Bettina Klix - Tiefenrausch

  • Die Autorin (siehe Wikipedia): Bettina Klix, im März 1961 in Berlin geboren, ist Sozialarbeiterin und Schriftstellerin, Verfasserin von Kurzprosa und Essays, unter anderem über das Kino und theologische Themen. Von 1980 bis 1987 studierte sie Germanistik an der Freien Universität Berlin, gefolgt in den Jahren 1987 bis 1990 von einem Studium der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, das sie als Diplom-Sozialpädagogin abschloss. Sie verfasst literarische Kurzprosa und Essays. 1993 nahm sie teil am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Bettina Klix ist Mitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller. 1989 erhielt sie ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats, 1993 ein Stipendium des Berliner Künstlerinnenprogramms sowie 1996 ein Stipendium des Künstlerhauses Schloss Wiepersdorf.


    Werke: Tiefenrausch (1986), Sehen, Sprechen, Gehen (1993), Willkommen im Wunderland (2008), Verlorene Söhne, Töchter, Väter - Über Paul Schrader (2010), Gelegenheiten. Kurzprosa (2014). Frühe Prosatexte wurden 2011 von Eric Miller ins Englische übersetzt und als Rapture of the Depth veröffentlicht.


    Dieses sehr kurze Buch (66 Seiten) trägt den Untertitel "Aufzeichnungen aus der Großstadt". Es sind kleine soziologisch angehauchte Texte über bestimmte Phänomene des menschlichen Zusammenlebens – perfekt beobachtet und sehr sprachbewusst und effektiv in Worte gekleidet. Zuerst fragte ich mich noch, inwieweit die Verortung in der Großstadt für die Kurzprosatexte wirklich von Belang wäre. Doch nach und nach ging mir auf, dass sich viele der behandelten Situationen und zufälligen Begegnungen in allzu homogenen, ländlichen und übersichtlichen Zusammenhängen so nicht oft ergeben werden.


    Zu sechs Themen (1. U-Bahn, 2. Die Welt/Wegnehmen. Zugeben, 3. Verlegenheiten, 4. Zu früh. Zu spät, 5. Bewegungen, 6. Begrenzen.Aufgeben) sind etliche kurze und sehr kurze Texte, Gedanken und Ausführungen versammelt, oft durch einen persönlichen Ich-Erzähler dargeboten oder in eher verallgemeinernder Draufsicht, in sachlichem Stil. Es sind keine Erzählungen, eher Schlaglichter, Schnipsel und Überlegungen. Es geht unter anderem um Leute, die regelmäßig zu spät kommen, um Leute, die man dabei beobachtet, wie sie sich heimlich im Spiegel beobachten, um Leute, die über Abwesende schlecht sprechen, um Anwesenden zu schmeicheln, um Leute, die nur Fragen stellen, die sie selbst auch gerne beantworten würden, um Leute, die außergewöhnliche Geschenke machen, um bei der Übergabe des Geschenks in einem bestimmten Licht zu erscheinen, um Leute, die sich in bestimmter Kleidung unwohl fühlen und versuchen, ihr Missvergnügen irgendwie zu kaschieren, oder um Kinder, die zeitlich noch weit vor einem anstehenden Urlaub im Überschwang der Erwartung ihre kleinen Koffer packen, um gerüstet zu sein, wenn's losgeht.


    Manche Texte sind erstaunlich tiefsinnig. Oft wird ein neuer Blick auf Situationen, Konstellationen oder Befindlichkeiten geworfen, die jeder kennt, von denen man aber nicht unbedingt geahnt hat, dass philosophischer Pfeffer in ihnen steckt. Oft fühlte ich mich regelrecht ertappt! Da ist jemand, der Dinge von mir weiß! :uups: Andere Texte sind für mich dagegen fast unverständlich, so komprimiert sind sie. Dennoch fühlte ich mich selbst bei solchen Texten als Leser ausgesprochen wohl und aufgehoben, da ich zu der im Grunde sehr bescheiden wirkenden Autorin bereits so viel Zutrauen gefasst hatte, um sicher zu sein, dass sie einen nicht mit vorgegaukeltem Tiefsinn blenden will. Es geht immer um etwas, auch wenn man nicht alles sofort begreifen mag.


    Mal wirkt Tiefenrausch wie das Moralbüchlein eines antiken griechischen Philosophen, mal eher wie die Überlegungen einer nachdenklichen Freundin bei einem abendlichen Glas Wein auf dem Balkon. Niemals mit erhobenem Zeigefinger dargeboten, keine fertigen Weisheiten, sondern immer Angebote, Material zum Nachdenken. Anregende Lektüre für Leute, die sich an die eigene Nase fassen und Sätze auch mal zweimal lesen, um sie zu verstehen.




    Um einen Eindruck von den Texten zu vermitteln, zitiere ich aus einem Stück über das Schenken:

    Zitat

    Manchen Menschen mag man nichts mehr schenken, da man sie durch nichts mehr in Erstaunen versetzen kann. Und diese Menschen leben nur von Überraschungen oder doch unser Verhältnis zu ihnen lebt von der Überraschung. Wir haben diesen Maßstab durch unsere ersten Geschenke gesetzt. Sie waren nicht allein für den anderen bestimmt, sondern für die Situation, in die wir uns beide damit brachten. Eine sichtbare, in ihrer Heftigkeit messbare Regung sollte uns von der Richtigkeit der Wahl überzeugen. Wir vertrauten nicht darauf, dass sich der Beschenkte in Ruhe später auch mit etwas Sprödem befreunden würde, wollten noch dabeisein. Und durch sein Erstaunen, durch seine Belustigung schien er uns am Geschenk zu beteiligen, im heiklen Moment der Übergabe, in dem mancher Bedauern oder schon Neid fühlt. Haben wir uns einmal auf diese Weise überlistet und den andern so sichtbar erfreut, ist es schwer, auf andere Weise als die erprobte zu schenken. Wir setzen diese Überreizung fort, denn wir fürchten das besonnene Schweigen, das ein wissendes, redliches Geschenk im ersten Augenblick zu schaffen versteht.

    (S. 29f.)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (41/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)