, Arbeitslosigkeit, Angst und Unsicherheit. Dafür eben ein schönes Haus, das man im Timesharingverfahren mit einem anderen Paar bewohnt. Ein Monat ein mehr oder minder normales Leben mit einem normalen Beruf - ein Monat im Gefängnis mit den dort anfallenden Arbeiten - aber nicht wirklich dem Gefühl einer Bedrohung. Selbst das eigentlich verbotene Interesse an den Timesharingpartnern erscheint zunächst wie ein nettes kleines Abenteuer. Obwohl ganz speziell Charmaine, die im Gefängnis einen sehr besonderen Job hat, es besser einschätzen könne müsste. Aber Charmaine hat auch eine Neigung, Dinge überaus positiv zu sehen.


    Dann werden die beiden plötzlich in eine Art Widerstandsbewegung gegen das Positron Projekt hineingezogen, wodurch sie eine Menge überaus verstörender Dinge über ihr schöne neue Welt" erfahren, die sich nicht von ungefähr ganz von der Außenwelt abgekoppelt hat.


    Im GUARDIAN hat sich Margaret Atwood ausgiebig zum Thema Freiheit geäußert und die Frage, wie wir Freiheit verstehen und auch, wieviel Freiheit wir überhaupt aushalten können oder wollen, steht ganz im Mittelpunkt dieses Buchs. Aber auch davon abspaltenden Themen, wie Unfreiheit der Entscheidung, wenn man liebt, sexuelle Ausbeutung und Prostitution, Robotik und moderne AIs, Todesstrafe, Transplantationsmedizin und vieles anderes kommt n diesem vergleichsweise kurzen dystopischen Roman zur Sprache - der gleichzeitig auch ein überaus bewegender Liebesroman ist. Und dafür benötigt eine Schriftstellerin wie Margaret Atwood noch nicht einmal eine Trilogie ;) Ein weiteres Meisterwerk aus der Hand einer Meisterschriftstellerin, die uns hoffentlich noch lange erhalten bleibt. :study::thumleft::thumleft:

  • Klappentext:
    Wer wohnt schon gern in seinem Auto? Zumal, wenn marodierende Banden die Stadt beherrschen? Stan und Charmaine, ein nettes, normales Paar, durch die Wirtschaftskrise in Not geraten, werden immer verzweifelter. Eine Anzeige verspricht Rettung: das Positron Project, ein »soziales Experiment«, verspricht ein Leben in Sicherheit und geregelten Verhältnissen. Hastig unterschreiben sie, obwohl die Bedingungen eigenwillig sind - alle Bewohner der streng abgeschiedenen Stadt Consilience wechseln im Monatsturnus zwischen dem Status eines Gefangenen und dem eines Freien. Zunächst läuft alles bestens - auch wenn Charmaine und Stan, ohne dass der jeweils andere davon weiß, eine sexuelle Obsession für ihre Hauspartner entwickeln - also jene Leute, die ihr schmuckes Heim bewohnen, wenn sie selbst ihren Gefängnismonat absolvieren. Doch dann finden sich Charmaine und Stan durch einen »Buchungsfehler« in verschiedenen Zyklen wieder, und bald ist viel mehr gefährdet als nur ihre Ehe. (von der Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Pen-Pinter-Preis. Margaret Atwood lebt in Toronto. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: The Heart goes last
    Erstmals erschienen 2015 bei Bloomsbury Publishing Plc, London / New York
    Aus dem Englischen übersetzt von Monika Baark
    Wechselweise aus der personalen Perspektive von Stan und Charmaine erzählt
    15 Teile mit jeweils mehreren Einzelkapiteln
    390 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Margaret Atwood ist eine äußerst vielseitige Autorin und in mehreren Genres zuhause, zu denen auch die dystopische Romane gehört wie der bereits 1985 geschriebene „Der Report der Magd“ oder die ab 2003 erschienene „Oryx und Crake“-Trilogie. Hier reiht sich dieses Buch ein.


    Hintergrund für die verzweifelte Lage der Protagonisten ist eine Finanzkrise wie die von 2007, als die Immobilienblase platzte. Ebenso wie viele andere verlieren Stan und Charmaine ihre gut bezahlte und sichere Arbeit und dann ihr Haus. Das, was von ihrer Habe übrig bleibt, passt in ein Auto, in dem sie fortan leben und schlafen. Sie ernähren sich von dem Wenigen, das Charmaine in einer heruntergekommenen Spelunke verdient. Außerdem setzen sie sich der Gefahr durch umherirrende Banden aus und müssen mehrmals in der Nacht den Stellplatz wechseln.


    Atwood erzeugt mit diesem Szenarium ein Gefühl ständiger Bedrohung. Nichts scheint mehr sicher, es gibt keine Kontrollen mehr, jeder ist Freiwild, und keiner ist für irgendetwas verantwortlich. Irgendwohin haben sich die Gewinner des Zusammenbruchs zurückgezogen, wo ein geregeltes Leben und Friede möglich sind, vorausgesetzt, man besitzt das nötige Geld.


    Dass Stan und Charmaine für ein Versprechen auf ein besseres Leben alle Skepsis und jeden Zweifel beiseite wischen, versteht der Leser gut. Auch wenn er ahnt, dass bei dem sogenannten Consilience-Projekt etwas faul ist, und nicht ganz nachvollziehen kann, warum die Mitglieder je einen Monat ein sorgenfreies Leben in einem eigenen Haus mit guten Arbeitsstellen und den nächsten Monat im Gefängnis verbringen müssen, geht er mit der Entscheidung der beiden konform: Schlimmer als auf der Straße kann es nirgendwo sein. Die Autorin bindet den Leser eng an ihre Protagonisten; es erleichtert, die beiden in Sicherheit zu wissen.


    Die ersten Risse bekommt diese Bindung, wenn er von Charmaines Arbeit erfährt: Nein, hier läuft irgendetwas gehörig schief. Was hier geschieht, widerspricht der Menschlichkeit. Dann aber passiert etwas Unerwartetes, und das Paar gerät ins Visier einer höheren Institution.


    Bis dahin hat man einen spannenden Roman gelesen, in dessen Handlung sich Fragen nach Freiheit und Sicherheit, Bedürfnis und Gehorsam verbergen.
    Nach der Hälfte des Buches wird die Handlung chaotischer, es geht an zwei Fronten, Stans und Charmaines, hektisch zu, die Abläufe überstürzen sich. Gleichzeitig geht die Sympathie des Lesers verloren. Charmaine erweist sich als naives Dummchen, Mitleid für sie ist unangebracht. Stan mutiert zum Held-wider-Willen. Beide scheinen im Mittelpunkt einer Revolte zu stehen, die sie im Grunde nicht interessiert. Die Spannung wird jetzt von Nebenfiguren getragen und der Frage, ob sie zuverlässig sind oder ein falsches Spiel treiben.
    Im Großen und Ganzen trudelt die Geschichte konzeptlos vor sich hin. Der Thrill bleibt an der Oberfläche; die Atmosphäre der Beklemmung, wie man sie in „Der Report der Magd“ eindringlich kennen lernte, wird in diesem Buch leider nicht durchgehalten, im Gegenteil, einige Szenen erscheinen – gewollt oder ungewollt – eher komisch als bedrohlich.


    Am Ende des Buches zeigt Atwood wieder ihre Schlitzohrigkeit: Happy End oder nicht? Und wenn Happy – was ist denn Happy? Der Leser klappt das Buch nicht ganz zufrieden zu und weiß es nicht.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Diese Geschichte von Charmaine und Stan welche aus ihrer Misere finden und das Glück haben hinter den schützenden Mauern von Consilience/Positron ein Leben ohne Sorgen führen zu können, klingt wie ein Märchen.

    Schnell wird jedoch klar was dieses Leben bedeutet - hier möchte ich ein Zitat einfügen welches die Situation treffend beschreibt:

    „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“

    Benjamin Franklin


    Das Leben in Consilience/Positron ist ein Leben wie unter einer Glasglocke - Augen überall, totale Überwachung, es wird dem Bürger vorgegaukelt selbstbestimmend Handeln zu können.

    Jedoch eigenartiger Weise scheinen alle Personen, zumindest zu Beginn sehr zufrieden damit zu sein. Alle funktionieren wie erwartet wird, zuverlässig, unauffällig, optimistisch, diskret, ordentlich - man könnte sagen „Roboter“ in Menschengestalt.

    Es wird nicht hinterfragt was der Sinn ist, einen Monat in einem Haus zu leben mit all den Annehmlichkeiten welches dieses bietet und abwechselnd im Gefängnis.

    Schnell wird klar dieses perfekte Leben kann gar nicht funktionieren.

    Somit werden Charmaine und Stan in einen Strudel von Ereignissen involviert, von welchen sie wie von einer Dampfwalze fast zerdrückt werden.


    Marie schreibt - ich zitiere - „Nach der Hälfte des Buches wird die Handlung chaotischer, …“

    Mein Empfinden war, es wird mir fast zu bunt, der Roman schlittert hart an der Grenze zum trivialen ab.


    Denn ich weiss nicht genau bis zu welchem Abschnitt, war ich beim lesen entsetzt wie Menschen manipuliert werden, war es beklemmend zu lesen wie, auch wenn nur unterschwellig ein diffuses Unbehagen vorhanden war, wie das Zusammenleben von Charmaine und Stan zerfiel,- der „Test“ und wie ihn Charmaine ausführte, nochmals ein Tiefschlag für das Paar.


    Somit hoffte ich ganz stark dass die Autorin diese Klippe elegant meistern werde und sie aus dem Sog dessen was die Geschichte drohte zu werden, ein gewöhnlicher „Thriller Noir“ wieder herausfindet.


    Und tatsächlich es gelingt Margaret Atwood mich nochmals zu packen mit diesem Roman, auch wenn nicht alles stimmig war. Und der Schluss - klingt etwas absurd, aber wenn man sich diese Szene als Ganzes betrachtet, erkennt man, dass es doch nicht so absurd ist - alles könnte sich nur als Täuschung erweisen und die Grenze zwischen Realität und Fantasie eher illusorisch sein.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter