Sorj Chalandon - Die vierte Wand / Le quatrième mur

  • Klappentext:
    Paris 1982: Georges verspricht seinem sterbenskranken Freund Samuel, einem Theaterregisseur, seinen Herzenswunsch zu erfüllen: die Aufführung von Jean Anouilhs Stück ›Antigone‹ im vom Bürgerkrieg zerrütteten Beirut, direkt an der Front, in einem zerbombten Kinosaal, mit einem Ensemble, das sämtliche Kriegsparteien repräsentiert. Viel List ist von Nöten und immer wieder muss Georges Zugeständnisse machen. Wird es gelingen, das Stück aufzuführen und dafür den Krieg für zwei Stunden ruhen zu lassen? (von der dtv-Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Sorj Chalandon war Journalist bei der Zeitung "Libération". Seine Reportagen über Nordirland und den Barbie-Prozess wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane "Le petit Bonzi" (2005), "Une promesse" (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und "Mon traître" (2008). Sein vierter Roman "La légende de nos pères" (2009) ist sein erstes Buch in deutscher Übersetzung. Der folgende Roman "Retour à Killybegs" (2011) wurde mit dem Grand Prix du roman de l'Académie francaise 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. (von der dtv-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Le quatrième mur
    Erstmals erschienen 2013 bei Éditions Grasset & Fasquelle
    Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große
    Prolog, 24 betitelte Kapitel, Epilog, Quellenverzeichnis
    Aus der Ich-Perspektive des Protagonisten Georges
    313 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Auch mit seinem dritten ins Deutsche übersetzten Roman beweist Chalandon, dass er es meisterhaft versteht, den Leser eng an einen Protagonisten zu binden und ihn auf dessen Handlungen, Gedanken und Gefühle einzuschwören. Es sind vor allem Situationen des kriegerischen Kampfs, in die Chalandons seine Ich-Erzähler verstrickt; nach dem 2. Weltkrieg (Die Legende unserer Väter) und den Auseinandersetzungen der IRA (Rückkehr nach Killybegs), geht es hier um aktuelle und undurchschaubare Kriege: Pulverfass Naher Osten.


    Georges gehört zu den Nach-68ern, den revolutionären Studenten, die im Paris der 1970er Jahre auf die Straße gehen, Plakate und Fahnen an die Mauern heften und sich mit rechten Gruppierungen und Polizisten Gefechte liefern. Sam, ein griechischer Jude, älter als Georges und seine Kommilitonen, steht ihnen politisch zwar nahe, betrachtet die Aktionen jedoch mit sachlicher und ruhiger Distanz. Ihrer beider Gemeinsamkeit über das Politische hinaus ist die Regiearbeit bei Theaterstücken.
    Jahrelang haben sie sich aus den Augen verloren. Georges ist inzwischen mit einer Genossin verheiratet; sie haben ein Kind. Sie sehen sich im Krankenhaus wieder, wo Sam mit dem Tode ringt; er bereitet die „Antigone“ von Jean Anouilh vor, um sie im besetzten Beirut mit Darstellern verschiedener Religionen und politischer Gruppen zu proben und aufzuführen, dazu eine zweistündige Waffenruhe durchzusetzen, und er verpflichtet seinen Freund, diese schwere Aufgabe zu vollenden. Georges fliegt ins besetzte Beirut.


    Bis Georges nach den ersten Besprechungen für kurze nach Hause zurückkommt, gönnt der Autor dem Leser keine Pause vor den Gräueln des Krieges. Der Krach der Geschosse, die Suche nach dem nächsten Versteck vor den Heckenschützen und das Horrorgefühl ständiger Angst begleiten Protagonist und Leser. Dennoch: Es gelingt Georges, Sams Truppe auf die Antigone einzuschwören und jedem seine Rolle quasi auf den Leib und die Gesinnung zu schneidern – im Zweifel sogar eine der Rollen im Drama umzuformen.
    Die Art und Weise, wie Georges seine Schauspieler der Antigone annähert, lässt vermuten, dass Chalandon die Pädagogik der Nach-68er-Lehrergeneration kennt. Es wird tatsächlich alles zu harmonisch, um wahr zu sein.


    Georges fliegt ein zweites Mal ins Kriegsgebiet, diesmal für Generalprobe und Aufführung. Er wird noch Schrecklicheres erleben als bei der ersten Reise, und er wird sich davon nicht mehr erholen.
    Wer genau gegen wen kämpft und warum: Außer im Fall der Israelis und Palästinenser weiß man es immer noch nicht. Und man bekommt den Eindruck, dass manche Krieger und Soldaten es auch nicht (mehr) wissen.


    Es gelingt Chalandon, Stränge zu verknüpfen, ohne dass dies aufgesetzt oder unecht wirkt: Ein terroristischer Anschlag, den Georges’ Studentengruppe verharmloste und dessen Opfer er jetzt trifft. Oder das Antigone-Motiv des symbolischen Bestattens. Oder das – wörtlich zu nehmen – dramatische Ende.


    Wenn man ein Buch gelesen hat, das emotional aufwühlend ist wie dieses, und das tagelang im Kopf spukt, stellt sich die Frage, ob lediglich die Handlung und das Schicksal des Protagonisten packt oder ob auch die literarische Qualität stimmt (ich erinnere an „Im Westen nichts Neues“, für das Remarque sich in einigen Feuilletonartikeln das Wort „Kriegskitsch“ gefallen lassen musste).
    Der Aufbau des Buches ist klar, die Sprache ist deutlich und eingängig, die Charaktere sind überzeugend gezeichnet – damit ist die Antwort gegeben.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Das Original.


    Noch ein Wort zum Titel: "Die vierte Wand" ist für Theaterschauspieler die unsichtbare Wand zwischen Zuschauern und Bühne. Wenn sie spielen, müssen sie so tun, als sei statt des Zuschauerraums eine Wand. Allerdings wird die vierte Wand manchmal durchbrochen: Vom Chor in den klassischen griechischen Dramen. Oder auch von modernen Theaterstücken, die das Publikum einbeziehen oder Kommunikation zwischen Schauspielern und Zuschauern vorsehen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Gepackt und magnetisiert habe ich dieses Buch gelesen. Und hat Marie – wie immer – auch eigentlich schon mit dieser tollen Rezi alles gesagt, so will ich halt eben nochmal den Fred hochholen und auf dieses Buch und diesen Autor verweisen. Vielleicht entdecken einige so dieses Buch ?


    - Was mich berührt ist, wie gewisse Kunstwerke in ihrer Zeitlosigkeit mitten in verschiedene Epochen hineinsprechen kann. Der Bezug ist nicht nur Jean Anouilhs Werk an sich, sondern auch, unter welchen Umständen dieses damals mitten in der Zeit der deutschen Besetzung 1944 in Paris uraufgeführt wurde :
    The play was first performed in Paris at the Théâtre de l'Atelier on February 6, 1944, during the Nazi occupation. Produced under Nazi censorship, the play is purposefully ambiguous with regard to the rejection of authority (represented by Antigone) and the acceptance of it (represented by Creon). The parallels to the French Resistance and the Nazi occupation are clear, however.
    (Quelle und mehr : https://en.wikipedia.org/wiki/Antigone_(Anouilh_play) ) Dies wird dann auch als Ausgangspunkt im ersten Treffen von Geogrges mit seinen Schauspielern verschiedenster Religion und von verschiedensten Lagern dargelegt.


    - Und ähnlich wird auch die jetzige Umsetzung von Sam, bzw Georges hineinsprechen, in Echo treten mit der verworrenen Situation des Libanon Anfang der 80iger Jahre.


    - Natürlich kann man als dritte Ebene hinzufügen, wie das historische Urwerk, die Tragödie von Sophokles (siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Antigone_(Sophokles) ) ebenso als Referenz besteht.


    - Ein zweites Thema, das mich beschäftigt: Georges beschreibt sich ja als Kind der 68iger und den folgenden Demos, einschliesslich Strassenkämpfe, gegen Autorität und, theoretisch, für eine gerechte Sache. Wie sehr wird dieses Rumtheoretisieren fast zu einem Kinderspielplatz und Trotzerei, angesichts dessen, was er später im Libanon den Krieg hautnah erfährt. Nun ist er nicht mehr distanzierter Kritiker, sondern quasi Betroffener, wirklich persönlich im Herzen Getroffener.


    - In diesem Buch wird deutlich, dass Chalandon nicht nur Journalist bei der Libération war, sondern tatsächlich langjähriger Kriegsberichtserstatter.


    - Der Roman wurde ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt des lycéens 2013, dem Prix des lecteurs Escale du Livre 2014 (Bordeaux), dem Prix des libraires du Québec 2014 sowie dem Prix des écrivains croyants 2014, war nominiert für den Prix Goncourt 2013 und stand auf der Liste Goncourt/Le Choix de l'Orient 2013.


    Ein sehr eindringliches Buch, von dem wohl ein starker Nachhall bleibt. Empfehlenswert, aber auch hart.