Wassilij Rosanow, Friedrich Gorenstein - Abschied von der Wolga

  • INHALT :
    Unter dem Leitmotiv der Wolga vereint die Herausgeberin Sonja Margolina in dieser Ausgabe aus dem Jahre 1992 zwei literarische Ansichten dieses Flusses und seiner Bewohner aus unterschiedlicher Zeit. Einerseits « Der russische Nil » von Wassilij Rosanow aus dem Jahre 1907, andererseits « Der letzte Sommer an der Wolga » von Friedrich Gorenstein von 1980. Bei aller Unterschiedlichkeit finden wir einige Grundthemen wieder : die Feststellung einer gewißen Ausnahme- und Beispielsstellung der Wolga in der russischen Geschichte, dem Verfall in der Provinz, die Beschreibungen allgemeiner Passivität und Gleichgültigkeit, der unglaubliche Hang zur Trunksucht, antisemitische Elemente…


    Eine Besprechung im Einzelnen :


    Der russische Nil - Wassilij Rosanow
    Original : « Русский Нил », erschienen 1907 in « Russkoje Slowo ».
    Deutsch von Ulrich Werner


    Es handelt sich dabei um einen Reiseessay vom Anfang des XX. Jahrhunderts, und insbesondere auf den ersten Seiten wird die Wolga in ihrer Sonderstellung mit dem « ägyptischen Nil » verglichen : als Symbol der Fruchtbarkeit und Hoffnung, Inbegriff geballten Lebens, angefüllt auch von einer reichen Symbolik, die in Ägypten religiös ausuferte, und übertragen, vom Autor auch auf die Wolga angewandt wird. Dann handelt es sich um « Mütterchen Wolga » als Gottesgabe und Nahrungsspenderin, und Inbegriff der Vitalität eines Volkes.


    Welch Hoffnung und Verheißung Rosanow also hier sieht ! Gleichzeitig hat er einen klaren Blick auf die Verwahrlosung, insbesondere die Trunksucht, jenes Nationallaster, das so vieles verhindert und zubaut. Er baut rechte Ausflüge in Themen wie dem Judentum, dem Antisemitismus ein. Der Autor erinnert sich an die eigene, an den Ufern der Wolga verbrachten Kindheit (jetzt handelt es sich um eine Wiederkehr, eine Dampferreise als Erwachsener).


    Stil- und sprachmäßig ist es ein eigenwilliger Text, in dem der Autor manchmal zu plaudern, zu sprechen scheint, sich hinreißen läßt, aufbraust. Dabei kann manches etwas inkohärent erscheinen, doch wer Rosanow schon mal gelesen hat, erkennt ihn hier vielleicht wieder ?


    AUTOR:
    Wassili Wassiljewitsch Rosanow (russisch Василий Васильевич Розанов, * 20. Apriljul./ 2. Mai 1856greg. in Wetluga; † 5. Februar 1919 in Sergijew Possad, war ein russischer Religionsphilosoph und Publizist. (mehr über diesen ziemlich originalen Charakter auch unter : https://de.wikipedia.org/wiki/Wassili_Wassiljewitsch_Rosanow )


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    Der letzte Sommer an der Wolga - Friedrich Gorenstein
    Original : ПОСЛЕДНЕЕ ЛЕТО НА ВОЛГЕ, erschienen im Berliner Exil, 1988
    Deutsch von Renate Horlemann


    Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine Reise auf der Wolga, doch in einem anderen Kontext : der Autor steht kurz vor seiner Emigration und ist sich bei diesem seinem zehnten Besuch an und auf der Wolga bewußt, dass es sich um « ein letztes Mal » vor einem großen Einschnitt handelt. In weiten Teilen, insbesondere anfangs, finden wir das Grundthema der « Betrachtung » als Aufnahme der Wirklichkeit. Aber auch Gorenstein wird thematisch von der Wolga ausgehend, einige Grundelemente, auch -übel, dieses Rußlands beschreiben. Auch hier folgen Gedanken über den Verfall, die Trunksucht (differenzierter als bei Rosanow?), den Nationalismus, Dostojewskij… Die Begegnung mit einer Bettlerin, eine aus dem Lager zurückgekehrten Mörderin und doch herzensguten Frau, wird zu einem Inbegriff russischen Lebens.


    AUTOR :
    Friedrich Naumowitsch Gorenstein (russisch Фридрих Наумович Горенштейн; * 18. März 1932 in Kiew; † 2. März 2002 in Berlin) war ein russischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Er setzte sich zeitlebens mit den Themen Stalinismus und Antisemitismus auseinander, sowie dem Zusammenleben von Juden und Christen kombiniert mit philosophisch-religiösen Betrachtungen.
    (siehe auch mehr unter : https://de.wikipedia.org/wiki/…ch_Naumowitsch_Gorenstein )



    80 Jahre trennen diese beiden Texte. Dennoch findet man eine Atmosphäre wieder, die trotz dieser total unterschiedlichen Epochen (immerhin fand die Oktoberrevolution statt, ging Russland durch die teils dunklen sowjetischen Zeiten) etwas Bleibendes beschreiben. Dabei geht es nicht nur um die dunklen, hier angeschnittenen Seiten, sondern hinter all dem auch einer gewißen Vertrautheit, eines Reichtums. Ich fand dieses Buch eher zufällig « Unter den Linden « in Berlin, doch bin nun ziemlich angetan, hier einen guten und originalen Einblick auf Russland zu gewinnen.


    Empfehlung !


    Gebundene Ausgabe
    Verlag: Rowohlt; Auflage: 1. Auflage (1. Januar 1992)
    ISBN-10: 3871340189
    ISBN-13: 978-3871340185