Barry Hannah - Gegenüber dem Himmel / Yonder Stands Your Orphan

  • Der Autor (nach Klappentext und Wikipedia): Barry Hannah (1942-2010) war ein viel gerühmter US-amerikanischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, einer der letzten wilden Literaten der Südstaaten. Nach dem Besuch des Mississippi College in Clinton studierte er von 1964 bis 1967 an der University of Arkansas. 1972 erschien sein erster Roman „Geronimo Rex“, für den er mit dem William Faulkner-Preis ausgezeichnet und eine Nominierung für den National Book Award erhielt. Seine 1996 erschienenen Erzählungen „High Lonesome“ waren für den Pulitzer-Preis nominiert. 1983 wurde er zum Professor für Kreatives Schreiben an die University of Mississippi berufen und hatte diese Lehrtätigkeit bis zu seinem Tode inne. Für eine kurze Zeit lebte er in Los Angeles und schrieb dort für den Regisseur Robert Altman an Drehbüchern. Außer dem Schreiben liebte Hannah das Motorradfahren und den Alkohol. Seit bei ihm 1995 eine Krebs-Erkrankung entdeckt wurde, erhielt er Chemotherapie. Er starb im Alter von 67 Jahren an den Folgen eines Myokardinfarkts. Er war zweimal geschieden und hinterließ eine dritte Ehefrau, zwei Söhne und eine Tochter. Sein Buch „Sick Soldier at Your Door“ erschien erst posthum. „Gegenüber dem Himmel“, übersetzt von Teja Schwaner, ist sein erstes Buch auf deutsch.


    Inhalt (nach Klappentext): Eagle Lake, eine beschauliche Gemeinde im US-Bundesstaat Mississippi. Weiße Kraniche schwingen sich vor schwarzen Sumpfwäldern auf, die Rufe der Alligatoren hallen über die Bayous. Alte kauzige Männer sitzen am fischreichen See und angeln, treffen sich in Leons Bar oder in Peppers Laden. Mancher hofft auf handfeste Visionen, ein anderer baut abenteuerliche Fluggeräte und bedauert jedes Tier auf Erden. Von Jugend an sind die Menschen in dieser Gegend nostalgisch und besessen. Sie haben gesündigt, und sie suchen Vergebung – alle, bis auf Man Mortimer. Dieser Mann ist ein Dieb und Zuhälter. Seine Opfer sind zahlreich, sich finden sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Kein Mensch wagt es, sich Man Mortimer entgegenzustellen, der mit grausamer Entschlossenheit vorgeht. Nur jenseits des Wassers, in der Waisenkolonie, wird eine unheimliche Aktivität spürbar. Die Idylle gerät ins Wanken, hinter den Schrullen der Alten und den skurrilen Masken der Jüngeren kommen Verrücktheit, Verrat und Verbrechen zum Vorschein. Mit brillanten und humorvollen Sätzen beschreibt Barry Hannah das Leben am Eagle Lake als eine wilde Mischung aus Erinnerungen, Geschichten und Gerüchten. Teilnahmsvoll und höchst originell entwirft er ein vielstimmiges Szenario, dem biblische Schwere und artistische Leichtigkeit zu eigen sind.


    Was für ein Buch! Ich fühle mich einigermaßen erschlagen – was ja kein ganz angenehmes Gefühl ist. Der deutsche Titel täuscht eine Harmlosigkeit vor, die den Roman auf keiner Seite auszeichnet. Da hört sich „Yonder Stands Your Orphan“ schon ganz anders an. Und um Waisen geht es zu einem nicht geringen Teil ja auch. Selten habe ich eine solche Ansammlung von durchgedrehten, irren, kuriosen, ja gefährlichen Charakteren erlebt, die verrückte Dinge tun, die einander nichts Gutes wollen, die leiden, hadern und zögern (wegen der richtigen und wegen der falschen Dinge) und einander Leid zufügen. Nimm den Titel wörtlich: Gegenüber dem Himmel liegt - die Hölle!


    In diesem Roman ist niemand normal. Verdorbenheit, Spott und Gemeingefährlichkeit allerorten. Und die wenigen, die liebenswert erscheinen, werden im Laufe der Geschehnisse bald auch dekonstruiert und niedergemacht. Spinner und Sünder bevölkern den Roman, unter anderem einige Laienprediger und Propheten (zum einen der früher drogenabhängige Biker Byron Egan, zum anderen der Schrottplatzwart Peden), der ehemalige Arzt Max Raymond, der in einer Jazzband Saxophon spielt, seine kubanische Frau Mimi Suarez, die gerne nackt die Natur ansingt, die alte, schöngeistige Dame Melanie Wooten, die eine Affäre mit dem halb so alten Sheriff eingeht, der fiese Zuhälter und örtliche Kingpin Man Mortimer, der diverse Hausfrauen-Huren für sich arbeiten lässt und sehr schnell mit dem Springmesser zur Hand ist, und die durchgeknallten Eheleute Gene und Penny Ten Hoor, die sich nach dem Tod ihres Sohnes erst gegenseitig verstümmelten und dann am Seeufer gegenüber der Seniorenresidenz „Zweiter Frühling“ begannen, eine Waisenkolonie zu betreiben. Irgendwann beauftragen sie einen Sprengmeister, dessen schönste Zeit im Leben sein Einsatz im Koreakrieg war, ihr am See gelegenes Grundstück vom Festland abzusprengen, und es so zu einer Insel zu machen. Man Mortimer, der Teufel in Menschengestalt, dreht mit einigen Teenager-Mädchen von der Waisenkolonie Nacktvideos, die unter der Ladentheke verkauft werden. Frank Booth, dem Man Mortimer das Gesicht zerschnitt, da sie beide Anspruch auf die frisch verheiratete Dee Allison erheben, lässt sich chirurgisch Mortimers Gesichtszüge verpassen, der wiederum dem alten Countrysänger Conway Twitty ähnelt. Der Sumpf gibt ein versenktes Auto wieder preis, in dessen Kofferraum Dees jüngste Söhne zwei vermoderte Mordopfer entdecken, eine Mutter und ihr Kind (diverse Personen bekommen Muffensausen, dass die Leichen wieder da sind). Die beiden Brüder betteln so lange ihren großen Bruder an, bis er die Knochen auskocht und mit Draht wieder zu Skeletten zusammensetzt, die in der Folge mal hier, mal dort herumsitzen. Eine selbstgebaute Fähre wird scharf beschossen und diverse Menschen beißen blutig ins Gras oder verlieren ihren Kopf. Zwei betagte Insassen des „Zweiten Frühling“ werden zu fanatischen Tierfreunden und das größte Schandmaul Pepper, der uralte Besitzer des Ködergeschäftes am See, vergnügt sich mit Prostituierten im Fond eines mysteriösen Lexus-SUV, der in der Gegend herumkurvt. Schließlich melden sich auch noch Man Mortimers Eltern zum Besuch an, ahnungslos, womit ihr Sohn sein Geld verdient. Das sind nur einige der Personen, die auftauchen, nur einige der Dinge, die passieren … :drunken:


    Die multiperspektivische Erzählweise und der sprunghafte, andeutungsreiche Handlungsaufbau, der regelmäßig, ohne es genau zu benennen, offensichtlich einige Zeit und einige „wichtige“ Vorgänge überspringt, spinnen den Leser in eine schwindlig machende, oft für mich nicht nachvollziehbare Geschichte. Ein Höllenritt. Aber wie es bei solchen Karussellfahrten oft passieren kann, besteht die Gefahr, aus der Spur geschleudert zu werden. So ging es mir jedenfalls: Ich las und las und verlor nach und nach das Interesse. Was mit den meisten der überdrehten Südstaaten-Charaktere passierte, war mir irgendwann eher egal. Das Buch nervt ein wenig, ist aber dennoch bewundernswert für seine Durchführung, die konsequente Ist-mir-egal-Haltung, die vielen originellen Szenen und die sprachlich teilweise außergewöhnlich schönen und pointierten Beschreibungen.


    Ein wenig wirkt es wie das Buch eines erfahrenen Schriftstellers, der sich nach einer ganzen Reihe von erfolgreichen Werken beim Schreiben nicht mehr mit Zwischentönen und Füllwörtern, mit dem ganzen Roman-Kitt beschäftigen will: Eine auf kleinem Raum konzentrierte Ansammlung von Personal, die solange durchgeschüttelt wird, bis der Deckel in die Luft fliegt. Tatsächlich war es Hannahs letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman aus dem Jahr 2001 und nach zehnjähriger Schreib-Abstinenz entstanden. Ein makabres Kaleidoskop voller Gewalt, Sex und verquerer Religion, seltsam kaputten Familien und Sünde. Alles verdreht, unangenehm, schmutzig und auf die Spitze getrieben. :wink:


    Alle, die sich für Südstaatenliteratur in der Folge und im Gepräge von Tennessee Williams, William Faulkner, Flannery O'Connor, Harry Crews und Peter Dexter interessieren, alle Freunde von dreckigen Southern-Gothic-Erzählungen kommen um diesen Roman von Barry Hannah wohl nicht herum. Ein humorvoller, gewaltiger Roman-Exzess über die Schlechtigkeit der Menschen. In diesem Buch sind gewissermaßen alle Figuren Waisen, verlorene Sünder, verlassen von Rückhalt und echter Gemeinschaft, gefangen in einer kranken, provinziellen Gesellschaft. Mir war es leider irgendwann zuviel, eine Kuriositäten-Parade des Irrsinns!

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die amerikanische Ausgabe (Umfang 336 Seiten) unter dem Titel "Yonder Stands Your Orphan" im Juni 2001 bei Atlantic Monthly Press erschienen. Eine Kindle-Ausgabe gibt es natürlich auch...

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