Alina Bronsky - Baba Dunjas letzte Liebe

  • Nachdem ich im 366-Tage-Thread "Baba Dunjas letzte Liebe" als ein Highlight-Buch genannt hatte, stellte mir @Frawina nachfolgende Frage. Und weil meine Antwort etwas länger war, ich den 366-Tage-Thread nicht damit überlasten wollte und mich auch die Antwort von @Frawina sehr interessiert, stelle ich meine Antwort einfach hier ein. Und letztlich wird meine Meinung zu "Baba Dunjas letzte Liebe" auch aus meiner untenstehenden Antwort deutlich und kann somit auch in den Rezi-Thread rein. :wink:


    Huch, da musste ich jetzt schon schlucken ... Darf ich fragen, ob du zu Zeiten des Super-GAU von Tschernobyl schon gelebt hast? Weil ich mich gerade frage, ob das mit dem Alter zusammenhängt, wie "Baba Dunjas letzte Liebe" auf einen wirkt.

    Nach deinem Post habe ich noch einmal darüber nachgedacht und kann mir vorstellen, dass meine Bemerkung vielleicht etwas befremdlich wirkte. Auf mich wirkte beim Lesen von "Baba Dunjas letzte Liebe" jedoch besonders dieses entschleunigte Leben und die verschrobenen und liebenswerten älteren Dorfbewohner und deren Sicht auf das Leben. Da war z. B. Baba Dunja, die das Leben nimmt, wie es kommt und sich nicht beirren lässt von den "Mysterien" der modernen Zivilisation wie Internet, vegetarische Ernährung o. ä. und die zeigt, dass man auch ohne diese Dinge glücklich sein kann und dennoch nicht dumm ist. Meiner Meinung nach steckte das Buch voller Lebensweisheiten (aber ohne erhobenen Zeigefinger) und voller kleiner feiner Nebensätze, die eine Seite in mir zum Klingen brachten - daher mein Ausdruck Wohlfühlbuch.


    Ich selbst habe vom Tschernobyl-GAU als 6-jähriges DDR-Kind gar nichts mitbekommen und erst in 2011, als die Katastrophe in Fukushima geschah, nähere Informationen durch die Berichterstattung im Fernsehen erhalten. Richtig bewusst wurde mir die Katastrophe und deren Auswirkungen, als ich vor kurzem das Buch "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" gelesen habe. Auch dort erzählen Menschen, dass sie wieder in ihre verstrahlte Heimat zurückgekehrt sind, weil sie einfach nicht wissen, wo sie sonst glücklich leben könnten. Für Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten der ehemaligen Sowjetunion ist das verstrahlte Gebiet um Tschernobyl oder in Weißrussland eine willkommene Zuflucht und neue Heimat, da sie endlich einen Ort gefunden haben, wo sie friedlich leben können und wo endlich niemand mehr willkürlich auf sie schießt...Das macht einen selbst so fassungslos...
    Aber ich bin der Meinung, dass es bei "Baba Dunjas letzte Liebe" nicht um die Katastrophe von Tschernobyl geht, sondern um Gemeinschaft, Freundschaft, Loyalität, Familie, das Älterwerden - also das Leben... Ich kann mir aber vorstellen, dass man, wenn man damals die Katastrophe, soweit Informationen dazu an die Öffentlichkeit drangen, bewusst erlebt hat, das "Baba Dunjas letzte Liebe" mit anderen Augen liest. Mich würde interessieren, wie du das Buch empfandest, da es auf dich völlig anders gewirkt zu haben schien, oder?

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Ich kann mir aber vorstellen, dass man, wenn man damals die Katastrophe, soweit Informationen dazu an die Öffentlichkeit drangen, bewusst erlebt hat, das "Baba Dunjas letzte Liebe" mit anderen Augen liest.

    Ich habe die Katastrophe erlebt, meine Kinder waren noch sehr klein, und ich erinnere mich, dass ich sie 1986 nicht im Garten spielen ließ und keine Milch mehr vom benachbarten Bauer geholt habe, weil er seine Kühe weiterhin draußen grasen ließ.


    Trotzdem habe ich dieses Buch ähnlich empfunden wie du. Ich denke, es lebt auch von dem Gegensatz: Hier der absolute GAU und dort Menschen, die ihm versuchen zu trotzen und eine Ecke für sich finden, in der es sich lohnt zu leben.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich habe die Katastrophe erlebt, meine Kinder waren noch sehr klein, und ich erinnere mich, dass ich sie 1986 nicht im Garten spielen ließ und keine Milch mehr vom benachbarten Bauer geholt habe, weil er seine Kühe weiterhin draußen grasen ließ.

    Ich war zum Zeitpunkt der Katastrophe 16 Jahre alt und auch für uns hat sich das Leben danach verändert. Bestimmte Lebensmittel durften wir nicht mehr verwenden und unsere Eltern waren sehr dahinter her, dass wir nicht im Regen draußen waren. Da wir über den Reaktorunfall und seine Folgen nicht richtig informiert wurden (in der Schule war das kein Thema), kursierten natürlich die wildesten Gerüchte und jeder hatte Angst (teils berechtigt, teils übertrieben).


    Trotzdem habe ich "Baba Dunja" so wie ihr empfunden. Die Verstrahlung des Gebietes, in der sie und ihre Nachbarn leben, spielt nur eine untergeordnete Rolle für sie. Wichtiger ist der Zusammenhalt, die Ruhe und vor allem die persönlichen Wurzeln, die das Leben im verstrahlten Bereich so lebenswert machen. Hier wird nichts beschönigt oder verharmlost. Es geht für die Dorfbewohner einfach nur um ein angenehmes und zufriedenes Leben, welches sie sich in diesem so lebensfeindlichen Gebiet eingerichtet haben.

    Liebe Grüße von Pippilotta :-) :winken:


    Fernsehen bildet. Immer wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese.
    Groucho Marx

    Ich :study: gerade:
    Barry Jonsberg - Das Blubbern von Glück
    Bill Bryson - Eine kurze Geschichte von fast allem

  • Jetzt muss ich nochmal in meiner Erinnerung kramen, weil es schon wieder ein paar Monate her ist, dass ich das Buch gelesen bzw. gehört habe. Ich weiß noch, dass ich danach ein irgendwie unfertiges Gefühl hatte; ich dachte auch, ich sollte was darüber schreiben, hab es aber dann aus den Augen verloren.


    Ich finde es sehr interessant, in welcher Situation ihr Tschernobyl erlebt habt. Ich war damals 18 und meine ein Jahr ältere Freundin lernte gerade intensiv fürs Abi, es war ein warmer April, sodass sie jede freie Stunde in der Sonne über den Unterlagen verbrachte. Und dann kam, ein paar Tage später erst, diese Meldung über die erhöhte Strahlung aus Skandinavien. Wir waren sehr entsetzt, vor allem, als sich dann nach und nach herausstellte, dass es sich wohl tatsächlich um einen GAU handelte, und dass niemand vor dem Fallout gewarnt worden war. Meine Freundin war darüber sehr verbittert. Im Physikkurs gingen wir in den Schulgarten und maßen Becquerel-Werte, man sollte dringlichst keine Milch und keinen Salat essen. Noch heute sind bei uns hier im Süden Pilze belastet und Wildschweine dürfen häufig nicht in den Verkauf, weil sie die Grenzwerte überschreiten.


    Tja. Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen, verbunden mit Fukushima natürlich, habe ich also das Buch gelesen. Ich musste an eine Sendung denken, in der Japaner von ihrer Heimat erzählen, die so schön war und in die sie nie zurückkehren können. Wo sie die Nachbarn verloren haben, ihre wunderschöne Natur und überhaupt das Zusammenleben und die Musik über ihre Heimat, die sie - im Nachhinein so schmerzlich bewusst geworden - glücklich gemacht hat. Das war schrecklich, diese verzweifelten Menschen zu sehen.
    Und dann lese ich also über Baba Dunja, die in die Sperrzone um Tschernobyl zurückgekehrt ist. Klar, es ist bekannt, dass die Strahlenschäden bei älteren Personen nicht mehr so schnell voranschreiten. Und im Grunde hat sie ja - so gesehen - nichts zu verlieren. Alle gewinnen scheinbar ihr altes Leben zurück.


    Ich kenne auch diese ländlichen Gegenden sehr gut, wo alles langsamer läuft. Ja, wenn man da ein paar Wochen ist, ist das sehr entspannend. Aufs Jahr gesehen nicht so, wenn man viel körperlich arbeiten muss und sich wenig leisten kann, vor allem keine freie Zeit, die man zum Beispiel auch fürs Lesen gern hätte - aber wegen der ständigen Arbeit eben nicht hat. Auch gesundheitlich sollte einem tunlichst nichts passieren und hoffentlich immer jemand da sein, der einem noch irgendwie helfen kann und nicht womöglich noch kränker ist als man selber.


    Vor kurzem habe ich, wegen dem 30. Jahrestag von Tschernobyl, eine Sendung über Pripyat gesehen, die 1998, also nach 12 Jahren, gedreht wurde. Dort war so ein altes Paar, das in ein kleines Dorf zurückgegangen war und täglich langsam zum Fluss stiefelte, um Fische zu fangen. Sie hatten keinen Strom, kein fließendes Wasser, ihre Fensterscheiben waren zerbrochen von irgendwelchen Randalierern, die öfter mal über die ungesicherte Grenze kamen und sich einen Spaß aus dem Zerstören machten oder selbst nichts hatten und auf Diebestour gingen. Mich hätte sehr interessiert, was aus ihnen geworden ist. Gut ging es ihnen nicht, immerhin lebten sie in der Sperrzone und waren von den Behörden wohl so was wie geduldet, am besten, sie machten keine Probleme. Für die Umwelt ist es auch praktischer, verstrahlte Menschen bleiben, wo sie sind und gefährden nicht noch andere, noch gesunde Menschen. Wie auch im Buch über Baba Dunja.


    Diese kann auch ihre Enkelin nicht sehen. Was eben so ist. Sie scheint recht pragmatisch damit umzugehen, dabei ist es aber eine so schlimme Vorstellung, dass man mit den eigenen Verwandten, wenn man doch so gern Kontakt hätte, ihn nicht unbeschwert und ohne Zeitbegrenzung und ohne Schutz haben kann - weil ein Kernkraftwerk doch nicht so sicher war. Das ganze Leben ist davon beeinflusst, und trifft es die Alten nicht so sehr, weil sie ihr Leben gelebt haben, so ist es doch für die Kinder und Enkel furchtbar, denn die haben tatsächlich wichtige Personen in ihrem Leben verloren. Und wenn man nun vielleicht noch damit leben könnte, dass die Zone um Tschernobyl und die um Fukushima nun verstrahlt und viele Jahre unbewohnbar sind, dann könnte aber auch jederzeit ein neuer Unfall oder neuerliche Erdbeben oder Tsunamis oder Terroranschläge oderoderoder zu weiteren GAUs führen und damit unsere unverstrahlten Gebiete stark reduzieren.



    Fazit:
    Ja, ich versuche irgendwie auf den Punkt zu kommen, warum ich Baba Dunjas Geschichte nicht entspannend finden kann.
    Mir kommt es vor, als ob diese entschleunigte Situation eine recht instabile Ist-Situation darstellt. Jederzeit können welche von den Mitbewohnern noch kränker werden oder eben auch die Protagonistin selbst und dann ist es schnell vorbei mit dem (derzeit noch) guten Leben. Es gibt keine Hoffnung, keine Zukunft in dieser Gemeinschaft. Alles ist darauf ausgerichtet, dass man selbst eben dort stirbt und es ja sowieso egal ist. Aber die Menschen, die einem nahestehen, können dies nun nicht mehr. Weil sie sich selbst schützen müssen, um selbst noch ein bisschen mehr Zukunft zu haben.
    Ich empfinde das als so todtraurig ...


    Ja, all diese eigenen und fremden Erfahrungen, die ergeben eben ein sehr ungutes Gefühl bei mir. Ich kann es total gut verstehen, dass man gern in die Heimat zurück möchte. Und gleichzeitig ist da diese Notwendigkeit, so viel zu verdrängen, um nicht verrückt zu werden vor Schmerz über das Verlorene. Vieles davon ist auch im Buch rübergekommen. Vielleicht liegt es an der Sehnsucht nach dieser scheinbar heilen Welt, dass man das auch beim Lesen immer wieder stark wegschieben und ausblenden will. Vielleicht liegt es auch gerade am Jahrestag, dass es zu diesen Zeiten nicht so leicht geht und mir deshalb stärker aufgefallen ist. Jedenfalls danke für das Nachfragen, denn ich musste mich jetzt auch nochmal intensiv selbst befragen, welche Gefühle die Bezeichnung als Wohlfühlbuch warum bei mir ausgelöst hat. :winken:

  • Das Thema der Atomkraftwerke beschäftigt unsere Region seit einigen Jahren: Wir liegen westlich von Cattenom. Hier kann man sich die bekannt gewordenen Störfälle der letzten Zeit nachlesen. Wenn also in Cattenom etwas passiert, wären wir die ersten, die evakuiert würden.


    Würde ich nicht auch im Alter von Baba Dunja (falls ich es erreiche :) ) nach Hause zurückkehren und meine letzten Jahre dort verbringen wollen?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Neulich habe ich Die andere Hälfte der Hoffnung von Mechthild Borrmann gelesen. In diesem wunderschönen Buch geht es auch um Tschernobyl..

    Das ist gleich mal auf meiner Wuli gelandet. Ich bin gespannt, wie du "Baba Dunjas letzte Liebe" empfinden wirst. So dick ist es nicht, also ran an das Buch. :lol:

    Ich finde es sehr interessant, in welcher Situation ihr Tschernobyl erlebt habt

    Ja, das fand ich auch sehr interessant, vor allem weil ich so gar nichts davon mitbekommen habe (habe übrigens 1,5 Lebensjahre unterschlagen #-o , es war wohl schon zu spät letztens abends :uups: ). Ich habe vor kurzem meinen Vater zu Tschernobyl befragt, und er meinte nur, es hieße, man dürfe keine Pilze mehr essen. Kurz nach der Wende haben wir Verwandte in Bayern das erste Mal besucht und ich kann mich erinnern, dass die total erschüttert waren, dass wir regelmäßig Pilze sammeln gingen.

    Ja, wenn man da ein paar Wochen ist, ist das sehr entspannend. Aufs Jahr gesehen nicht so, wenn man viel körperlich arbeiten muss und sich wenig leisten kann, vor allem keine freie Zeit, die man zum Beispiel auch fürs Lesen gern hätte - aber wegen der ständigen Arbeit eben nicht hat. Auch gesundheitlich sollte einem tunlichst nichts passieren und hoffentlich immer jemand da sein, der einem noch irgendwie helfen kann und nicht womöglich noch kränker ist als man selber.

    Von dem Standpunkt aus habe ich das noch gar nicht betrachtet. Meistens ist es ja so, dass einem das, was man wenig hat (Ruhe, mal nicht ständig erreichbar sein, körperliche Arbeit, keine große Ablenkung von Internet, Smartphone oder TV, kein täglicher Verkehrslärm, kein Arbeits- oder Großstadtstress) sehr verlockend vorkommt - aber alles eben, wie du schon sagst, zwei Seiten hat.

    dann könnte aber auch jederzeit ein neuer Unfall oder neuerliche Erdbeben oder Tsunamis oder Terroranschläge oderoderoder zu weiteren GAUs führen und damit unsere unverstrahlten Gebiete stark reduzieren.

    Den Gedanken hatte ich, als ich das Tschernobyl-Buch von Swetlana Alexijewitsch gelesen habe: Wie wäre es, wenn heute so ein GAU passieren würde? ?( Ich glaube, die Vertuschung würde heute in Zeiten von Internet, Social Media und einer globalisierten Welt nicht mehr so "gut" funktionieren, wie es 1986 der Fall war. Dennoch zeigt der Link von @Marie, dass auch heute die Öffentlichkeit nur gefiltert oder verzögert über Störfälle informiert wird, was einem schon wirklich Angst machen kann. Wie die Menschen sich heute bei so einem GAU verhalten würden, will ich eigentlich niemals erleben. :(

    Würde ich nicht auch im Alter von Baba Dunja (falls ich es erreiche ) nach Hause zurückkehren und meine letzten Jahre dort verbringen wollen?

    Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Was wäre, wenn es dein eigenes Heim ist, in das du und deine Familie ihr ganzes Kapital und Herzblut investiert habt und ein Großteil der eigenen Vergangenheit und Geschichte drin steckt und anderswo nur eine entwurzelte Existenz in bitterster Armut winkt? Ich denke, wenn man Kinder hat und damit die Verantwortung für ein anderes Leben, ist es vermutlich leichter, ein neues Leben zum Wohle der nachfolgenden Generation zu beginnen. Aber wenn man nur noch für sich selbst und sein eigenes Leben verantwortlich ist... :-k


    Eine sehr interessante Diskussion, die sich hier entwickelt hat. :applause:

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Baba Dunja, die nun wirklich keine 82 Jahre mehr ist ;-) kehrt zurück in ihr Heimatdorf Tschernowo, das in der Todeszone von Tschernobyl liegt. Sie ist die Erste, die sich dort, in ihrem alten Haus, wieder niederlässt, doch nach und nach steigt die Zahl der BewohnerInnen. Es sind meist Alte, die Jüngsten um die 60 Jahre, zum Teil schwer krank, die nichts fürchten, auch nicht den Tod. Jede/r lebt dort sein Leben, eine wirkliche Gemeinschaft gibt es nicht. Gemüse und Obst werden im eigenen Garten angebaut, was man sonst so braucht und nicht selbst herstellen kann, wird von der kärglichen Rente im nächsten Städtchen Malyschi gekauft. Es könnte ein Idyll sein, doch Baba Dunja, die Ich-Erzählerin, ist sich der prekären Situation durchaus bewusst: Sie (wie auch der Rest in Tschernowo) strahlt mittlerweile selbst wie ein kleines Atomkraftwerk und ein Happy End ist bestimmt nicht zu erwarten. Wie sollte es in ihrem Alter auch aussehen? Denn eines ist gewiss: der Tod. Und diesem in Tschernowo zu begegnen, ist das Schlechteste nicht.
    Baba Dunja erzählt nicht nur von ihrem Leben im Dorf, sie erinnert sich auch an ihr Leben davor, das voller Mühsal war und darin bestand, für andere da zu sein: ihre Kinder Irina und Alexej; ihren Mann Jegor; die Kranken, die sie als medizinische Hilfsschwester behandelt hat. Nun kann sie zum erstem Mal in ihrem Leben das tun, was sie will: leben und sterben in Tschernowo. Ihrer Tochter Irina, die als Chirurgin in Deutschland lebt, ein Kind hat und nicht verstehen kann, weshalb ihre Mutter dorthin zurückgekehrt ist, schreibt sie beruhigende Briefe.
    Zitat: "Mädchen", sagte ich, "guck mich an. Siehst Du, wie alt ich bin? Und das alles ohne Vitamine und Operationen und Vorsorgeuntersuchungen. Wenn sich jetzt irgendetwas Schlechtes in mir einnistet, dann lasse ich es in Ruhe. Niemand soll mich mehr anfassen und mit Nadeln pieksen, wenigstens das habe ich mir verdient."
    Alina Bronskys Schreibstil trifft den Tonfall dieser alten Baba Dunja wunderbar: gelassen, durch nichts zu erschüttern und immer noch voller Lebensfreude. Sie weiß um die guten und schlechten Seiten der Menschen, verurteilt niemanden und nimmt das Leben wie es kommt - doch ohne sich sagen zu lassen, was sie zu tun hat. Zufälligerweise habe ich gerade zuvor das Buch Eierlikörtage: Das geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 83 1/4 Jahre gelesen - das genaue Gegenteil eines Lebens im Alter. Dort wohl versorgt im Altenheim, alles läuft nach Plan: Essen, Trinken, Unterhaltungsprogramm, sofern es eines gibt. Ohne Eigeninitiative (die nicht unbedingt gerne gesehen wird) nichts als gepflegte Langeweile. Wie erfrischend hingegen das Leben in der Todeszone, ohne dass es verklärt wird. Wenn man mich fragen würde, wo ich lieber meine letzten Tage verbringen möchte, wäre die Antwort klar: Tschernowo ;-)

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Baba Dunja ist nach Tschernowo zurückgekommen. Jenen Ort, der in der Todeszone des Reaktorunglücks von Tschernobyl liegt. Sie ist eine alte, intelligente und äußerst schlagfertige Frau, die genau weiß, was sie tut. Sie möchte dort ihren Lebensabend verbringen, daraufhin sind ihr auch andere gefolgt. Man kennt Baba Dunja, über sie wurde berichtet. Mit kargen Mitteln und den hilfreichen Päckchen ihrer Tochter Irina hält sie sich über Wasser. Genau wie sie suchen die anderen Bewohner nach Ruhe. Man bildet zwar eine Gemeinschaft, aber jeder hat seinen Freiraum, was alle sehr schätzen.
    Die Tierwelt hat sich verändert, ein Biologe war da, um die Gegend zu untersuchen. Wer dort lebt, hat keine Angst vor den Strahlen und lebt mit den Nachwirkungen der Katastrophe. Doch eines Tages kommt ein Fremder in das Dorf, der das geruhsame Leben unterbricht.


    Auf eine wunderbare herzerwärmende Art hat Alina Bronsky eine Momentaufnahme einer Frau geschaffen, die stark, voller Humor und Willenskraft ist. Baba Dunja geht ihren Weg, erzählt von der Vergangenheit und kämpft um ihre Zukunft. Herrlich komisch kommt die kleine Geschichte daher, angereichert mit Lebensweisheiten und dem Scharfsinn der weiblichen Hauptfigur. Sie sieht tote Dorfbewohner, kümmert sich um die anderen, die auch wie sie realistisch gezeichnet sind, und das entlockt dem Leser so manches Schmunzeln.


    „Wenn ich mir unser Dorf angucke, habe ich nicht das Gefühl, dass hier nur lebende Leichen herumlaufen. Manche werden es nicht mehr lange machen, das ist klar, und daran ist nicht nur der Reaktor schuld.“


    Die Autorin versteht es, dieses grauenvolle Stück Vergangenheit mit dem Lebenswillen und der Zuversicht der Einheimischen zu verbinden. Man kann nachfühlen, was passiert ist und hat dennoch ein Lächeln im Gesicht. Diese Gratwanderung gelingt äußerst gut.


    Mit 154 Seiten ist das Buch ein Auszug aus dem Leben von BabaDunja, und davon hätte ich gern mehr gelesen. Aber auch die Kürze macht die Geschichte zu etwas Besonderem. Im Leben wird die Entwicklung auch weiter geschrieben, es ist nicht an der Stelle vorbei, wo ENDE auf der letzten Seite steht. So kann auch der Leser weiterdenken, sinnieren und sich fragen, welche Abenteuer diese energische Frau noch erleben wird. Denn eines ist sicher: So leicht lässt sie sich nicht unterkriegen!
    „Ich habe alles gesehen und vor nichts mehr Angst. Der Tod kann kommen, aber bitte höflich."


    Eine besinnliche Erzählung voller Wärme, Tragik, Ironie und Hoffnung.


    5 Sterne.

  • Viel kann ich hier nicht mehr hinzufügen. Die Autorin kannte ich nicht, aber mich hatte das Thema angesprochen.
    Das Büchlein habe ich heute Nachmittag gelesen. Es ist eine sehr schön erzählte Geschichte, traurig, anrührend und manchmal auch amüsant.
    Die Protagonistin war mir sehr sympathisch. Sie ist selbstbewusst, jammert nie, ist mit wenig zufrieden und glücklich, gibt ihre Fehler zu und ist keine Heuchlerin.
    Absolut empfehlenswerte Lektüre, die mir von :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: bekommt.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • Der Roman läßt mich mit gemischten Gefühlen zurück. Vielleicht da einerseits mit der (unangebrachten?) Frage, ob man auf diese Weise von Tschernobyl und dem Leben danach sprechen kann ? Da schweben mir – wie zumindest hier einem anderen Leser – auch die Bilder aus der Chronik von Swetlana Alexijewitsch durch den Kopf.


    Doch auch da, wenn man näher hinschaute, berührte man ab und zu eine andere Dimension. Und das ist hier eindeutig auch der Fall, wie Ihr fast alle unterstrichen habt : ein « anderes » Leben in, trotz oder gerade wegen des Geschehenen. Nein, blind sind sie nicht. Wenn doch das ankommende Kind geschützt werden soll, so doch weil alle Bewohner von Tschernowo sich mehr oder weniger verdammt fühlen. So konnten sie zurückkehren. Und ein Leben jenseits der Enge der Stadt und den Pflichten eines Kleinbürgerlebens leben. Quasi eine Rückkehr ins « verseuchte » Gebiet, das andererseits zum Paradies wird. Und somit eben nicht ein Katastrophenbuch.


    Nicht ganz mein Fall, aber doch lesenswert.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

  • DerRoman läßt mich mit gemischten Gefühlen zurück.

    So geht es mir immer noch, wenn ich an das Buch zurückdenke. Ich kann schon verstehen, dass es für die alte Frau und ihre Leidensgenossen Heimat bedeutet und einen wichtigen Halt bietet, wieder dort zu leben, wo man lange Jahre glücklich war. Und es auszublenden, dass das in einer äußerst ungesunden Umgebung stattfindet.


    Aber das ist nun mal leider die Realität. Sie werden dort geduldet, und das nur, weil die verstrahlten Bewohner lieber dort ihrem Ende entgegen gehen sollen als in einer Siedlung außerhalt, wo die Mitbewohner ihnen skeptisch und ängstlich entgegen treten und sie lieber nur kurz oder gar nicht treffen.


    Ich habe mich seit der Lektüre immer wieder mal gefragt, wie denn eigentlich der Titel gemeint sein könnte. Was genau war Baba Dunjas letzte Liebe? Die Gegend, die Heimat? Oder doch ein Mensch?

    Ich persönlich hatte den Buchtitel so interpretiert, dass das Letztere zutrifft:

    Diese kann auch ihre Enkelin nicht sehen. Was eben so ist. Sie scheint recht pragmatisch damit umzugehen, dabei ist es aber eine so schlimme Vorstellung, dass man mit den eigenen Verwandten, wenn man doch so gern Kontakt hätte, ihn nicht unbeschwert und ohne Zeitbegrenzung und ohne Schutz haben kann - weil ein Kernkraftwerk doch nicht so sicher war. Das ganze Leben ist davon beeinflusst, und trifft es die Alten nicht so sehr, weil sie ihr Leben gelebt haben, so ist es doch für die Kinder und Enkel furchtbar, denn die haben tatsächlich wichtige Personen in ihrem Leben verloren.

    Für mich war die Enkelin Baba Dunjas letzte Liebe. Und genau diese konnte sie nicht leben, weil der Super-GAU stattgefunden hatte und ihr ganzes Leben und ihre Zukunft zunichte gemacht hat. Das war das, was für mich das ganze Buch hindurch durch all die Beschreibung, wie man trotzdem überlebt, ständig präsent war und das fand ich ziemlich schlimm.

  • Ich habe mich seit der Lektüre immer wieder mal gefragt, wie denn eigentlich der Titel gemeint sein könnte. Was genau war Baba Dunjas letzte Liebe? Die Gegend, die Heimat? Oder doch ein Mensch?

    Ich persönlich hatte den Buchtitel so interpretiert, dass das Letztere zutrifft:

    Diese kann auch ihre Enkelin nicht sehen. Was eben so ist. Sie scheint recht pragmatisch damit umzugehen, dabei ist es aber eine so schlimme Vorstellung, dass man mit den eigenen Verwandten, wenn man doch so gern Kontakt hätte, ihn nicht unbeschwert und ohne Zeitbegrenzung und ohne Schutz haben kann - weil ein Kernkraftwerk doch nicht so sicher war. Das ganze Leben ist davon beeinflusst, und trifft es die Alten nicht so sehr, weil sie ihr Leben gelebt haben, so ist es doch für die Kinder und Enkel furchtbar, denn die haben tatsächlich wichtige Personen in ihrem Leben verloren.

    Für mich war die Enkelin Baba Dunjas letzte Liebe. Und genau diese konnte sie nicht leben, weil der Super-GAU stattgefunden hatte und ihr ganzes Leben und ihre Zukunft zunichte gemacht hat. Das war das, was für mich das ganze Buch hindurch durch all die Beschreibung, wie man trotzdem überlebt, ständig präsent war und das fand ich ziemlich schlimm.

    Ja, das kann durchaus auf die geliebte Enkelin zutreffen, der ja die letzten Briefe gewidmet sind. Jedoch


  • Ja, so kann man es durchaus auch verstehen. Wäre interessant, ob die Autorin sich irgendwann mal dazu geäußert hat?


    Aber für mich ausschlaggebend ist, dass ich nach der Lektüre diese gemischten Gefühle hatte und dann hier mehrmals etwas von "Wohlfühlbuch" las, was mich ziemlich schockiert hat. (Das ist in keinster Weise gegen Marie oder Studentine gerichtet!)


    Für mich war herrschte das ganze Buch hindurch der Eindruck eines äußerst labilen Gleichgewichts, so ähnlich vielleicht wie bei einem Ausflug im Krieg, bei dem man für kurze Zeit die schreckliche Realität ausblenden kann, die aber trotzdem die ganze Zeit da ist.

    Eine schlimme Situation, und eine ausweglose!

    Die man vielleicht kurzfristig durch tatkräftiges eigenes Handeln (wie in deinem Spoiler) etwas mildern kann, aber auch das ist nur wenig und auch wohl nur vorübergehend (irgendwann macht die Gesundheit bei diesen "Gestrandeten" nicht mehr mit).


    Es ist eine ganze Zeit her, dass ich es gelesen habe und das Obige ist das, was mir stark im Gedächtnis geblieben ist.

  • Ich habe Baba Dunjas letzte Liebe erst jetzt gelesen. Es lag lange auf meinem SUB. Mich hat die Geschichte schon berührt. Es ist so das Gefühl von "Einen alten Baum verpflanzt man nicht". Eine alte ehemalige Krankenschwester musste Tschernowow nach der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 verlassen. Doch schon bald kehrt sie zurück – obwohl das verboten ist. Sie baut dort in der Todeszone mit Gleichgesinnten ein neues Leben auf beziehungsweise knüpft an ihr bisheriges Leben einfach wieder an. Sie bleibt in dem Haus, in dem sie schon immer gewohnt hat. Regelmäßig schreibt sie Briefe an ihre Tochter, die als Chirurgin in Deutschland arbeitet. Irina ist verheiratet und hat eine Tochter, die Baba Dunja noch nie gesehen hat. Als ein Fremder mit seiner Tochter in das Dorf kommt, verändert sich einiges. Schon bald liegt er mit gespaltenem Schädel im Gras. Die Dorfbewohner begraben ihn, als sei nichts gewesen. Aber irgendwann kommen Polizisten, die unangenehme Fragen stellen.


    Ich finde den Schreibstil von Bronsky unglaublich gut. Der Stil ist leicht und direkt, angereichert mit trockenem, subtil schwarzem Humor und sarkastisch realistisch gehalten, gleichwohl sehr liebevoll und warm. Mir hat das Buch gut gefallen, wenngleich auch bei mir viele Fragen offen blieben.

  • Alina Bronsky ist für mich die Entdeckung des Jahres. Sie schreibt schnörkellos, direkt auf den Punkt. Schwer Verdauliches wird so geschickt mit warmherzigen schwarzen Humor und schrulligen Charakteren verknüpft, dass man trotz Kloß im Hals lauthals auflachen muss.

    So war es in Scherbenpark, Baba Dunjas letzte Liebe bildet da keine Ausnahme.

    Unsere Hauptfigur ist eine über 82jährige Frau, der im Leben nichts geschenkt wurde, die nichts mehr umwirft. So scheint es jedenfalls. Sie macht und tut, Stillstand ist für Baba Dunja ein Alptraum. Nur die Aussicht auf Briefe von ihrer in Deutschland lebenden Tochter lassen überhaupt darauf schließen, dass Baba Dunja mit der modernen Welt verbunden ist. Dieses kleine Büchlein ist für mich eine Ode an das unabdingbare Zusammenspiel von Wahrhaftigkeit und Illusion. Gerne wäre ich noch länger geblieben.